Der Perlentaucher

Therapiestunde: Wie gelingt es dem Lerntherapeuten, einen Grundschüler mit starken Konzentrationsproblemen aus der Deckung zu holen?

Ein Taucher mit Maske und Sauerstoffflasche, taucht auf den Grund eines Wassers und öffnet eine Muschel, in der ein Kind sitzt
Ein Grundschüler muss zur Lerntherapie: Dort malt er einen Perlentaucher, was zum Durchbruch seiner Therapie führt. © Michel Streich für Psychologie Heute

Eine Mutter bittet um einen Termin für ihren Sohn, der im vierten Schuljahr sei und erhebliche Konzentrationsprobleme habe. Bei der Begrüßung nimmt Markus keinen Kontakt auf, betrachtet sich im Spiegel und sondiert die Umgebung. Auf mich wirkt Markus relativ abwesend, nicht altersgemäß entwickelt und schmal. Er sucht sich den Platz neben der Mutter aus und kuschelt sich bei ihr ein, bleibt aber durchgängig wuselig und ist die ganze Stunde gleichmäßig unruhig. Immer wieder versuche ich, ihn ins Gespräch…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

wuselig und ist die ganze Stunde gleichmäßig unruhig. Immer wieder versuche ich, ihn ins Gespräch einzubinden, und erhalte knappe leise Antworten, die zumeist von der Mutter deutlicher eingebracht werden.

Der Mutter ist das Wegdriften ihres Sohnes peinlich. Meinen Versuch, ihm ein konkretes Angebot – Spielen oder Malen – zu offerieren, nimmt er nicht an. Von der Mutter erfahre ich, dass bereits zwei Jahre nach ihm Zwillinge auf die Welt gekommen sind. Er erwähnt, er habe fast keine Freunde und gehe nicht gerne zur Schule. Die Lehrerin habe keine Geduld mit ihm.

Nach der ersten Stunde teile ich der Mutter mit, dass ich noch nicht die Möglichkeit sehe, die Lerntherapie mit Markus zu beginnen, da ihm hierfür noch die Bereitschaft fehle. Wir lassen offen, ob und wie es weitergehen könnte. Umso überraschter bin ich, dass die Mutter gut zweieinhalb Wochen später nach den Ferien anruft und mitteilt, Markus sei jetzt zu anderen Kindern kontaktfreundlicher, und in ihr selbst habe es nach unserer Stunde viel „gearbeitet“.

Sie wollen mehr Geschichten aus der Therapiestunde als Buch lesen?

Das Buch „Wenn Sie wüssten, wie ich wirklich bin“ versammelt die 50 besten „Therapiestunde“-Kolumnen, die in den letzten Jahren erschienen sind.

Er kuschelt sich beim zweiten Termin wieder bei der Mutter weg und begrüßt mich nicht. Bei etwas verringerter Grundunruhe bringt er sich jedoch öfter ein und benutzt die Mutter gezielter als „Übersetzerin“. Sie erzählt, er sei gelobt worden, weil er sich bei einer anderen Familie gut benommen habe. „Also kannst du es“, fährt es aus mir heraus. Da tritt für eine Weile Ruhe ein. Schließlich ergänze ich: „Ja, wenn man schwierig ist, bekommt man meistens mehr Aufmerksamkeit.“

Das behutsame Häuten einer Zwiebel

Markus’ Mutter berichtet, dass sie Schwierigkeiten habe, deutliche Grenzen zu ziehen. Auf meine Frage, wie sehr sie sich für das Verhalten ihres Sohnes verantwortlich fühle, fängt sie an zu weinen und sie erzählt, dass ihr Mann sehr streng sei. Als ich Markus darauf anspreche, bestätigt er dies. Um diesen väterlichen Einfluss zu konkretisieren, frage ich nach, ob der Vater zum nächsten Termin mitkommen könnte. Die Mutter äußert sich sehr skeptisch, gibt aber vor, diese Bitte an den Vater zu übermitteln.

Auf meine Frage, wie sie die Stunde fanden, antwortet die Mutter: „Das ist wie das behutsame Häuten einer Zwiebel.“ Worauf ich entgegne: „Und wie beim Häuten der Zwiebel darf man auch mal weinen.“ Jetzt bringt sich zu meiner Überraschung auch Markus klar ein und sagt: „Das war gut heute.“

In der dritten Sitzung gibt es einen Nachklang zu meiner Bemerkung aus der zweiten Sitzung: „sich selbst einmal überraschen“, um aus der „Schleife des Immergleichen der Störung“ zu den Ressourcen zu gelangen. Die Mutter greift dies auf und verweist auf die anstehende Mathearbeit morgen.

Ich selbst deute auf den verwaisten Arbeitstisch und frage, ob die Mathearbeit unser Thema sein könne, ich sei schließlich ein Fachmann fürs Lernen. Markus kommt aus der Deckung heraus, wird neugierig und fragt, wie man denn besser Mathe lernen könne. Nach einigen Tipps von mir ebbt sein Interesse allerdings wieder ab und er kuschelt sich erneut ein. Ich spüre die Enttäuschung der Mutter und frage, wie das für sie sei, so bekuschelt zu werden. Sie habe das Gefühl, dass er nicht nur Körperkontakt suche, sondern dass er auch weglaufe.

Als großer Bruder fühlen

Markus verweigert zum vierten Termin das Gespräch darüber, warum der Vater nicht mitkommt. Ich lenke um und frage: „Was wünschst du dir, was sich zu Hause ändern sollte?“ Darauf sagt er zur Überraschung der Mutter: „Ich möchte mit den beiden Kleinen die Hausaufgaben machen.“ „Würdest du dich dann als großer Bruder fühlen?“ Er bestätigt dies und wird gerichteter. „Lässt sich das einrichten?“, frage ich die Mutter. Als sie dies bejaht, ergänze ich: „Dann haben Sie jetzt die Hausaufgabe, das umzusetzen.“

Zum fünften Termin gibt Markus mir die Hand und entschuldigt sich für fünf Minuten Verspätung. Ich frage sogleich nach der Betreuung der beiden jüngeren Brüder. „Ja es hat geklappt“, sagt er nüchtern. „Wer Lehrer spielen kann, der ist ja auch selbst fit“, antworte ich. „Woran liegt es also, dass du nicht so erfolgreich beim Lernen bist?“ „Ich fange einfach nicht an“, sagt er. „Das kannst du von mir lernen. Ich mache die unangenehmen Dinge meistens gleich. Also los geht’s!“ Und ich deute auf den Arbeitstisch.

Zu meinem Erstaunen sucht er sich einen Platz aus und lässt sich auf einminütige Entspannungsübungen ein. Um einer potenziell aufkommenden Unruhe vorzubeugen, schlage ich vor, ein Kritzelbild zu malen. Stattdessen malt er ein detailliertes Comicbild mit Tick, Trick und Track. Zum Abschluss stelle ich die Frage, ob wir denn die Mama nächstes Mal hier noch brauchen.

Bei der nächsten Sitzung wehrt Markus sich vehement, mit mir allein im Raum zu bleiben. Wir teilen die Stunde schließlich in ein schulähnliches Setting auf: 45 Minuten lernen und dann mit der Mutter besprechen, wie es war. Er stellt sicher, dass die Mutter im Vorraum bleibt. Überrascht bin ich, dass er ein sehr konkretes Ansinnen vorträgt. Er möchte mir sein Referat vortragen. Er stellt sich vor mich und referiert im Schnelltakt über eine Stadt in der Nähe.

Die Perle finden

Beim nächsten Termin gibt die Mutter vor, einkaufen zu müssen, und zeigt sich hartnäckig. Als ich ihn bitte hereinzukommen, folgt er zu meiner Über­raschung der Bitte, betritt den Raum und lässt sich schließlich auf ein Lernsetting ein. Wir besprechen sein Referat und die Begleitumstände.

Zwischen Tür und Angel sprechen wir noch ein notwendiges Schulgespräch ab und die Mutter verlässt für die nächsten 45 Minuten die Praxis – ohne Protest von Markus. Von sich aus fängt er dann an zu malen. Er malt eine Szene auf dem offenen Meer mit einem Taucher, der eine Perle findet.

Ich lasse ihn zu seinem Bild erzählen und schlage vor, weil er nicht gerne schreibt, seine Geschichte für ihn aufzuschreiben. Er erzählt strukturiert von einem Taucher, der Besonderes im Meer findet und dadurch reich wird. Mit Freude zeigt er der Mutter sein Bild und diese liest mit Stolz seine Geschichte vor. Mein Vorschlag, die Erzählung den jüngeren Geschwistern vorzulesen, stößt auf Begeisterung.

Zugang zu den eigenen Ressourcen

Ich kommentiere: „Lernen löst nicht nur Freude aus, etwas zu können. Es kann auch Angst machen, weniger Begleitung von der Mama zu haben.“ Daraufhin nimmt die Mutter Markus in den Arm und sagt: „Du kannst dir immer meiner Liebe sicher sein, auch wenn du groß wirst.“

Die Abgrenzung der Mutter war ein Schlüssel zur Veränderung. In der Gestalttherapie gehen wir davon aus, dass sich Veränderung bei Kindern oft spontan ereignet, da Verhalten in Polaritäten angeordnet ist und in das Gegenläufige „hinüberspringen kann“. Diese spontane Veränderung wurde dadurch ermöglicht, dass Markus in unserem Setting Raum geboten wurde – als gegenläufiges Element zur familialen Enge durch die nachfolgenden Zwillinge.

Die Beziehung zur Mutter wurde durch die zeitnahe Geburt der Zwillinge instabil. Sie konnte durch die Polarität von Bindung (Kuscheln) und Rückversicherung in der Progression des Lernens (Liebe bleibt) wieder als umfassend und gesichert erfahren werden. So konnte Markus Zugang zu seinen Ressourcen finden, was sich in dem Bild des Perlentauchers zeigt. Die Veränderungen strahlten auch in die Schule aus, was in einem Gespräch mit der Lehrerin deutlich wurde.

Dr. phil. Volkmar Baulig, Diplompädagoge, war über 30 Jahre als Förderlehrer sowie in systemisch-beraterischem Kontext in Regelschulen tätig. Als Gestalttherapeut arbeitet er mit Kindern und Jugendlichen vorwiegend im Lernbereich

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter