Zu empfindlich?

Buchbesprechung: In ihrem neuem Essay-Band geht es Siri Hustvedt um den männlichen Blick in Kunst und Literatur.

„Was sehe ich?“, fragt sich Siri Hustvedt in ihrem Aufsatz Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Der Text, der dem neuen Essayband seinen Titel gab, setzt sich mit den Frauenporträts von Picasso, Beckmann und de Kooning auseinander. Hustvedt sieht Bilder von Frauen, gemalt von Männern. Sie betrachtet Picassos Weinende Frau, Beckmanns Columbine und de Koonings Woman – Ikonen der modernen Malerei. Was lösen die Bilder aus? Was rufen sie wach? Alles geht aus der Beziehung zwischen Betrachterin und Bild hervor. „Ich hauche ihnen Leben ein.“

Wir lesen keine kunstgeschichtliche Betrachtung, wir sind Zeuge einer Reanimation, in der Visuelles und Sinnliches in eine Beziehung treten. „Ohne einen Betrachter, Leser, Zuhörer ist Kunst tot.“ Hustvedt macht die Bilder lebendig, indem sie sich selbst sichtbar macht. „Das Bild bringt mich aus der Fassung“, schreibt sie über Picassos Weinende Frau. „Ich will diese Figur weiter ansehen, aber ich fühle mich von ihr abgestoßen.“ Und über de Koonings Frauen heißt es, sie „sind groß, zum Fürchten und irre“, nach einer Weile aber wirken sie auf die Betrachterin nur noch komisch.

Eine Außenseiterin, die dem Kanon nicht traut

Der Essayband über „Kunst, Geschlecht und Geist“ besteht aus zwei Teilen. Der erste versammelt literarische Arbeiten, der zweite Vorträge und Artikel aus dem Bereich der Neurowissenschaft. Die Essays lassen sich hintereinander lesen, und man lernt eine Autorin kennen, die an vielen Themen interessiert ist, die viel weiß und Fragen stellt. „Je mehr Fragen ich habe“, sagt sie an einer Stelle, „desto mehr lese ich, und dieses Lesen bringt weitere Fragen hervor. Es hört nie auf.“

Ob Siri Hustvedt nun literarisch oder wissenschaftlich schreibt, sie nimmt nicht die Position einer Expertin ein, die ihr Wissen beflissen vor uns ausbreitet, sie sieht sich selbst als „ewige Außenseiterin“, die sich in verschiedene Materien hineinarbeitet, die dem Kanon nicht traut und mit einer gewissen Hartnäckigkeit Lücken sucht.

Psychoanalyse, Haare, Pornos

Das klingt nach anstrengender Lektüre – ist es aber nicht. Die Essays, vor allem die im ersten Teil, vermitteln ein buntes, sehr unterhaltsames Kaleidoskop. Hustvedt schreibt über die Künstlerin Louise Bourgeois, über Haare, über Susan Sontag und ihren 1967 erschienenen Essay Die pornographische Phantasie. Sie berichtet über ihre Schreibkurse an der New Yorker Payne Whitney Clinic und erzählt von ihrer langjährigen Psychoanalyse.

Das ist hochinteressant und vergnüglich zu lesen, man merkt aber schnell, dass dieses Buch auch ein anderes Thema hat, das sich immer wieder in den Vordergrund schiebt: die Verletzungen, die eine Frau erfährt, die sich in einer von Männern bestimmten intellektuellen Welt bewegt. Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård sagt ihr in einem Interview, die Literatur von Frauen sei für ihn „keine Konkurrenz“. Frauen, so Siri Hustvedt, „zählen einfach nicht“. Dass sie „zu empfindlich für diese Welt ist“, hat ihre Mutter über sie gesagt. Ist es nicht das, was uns fehlt – empfindlich für diese Welt sein?

Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Essays über Kunst, Geschlecht und Geist. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, Reinbek 2019, 525 S., € 26,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2019: Passiv-Aggressiv
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