Wenn Homosexuelle sich ablehnen

Oft verinnerlichen Homosexuelle die negative Einstellung, die ihnen entgegenschlägt. Der Psychotherapeut Udo Rauchfleisch erklärt, warum.

Die Illustration zeigt eine schwarze Figur, die einen homosexuellen Mann darstellt, der gegen sein Begehren ankämpft, hinter ihm sind große, bunte Flammen zu sehen
Emotionale Unruhen erlebt ein homosexueller Mann, der seine eigene sexuelle Orientierung zurückweist. © Alexander Glandien

Herr Rauchfleisch, Homonegativität – die Abwertung von Homosexuellen – ist weit verbreitet. Sie beschreiben, dass viele Homosexuelle sogar selbst verborgene homonegative Anschauungen in sich tragen. Wie das?

Im Grunde haben alle Menschen mit homosexueller Präferenz kleine Teile verinnerlichter Homonegativität. Denn wir alle wachsen mit der heterosexuellen Norm auf, dass gleichgeschlechtliche Liebe anormal sei. Das fängt bei Kinderbüchern an, in denen es so gut wie keine Ein-Eltern-, Trans-, Patchwork- oder Regenbogenfamilien gibt. Kinder und Jugendliche übernehmen automatisch diese Bilder, die ihnen in der Gesellschaft vorgesetzt werden. Es braucht einen aktiven Reflexionsprozess, um sich damit kritisch auseinanderzusetzen.

Dann lehnen homosexuelle Menschen sich selbst in Anteilen ab?

Ja. Wenn ich das Bild habe, Lesben und Schwule sind sündig oder krank, schäme ich mich als homosexuelle Person meiner selbst. Dann führe ich einen Kampf gegen mich. Der bindet Ressourcen und belastet die seelische Gesundheit. Die Persönlichkeit kann nicht in der Weise reifen wie bei Menschen, die in ihrer Identität bestätigt werden und sie vorbehaltlos angenommen haben.

Wie zeigt sich internalisierte Homonegativität?

Es gibt ganz verschiedene Anzeichen dafür. Die Person fühlt sich schuldig, minderwertig, schämt sich ihrer sexuellen Orientierung, ja hasst sich unter Umständen sogar deshalb. Internalisierte Homonegativität bedeutet eine tiefe Selbstablehnung und Selbstentwertung und hat deshalb auch so negative Auswirkungen auf die Psyche und die Persönlichkeit. Betroffene erleben eine innere Zerrissenheit zwischen dem gleichgeschlechtlichen Begehren und der verinnerlichten negativen Normvorstellung. Dieser Konflikt kann im Verlauf der Zeit immer unerträglicher werden.

Auf welche Weise macht er sich äußerlich bemerkbar?

Die betreffende Person vermeidet es mit allen Mitteln, als homosexuell erkannt zu werden. Sie geht zum Beispiel homosexuellen Menschen aus dem Weg. Im Verhalten gebärdet sie sich geradezu krampfhaft „heterolike“, eine schwule Person macht etwa Frauen Komplimente und passt sich extrem an heteronormative Bilder an. Mitunter geht die Selbstablehnung so weit, dass eine solche Person sich aktiv an Entwertungen und sogar an gewalttätigen Aktionen gegen homosexuelle Menschen beteiligt.

Menschen mit verinnerlichter Homonegativität trauen sich auch nicht, in ihrem Familien- und Freundeskreis über ihre Homosexualität zu sprechen. Sie informieren nicht einmal ihren Hausarzt darüber. Dabei wäre das für ihn unter Umständen wichtig zu wissen, nicht zuletzt weil damit andere Risiken verbunden sind. In Therapien höre ich von solchen Patienten beispielsweise die Äußerung: „Wenn ich normal wäre,…“. Mit anderen Worten: Sie halten sich aufgrund ihrer Homosexualität für abnorm.

Gibt es diese Selbstablehnung auch bei anderen Minderheiten?

Ja, eine Verinnerlichung von gesellschaftlich vermittelten negativen Bildern finden wir vielfach. So haben Untersuchungen an afroamerikanischen Kindern gezeigt, dass sie Puppen mit heller Hautfarbe mehr wertschätzten als solche mit dunkler Hautfarbe. Frauen mit dunklem Teint verwenden manchmal aggressive Bleichcremes, nur um hellhäutig zu wirken. Je stärker aber das Selbstwertgefühl solcher Minderheiten wird, desto weniger verinnerlichte negative Bilder finden wir bei ihnen.

Was bewirken homonegative Erfahrungen bei Lesben und Schwulen?

Kleinste Irritationen haben manchmal keine große Wirkung. Wenn es schwerwiegende Verletzungen sind, haben diese jedoch weitreichende seelische Folgen. Was wir in vielen Untersuchungen bis in die Gegenwart bestätigt finden, ist, dass homosexuelle Jugendliche als Reaktion auf diese schweren Ausgrenzungen vermehrt unter Depressionen, Angststörungen, Selbstwertproblemen, Substanzmissbrauch und zum Teil auch unter Suizidalität leiden.

Und das, obwohl sich viele heutzutage ohne große Dramen outen können?

Es ist so, dass sich viele zwar in Chatforen outen, aber in anonymer Form. Sich hingegen gegenüber den Eltern zu offenbaren, gegenüber Freunden, den Lehrern oder beim Berufseinstieg – das ist nach wie vor schwer. Die Anerkennung und Bestätigung von außen stärkt unser Selbstwertgefühl. Wenn von außen dagegen immer wieder negatives Feedback kommt, labilisiert dies das Selbstbewusstsein.

Wie präsent ist Homonegativität für Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben?

Die Konversionstherapien, bei denen Homosexuelle ihre natürliche sexuelle Orientierung ablegen und heterosexuell werden sollen, sind nur die Spitze eines Eisbergs. Homonegative Erfahrungen machen alle Lesben und Schwule. Sie können aber geringfügiger Art sein.

Dass eine Familie ein wenig irritiert ist, wenn ihr Kind sich homosexuell entwickelt, ist ja noch nachvollziehbar, weil Eltern erwarten, dass ihre Kinder heterosexuell sind. Wir sprechen von „heterosexueller Vorannahme“. Die Umgebung erwartet ihre Mitmenschen im Allgemeinen als heterosexuell, es sei denn, sie geben sich anders zu erkennen.

Wie entsteht Homonegativität überhaupt?

Homonegativität ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen Homosexuelle. Zu abwertenden Einstellungen kommt es im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung, wenn eine Person entsprechenden homonegativen gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt ist. Solche Ansichten sind kein individuelles Phänomen, sondern Folge gesellschaftlicher Lernprozesse. Genauso kommt es im Übrigen zu Rassismus, Sexismus oder Ausländerfeindlichkeit.

Geläufiger ist der Begriff „Homophobie“. Gibt es einen Unterschied?

Früher sprach man von „Homophobie“. Das ist ein unpassender Begriff. Phobie heißt „Angst vor“. Menschen, die phobisch auf Höhe reagieren, werden jeden Aussichtsturm meiden. Das ist ein individuelles Krankheitsbild. Bei der Homosexualitätsfeindlichkeit handelt es sich aber nicht um eine Angst oder eine Krankheit. Sie ist ein gesellschaftliches Problem, da Menschen im Zuge ihrer Sozialisation vermittelt wird, Homosexualität sei negativ und abnorm. Sie verinnerlichen diese Haltung dann. Es ist übrigens nicht so, dass Menschen mit Homonegativität das Thema Homosexualität meiden, auch dann nicht, wenn sie selbst homosexuell sind. Sie beschäftigen sich mental mitunter sogar intensiv damit.

Sie setzen sich tatsächlich viel mit Homosexualität auseinander? Sie möchten aber doch sicherlich keinen Kontakt mit homosexuellen Menschen, oder?

Ja, es gibt diese Paradoxie: Sie werden auf jeden Fall Berührungspunkte mit Homosexuellen vermeiden, aber nicht aus Angst, sondern weil es ihnen – schlimm zu sagen – so widerwärtig ist. Sie gehen Homosexuellen auch aus dem Grund aus dem Weg, weil der Kontakt ihr negatives uniformes Bild ins Wanken bringen könnte. Persönliches Kennenlernen ist – übrigens auch bei Rassismus und Ausländerfeindlichkeit – eine Möglichkeit, die feindliche Einstellung aufzuweichen und zu differenzierteren Anschauungen zu gelangen.

Und dennoch beschäftigen sich homonegativ eingestellte Menschen gedanklich viel mit Homosexualität?

Bei einigen ist die Homonegativität Ausdruck eines heftigen inneren Kampfes gegen die eigene Homosexualität. Ein Beispiel sind Priester in der Kirche, die aus eigener Ablehnung massive Aggressionen gegenüber Homosexualität an den Tag legen. Dabei sind diejenigen, die Homosexuelle am heftigsten verurteilen und massivste Ausgrenzungen vornehmen, oft diejenigen, die selbst homosexuelle Präferenzen haben. 2016 gab es den Fall eines Mannes, der 49 Gäste eines Schwulenclubs in den USA tötete. Er lehnte seine eigene Homosexualität derart ab, dass sich dieser innere Kampf in schwerer Aggression gegen Homosexuelle entlud.

Gesamtgesellschaftlich kann man ja aber den Eindruck haben, Homosexualität sei kein Aufregerthema mehr. Wir haben Filme mit homosexuellen Liebesbeziehungen und berühmte Persönlichkeiten in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert?

Das ist nicht so. Erst 2017 ist in Deutschland die gleichgeschlechtliche Partnerschaft der Ehe gleichgestellt worden – und fast ein Drittel der Parlamentarier hat dagegen gestimmt. Unsere Forschungen zeigen, dass sich die Gesellschaft im Allgemeinen in drei Teile aufteilt: ein Drittel, für das die sexuelle Orientierung keine Rolle spielt, weil es den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Ein zweites, das mit Homosexualität eindeutig ein Problem hat, und ein drittes, das eine eher zwiespältige Haltung einnimmt.

Wie kommen Sie zu dieser Aufteilung?

Wenn man die Menschen fragt, ob sie etwas gegen Lesben und Schwule haben, sagen viele pro forma, sie hätten nichts gegen sie. Aber wenn man sich genauer erkundigt und etwa fragt: „Möchten Sie mit Lesben und Schwulen in einem Haus leben?“, geraten einige der Zwiespältigen schon ins Wanken und die Ablehnenden wollen diese Nähe nicht. Und wenn es um die Frage der Regenbogenfamilie geht, also ob Lesben und Schwule Kinder großziehen dürfen, dann lehnen die Zwiespältigen das gewöhnlich ab.

Sie betonen den Einfluss der Gesellschaft bei der Entstehung von homonegativen Haltungen. Gibt es Milieus, in denen sie besonders präsent sind?

Ja, es ist eine Frage der Sozialisation. Heterosexualität wird in vielen Milieus als Norm definiert und alles, was davon abweicht, ist verpönt. Gehen Sie in die Literatur der fundamentalistisch christlichen Gruppierungen, die Homosexualität sehr stark bekämpfen und Umpolungstherapien durchzuführen versuchen. Dort wird ein ganz traditionelles Frauenbild präsentiert. Es heißt, als Frauen aufhörten, für die Kinder im Haus da zu sein, kam das Unheil in die Welt. In einer Abfolge werden dann Homosexualität, Drogen und Kriminalität aufgelistet.

Aus dieser Argumentation heraus versteht man, warum Homonegativität ganz eng mit patriarchalen Familienbildern verknüpft ist. Denn diese werden durch die gleichgeschlechtliche Partnerschaft mit egalitärer Rollenverteilung infrage gestellt. Wir wissen aus Studien, dass Erwerbstätigkeit, Haushalt- und Erziehungsarbeit bei homosexuellen Paaren fairer auf beide Schultern verteilt sind.

Welche anderen Ideen und Argumentationen können hinter der Homonegativität stehen?

Etwa dass Homosexualität widernatürlich sei oder gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder bekommen können. Das sind auf die Natur bezogene Argumente. Das Gegenargument liefern dann die zoologischen Gärten mit ihren in meinen Augen amüsanten Führungen, bei denen Tiere gezeigt werden, die auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften eingehen: Bonobos, Flamingos und so weiter. Ich finde diese Begründung greift nicht, weil wir nicht mit Tieren zu vergleichen sind, da wir aufgrund unserer geringeren Instinktgebundenheit große Flexibilität und Plastizität besitzen und uns dies erheblich von Tieren unterscheidet.

Davon abgesehen können gleichgeschlechtlich Orientierte über Samenspende, Adoption und Leihmutterschaft durchaus Kinder haben. Und wenn etwa zehn Prozent der Menschen homosexuell sind und kaum Kinder haben, bewirkt das in der gesamten Bevölkerung keinen nennenswerten Rückgang der Geburtenrate.

Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf? Wo könnte man ansetzen, um Homonegativität aufzuweichen?

Schulen sind leider oft Orte großer Homonegativität. Das hängt von der Struktur, von der Art der Schülerinnen und Schüler ab. Es wird immer da kritisch, wo Schüler aus sehr traditionalistischen Familien – sowohl christlich als auch muslimisch und jüdisch – kommen und sich homosexuelle Jugendliche outen. Verschiedene europäische Studien zum Bullying bestätigen, dass jugendliche Homosexuelle an den Schulen mitunter enorm angefeindet werden.

Und welchen Anteil haben die Schulen an diesem Klima?

Teilweise schauen Lehrer nicht hin und die Schulen spielen die Konflikte aus Angst vor einem Imageschaden herunter. In den Lehrplänen und in der Ausbildung der Lehrer spielt Homosexualität meist keine Rolle. Und es gibt eine Besonderheit bei homosexuellen Lehrerinnen und Lehrern: Sie vermeiden vielfach, sich zu outen, weil es ein schlimmes Vorurteil gibt. Es heißt schnell: „O je, die werden sich an die Kinder heranmachen.“ Dabei hat Pädophilie – schlimm genug, dass es sie gibt – nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun. Sie tritt bei Hetero- wie auch bei Homosexuellen auf. Dieses Vorurteil der Vermischung von Homosexualität und Pädophilie stellt eine besonders perfide Form der Homonegativität dar.

Wenn wir zurück auf die Ebene des Individuums kommen: Kann ihm das Coming-out helfen, die eigene homonegative Anschauungen abzustreifen?

Das Coming-out ist immer eine Befreiung. Verheimlichungsstress ist enorm belastend und eine der am schwersten zu ertragenden Stressarten. Und zu einer Minorität, also einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe zu gehören ist auch oft mit Stress verbunden. Wenn das zusammenkommt, kann das eine große Belastung sein.

Führt das Coming-out auch zu einem Erstarken des Selbstbewusstseins?

Ja, dem Coming-out geht ein innerer Umorientierungsprozess voraus, in dem die ursprünglich unreflektiert aufgenommenen und dann internalisierten negativen Bilder der Homosexualität hinterfragt und Schritt für Schritt abgebaut werden. Wird dieser Prozess der Selbstakzeptanz erfolgreich durchlaufen, so steht am Ende statt der ursprünglichen Selbstablehnung die Überzeugung: So wie ich bin, ist es gut.

Ist manchmal eine Psychotherapie zur Überwindung der verinnerlichten Homonegativität erforderlich?

Dazu braucht es im Allgemeinen keine Therapie, sondern es geschieht meist von selbst im Zuge einer Einstellungsänderung, für die vor allem das Gespräch mit anderen Lesben und Schwulen wichtig ist. Die verschiedenen Aktions- und Diskussionsgruppen bieten einen Raum, in dem sich Gleiche mit Gleichen treffen und dadurch ihre Identität stärken. Der Austausch mit Gleichgesinnten wirkt auch dem Eindruck entgegen, der einzige homosexuelle Mensch zu sein. Außerdem können diejenigen, die am Anfang ihres Coming-out-Prozesses stehen, von den Erfahrungen der anderen profitieren.

Sie selbst unterstützen Menschen immer wieder bei diesem Prozess. Begleiten Sie den Betroffenen dann auch beim Gespräch, in dem er sich outet?

Wenn die Situation schwierig ist, kann das vorkommen. Und ob man das gut findet oder nicht: Es beeindruckt die Eltern, wenn der Herr Professor sagt, das ist keine Krankheit. Interessanterweise sind es bei schwulen Männern oft die Mütter, nicht die Väter, die sich unter Umständen schuldig fühlen und mich fragen, ob sie etwas falsch gemacht haben, ob sie den Sohn zu eng an sich gebunden haben. Sie sind erleichtert, wenn ich ihnen erkläre, dass das damit nichts zu tun hat. Das besagen alle Studien.

Udo Rauchfleisch hat als einer der Ersten die Feindseligkeit gegenüber Homosexualität als gesellschaftlichen Prozess erforscht. Er ist emeritierter Professor für Psychologie und Psychotherapeut und schrieb unter anderem das Buch Schwule, Lesben, Bisexuelle.

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