Was sehen Sie hier, Inga Rumpf?

Ein Bild, zwei Fragen: Ein Mädchen steht am Bahnsteig, mutterseelenallein an Heiligabend. Wie deutet Rocksängerin Inga Rumpf die Szene?

Die Illustration zeigt einen Bahnsteig mit Zug, auf dem ein Kind steht, daneben ist ein Weihnachtsbaum
Was sehen Sie hier, Inga Rumpf? © Andrea Ventura

„Der Zug ist abgefahren! Und das am Heiligen Abend! Da steht die zehnjährige Anni nun ganz allein und verlassen auf dem menschenleeren kalten Bahnsteig in der Stadt. Ihre Tante hatte sie zum Bahnhof gebracht und sich schnell von ihr verabschiedet, denn der neue Freund erwartet die Tante. Anni ist ja schon ein großes Mädchen und hat die Bahnfahrt zu ihrem Papa schon einige Male gemacht. Wie hat sie sich auf den Papa gefreut!

Die Mutti ist vor zwei Jahren gestorben und Anni wurde erst mal bei der Tante untergebracht. Sie hat zu Weihnachten ein neues Kleid bekommen, es ist noch ein bisschen zu groß für sie, ein blauer Saum lugt unter dem braunen Mäntelchen hervor. In ihrer Umhängetasche sind Geschenke für den Papa: eine kleine Eule, die sie aus einem Tannenzapfen gebastelt hat, und ein gerahmtes Porträt von ihr, selbstgemalt.

Sie beginnt zu frieren, die rosa Pudelmütze schützt zwar vor dem Frost, aber nun muss sie schnell herausfinden, wann der nächste Zug fährt. Dann wird sie den Papa mit ihrem Handy anrufen, ihm die neue Ankunftszeit sagen und ganz gemütlich, wie eine Erwachsene, in der Bahnhofsgaststätte einen warmen Kakao trinken. „Aber lass dich nicht mitschnacken“, wird ihr der Papa noch besorgt zurufen. „Alles gut.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Ich kenne das Gefühl der Verlassenheit. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, ließ meine Mutter mich für einen kurzen Augenblick unten im Treppenhaus stehen, um schnell etwas aus unserer Wohnung zu holen. Als sie zurückkam, war ich verschwunden. Sie rannte wie von Sinnen in der Nachbarschaft herum und suchte mich verzweifelt. Dann traf sie ein ihr bekanntes Mädchen aus einem Geschäft – mit mir an der Hand.

Dieses Mädchen hatte mich mit einer fremden Frau gesehen und mich von dieser Unbekannten befreit. Ja, wer weiß, wo ich gelandet wäre? Diese Geschichte hat mir meine ältere Schwester berichtet und sie ist auch in meiner vor kurzem veröffentlichten Autobiografie zu lesen.“

Inga Rumpf, Sängerin und Komponistin aus Hamburg, hat eine der markantesten Rockstimmen. Vor kurzem erschienen ihr neues Doppelalbum Universe Of Dreams / Hidden Tracks und ihre Autobiografie Darf ich was vorsingen?

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2022: Stille Aufträge
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