Wohlwollend vernachlässigen?

Rezension: In seinem neuen Buch plädiert Allan Guggenbühl für weniger Verwöhnung und mehr Freiraum in der Kindererziehung.

Das Cover des Buches Für mein Kind nur das Beste macht klar: Hier geht es um verwöhnte Kinder und überspannte Helikop­tereltern, um dieselben Themen also, die derzeit unzählige andere Erziehungsratgeber behandeln, deren Titel mit Schlagworten wie „Tyrannenkinder“, „Verwöhnung“ und „Förderwahn“ bedruckt sind. Das weckt nicht gerade Lust, das Buch zu lesen.

Das ist schade, denn das Buch von Allan Guggenbühl ist differenzierter, als es das Cover glauben machen will. Der Schweizer Psychotherapeut liefert nämlich im Unterschied zu vielen anderen Sachbuchautoren keine pauschalisierende und entwertende Elternkritik, sondern sieht klar den gesellschaftlichen Druck, unter dem viele Eltern stehen. Aus seiner eigenen therapeutischen Praxis kennt er die Ängste vieler Erziehender, ihrem Kind nicht genug mitzugeben, um in unserer auf Leistung und Anpassung ausgerichteten neoliberalen Gesellschaft bestehen zu können.

Guggenbühl macht Müttern und Vätern Mut und plädiert eindringlich für das Recht der Kinder auf eine verspielte Kindheit und eine halbwegs chaotische Jugend, in der sie sich auch ausprobieren und Fehler machen dürfen. Er fordert weniger Kontrolle, weniger Schule und weniger Verbote, dafür mehr Freiraum, mehr wohlwollende Vernachlässigung und mehr zielloses Herumtreiben. Denn Eltern wüssten ohnehin nicht zwangsläufig besser als ihr Kind, was die richtige Entscheidung für dessen Leben sei. „Jugendliche wollen sich nicht mehr die Zukunft von den Erwachsenen erklären lassen, sondern sich selbständig mit ihr befassen“, schreibt der Autor.

Ein Luxusproblem?

Das Problem bei Guggenbühls Buch ­– und auch bei vielen ähnlich gelagerten Erziehungsratgebern – ist allerdings, dass seine Analysen nur für einen Teil der Bevölkerung gelten. Schaut man in die Erziehungsratgeberregale in Buchhandlungen, könnte man denken, dass der Kontroll- und Förderwahn deutscher Eltern ein riesiges gesellschaftliches Problem darstellt. Das schafft eine stark verzerrte Realität. Tatsächlich ist ein viel drängenderes Problem, dass hierzulande 21 Prozent aller Kinder dauerhaft in Armut leben. In Bremen und Berlin ist jedes dritte Kind arm, selbst im reichen Hamburg lebt jedes fünfte Kind unterhalb der Armutsgrenze. Das bedeutet psychischen Stress, beengte Wohnverhältnisse, wenig Geld für gesundes Essen, Bildung, Hobbys oder Urlaub. Statt unter übermäßiger Verwöhnung und Förderung leiden vermutlich mehr Kinder unter Benachteiligung und Ausgrenzung sowie geringen Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg.

Es wäre schön, wenn sich die vielen ratgeberschreibenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten auch mal diesem drängenden Thema widmen würden. Vielleicht wäre das eine oder andere besorgte Elternpaar durch den Blick über den Tellerrand dann sogar in der Lage, die eigenen Ängste ein Stück weit zu relativieren.

Allan Guggenbühl: Für mein Kind nur das Beste. Wie wir unseren Kindern die Kindheit rauben. Orell Füssli, Zürich 2018, 221 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2019: Passiv-Aggressiv
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