Tausende Jahre in drei Tagen

​Forscher untersuchten anhand eines Onlinekunstprojekts, wie sich Kulturen entwickelt haben könnten. ​

Die Illustration zeigt einen Mann mit vielen Armen in verschiedener Hautfarbe, der eine Tür zeichnet, die leicht geöffnet ist und dahinter viele Länderflaggen zeigt
Mehr als eine Million User schufen innerhalb von drei Tagen ein digitales Kunstwerk. © Joni Majer

Anfang April 2017 bot das Inter­netportal Reddit seinen Nutzern an, ein digitales Kunstwerk zu erschaffen. Die Entwickler stellten dazu eine 1000 mal 1000 Pixel große weiße digitale Leinwand zur Verfügung. Auf diese durften User drei Tage lang verschiedenfarbige Pixel platzieren, wohin sie wollten – aber immer nur eins zu einem Zeitpunkt und erst nach fünf Minuten das nächste.

Reddit teilte dazu mit: “Individually you can create something. Together you can create something more.” Das ließen sich die User nicht zweimal sagen – insgesamt mehr als eine Million von ihnen machten mit. Nach den drei Tagen fand sich auf der Leinwand eine Vielzahl von Motiven aus mehr als 16 Millionen Pixeln. Zu sehen waren Nationalflaggen, Symbole und Comicfiguren aller Art sowie eine Mona Lisa – alle eng nebeneinander.

Einzelkämpfer hatten keine Chance

Entstand das Kunstwerk ungeordnet, war es also ein Ergebnis von spontaner Kreativität? Offenbar nicht, fanden Thomas Müller und James Winters vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte heraus. Vielmehr sehen sie ihre Vermutung bestätigt, dass sich menschliche Kulturen entwickeln könnten, indem sich aus anfänglich großer Vielfalt und einer Art Chaos nach und nach Regeln und Verhaltensmuster bilden. „Bei dem Kunstprojekt hat sich gezeigt, wie sich, ausgehend von einer leeren Leinwand, viele kulturelle Merkmale wie Symbole und Zeichen entwickeln konnten. Die Vielfalt nahm zuerst zu, dann wurde das Ganze immer strukturierter und geordneter durch die Einführung von Regeln“, erklärt Müller. Die Forscher hatten 250 000 Mitschnitte der drei Projekttage angefertigt und ausgewertet, so dass sie die Entwicklung bis ins Detail untersuchen konnten.

Wie die Wissenschaftler beobachteten, hatten Einzelkämpfer kaum eine Chance, sich gegen Nutzer, die sich zu Gruppen zusammenschlossen, durchzusetzen. Ohne Unterstützung von anderen mussten Individualisten ihre Motive aufgeben, weil sie aufgrund der zeitlichen Beschränkung schlicht zu wenige Pixel hatten. Dagegen konnten Nutzer ein Motiv planen und dieses bis zum Schluss erhalten, wenn sie für ihre Bildideen warben und andere Nutzer dafür gewannen, ihre Pixel in ihrem Kunstwerk zu platzieren und so zu helfen, dieses zu vervollständigen.

Nationalflaggen waren offenbar besonders beliebt. Sie wurden schließlich ein recht häufiges Bildmotiv, weil sich offenbar sehr viele Nutzer einer Nationalität mit ihrer Flagge identifizieren konnten und deshalb an den Flaggenbildern anderer User mitarbeiteten. „Bei dem Projekt war es unglaublich wichtig zu kooperieren“, fasst Müller die entscheidende Strategie zusammen.

Sich gegenseitig schützen

Als der Platz auf der Leinwand knapper wurde, erhöhte sich der Wettbewerbsdruck, was auch zu brenzligen Situationen führte. So kam es zwischen zwei Gruppen, die die deutsche und französische Flagge erstellten, auf einem umstrittenen Gebiet zu einem Konflikt. Dieser wurde erst gelöst, als sich die beiden Gruppen darauf einigten, überschüssige deutsche Pixel in eine EU-Flagge umzugestalten. „Die Teilnehmer stritten um Gebiete, haben sich dann aber gemeinsam mit den Nachbarn in diese Gebiete integriert“, berichtet Thomas Müller. Das sei so, als ob man sage: „Wenn du einen Teil von mir beschützt und ich einen Teil von dir, werden wir insgesamt sicherer sein“, ergänzt der Wissenschaftler James Winters.

„Die digitale Leinwand war für uns wie eine Petrischale, in der Bakterien versuchen, den Platz zu erobern“, sagt Müller. Kunst sehen die Forscher in diesem Zusammenhang als eine spezielle Form kultureller Ausdrucksweisen, vergleichbar mit der Sprache. Auch diese bestehe schließlich nicht nur aus einem Wort, sondern bilde sich aus sehr vielen. Sie brauche eine bestimmte Struktur, wie sie Grammatik und Syntax bieten, und erfahre eine ständige Weiterentwicklung über die Zeit. Mit Kunstwerken oder grafischen Symbolen verhalte es sich ähnlich.

In einer weiteren Studie wollen die Wissenschaftler mithilfe von Computer­simulationen untersuchen, wie die Gruppengröße das Zusammenspiel beein­flusste und wie sich bestimmte Vorlieben darauf auswirkten. „Was wir im Kern herausfinden wollen, ist, wie es zu den geordneten, aber vielfältigen Verhaltensweisen kommt“, sagt Müller.

Thomas F. Müller, James Winters: Compression in cultural evolution: Homogeneity and structure in the emergence and evolution of a large-scale online collaborative art project. PLOS, 2018. DOI: 10.1371/journal.pone.0202019

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2019: Die Kunst des Aufgebens
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