Zürich sei für sie wie ein kleines Café, sagt mir Dana Grigorcea, als wir uns zum Gespräch in der Stadt treffen. Sie müsse nur vor ihre Haustür treten und schon begegneten ihr bekannte Gesichter. Tatsächlich kommt ihr vor dem Bohemia am Kreuzplatz, wo wir uns verabredet haben, direkt eine Bekannte entgegen.
Sobald man ein paar Minuten mit der Autorin verbracht hat, wundert einen das nicht mehr. Die Schriftstellerin, deren lange dunkle Haare an diesem Tag über eine geblümte Bluse fallen, lacht gerne und…
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Schriftstellerin, deren lange dunkle Haare an diesem Tag über eine geblümte Bluse fallen, lacht gerne und spricht mit einer unverstellten Begeisterung über Kunst und Literatur. Mit ihrem Mann organisiert sie Kulturveranstaltungen in der Stadt. Sie liebe auch die Musik und sei Statistin im Zürcher Opernhaus, erzählt sie mir. Gerade eben auf dem Weg zu unserem Interview habe sie noch die Arie von Margarete in Gounods Faust gehört – gesungen von einer guten Freundin –, dieser Tragödie um eine fatale Attraktion und den teuflischen Verrat an der Liebe.
Frau Grigorcea, woran denken Sie als Erstes, wenn Sie den Begriff Anziehung hören?
An Magnete – an ein magnetisches Feld.
Kommt Ihnen Anziehung zwischen zwei Menschen auch vor wie ein Naturgesetz, das man nicht durchbrechen kann?
Ja, tatsächlich. Und je älter ich werde, desto ehrlicher kann ich ja sagen. Als junger Mensch hat man noch eine gewisse Scham und verleugnet das eigene Empfinden, um sich besser anzupassen. In der Kunst müssen die Figuren unbedingt ihrer Anziehung folgen, damit es eine Geschichte wird, die im Gedächtnis bleibt. Eine Spannung muss aufgebaut werden. Deswegen ist Lesen auch so heilsam. Wir erleben viele krasse Geschichten, in denen wir uns spiegeln können. Das ist wie beim Träumen. Am spannendsten wird es, wenn man nicht wegläuft. Wenn man dableibt und schaut, was passiert, wenn das Monster kommt.
In Ihren Büchern fühlen sich Menschen auf unterschiedlichste Art voneinander angezogen. Was macht eine Begegnung zwischen zwei Figuren für Sie literarisch reizvoll?
Das Potenzial, das diese Begegnung für die Entwicklung einer jeden Figur mit sich bringt. Das sind Beziehungen, die einen aufheben und Sicherheit geben, Beziehungen, die einen verstören, korrumpieren oder auf einen ungeahnten Pfad führen, den man gar nicht gesucht hat.
Dora, die Schriftstellerin in meinem aktuellen Roman Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen, schätzt den Mann, von dem sie sich angezogen fühlt, offenbar nicht. Warum lässt sie sich trotzdem mit ihm ein? Aus dieser Ambivalenz entsteht ihre Literatur. An einer Stelle sagt sie, wenn er da sei, sei sie entsetzt über ihren schlechten Geschmack, und dann strenge sie sich in ihrer Literatur umso mehr an. Aus der realen Beziehung schöpft Dora für die Beziehung mit der fiktiven Figur.


Die Schriftstellerin Dora ist mit ihrem Sohn und einem Kindermädchen an die ligurische Küste gekommen. Mit einem Stipendium schreibt sie dort an einem Roman über den Bildhauer Constantin Avis. Ihren Liebhaber Regis lässt sie warten, gleichzeitig denkt sie beim Schreiben sehnsüchtig an ihn. Was zieht Dora zu diesem Mann?
Sie will intensiv leben und nichts verpassen. Gleichzeitig möchte sie sich freimachen für ihre Kunst. Es ist auch ein Flirten mit der finanziellen Potenz. Regis ist Anwalt, lebt in einer anderen Welt, ist finanziell unabhängig. Sie braucht ein Stipendium, um schreiben zu können. Und dann ist da noch der Reiz, sich nicht kriegen zu lassen. Es ist eine, wie man heute sagen würde, On-off-Beziehung, die sich über Jahre hinzieht. Dora hat als Schriftstellerin Macht über ihre fiktive Welt, sie hat Macht über ihre Figuren. Gleichzeitig hat sie diese Beziehung mit einem Mann, der sie packt wie ein kleines Hündchen.
Die Beziehung zu ihrer fiktiven Figur Constantin wirkt dagegen geradezu innig. Dora stellt sich etwa vor, wie sie mit ihrem Romanhelden, der im Jahr 1926 mit großen Hoffnungen nach New York kommt, durch die Straßen der Metropole flaniert.
Im Roman geht es auch um das das Sichspiegeln in anderen, um das Wachsen an anderen. Dora sucht sich in dieser Figur von Constantin Avis, in diesem Künstler, der 100 Jahre zuvor die gleichen Dilemmata hatte wie sie, und projiziert all ihre Themen, alles, was sie in Ligurien am Meer mit ihrem Sohn, dem Kindermädchen und dem dazugekommenen Liebhaber erlebt, in das New York der 1920er Jahre. Es geht auch um die Frage: Inwiefern plündert man sein Leben für die Kunst und was gibt die Kunst einem zurück?
Die Hauptfigur Ihres vorherigen Romans Die nicht sterben, eine Malerin, erlebt eine starke Anziehung ganz anderer Art – zu einem Vampir, einer Kreatur mit einem „wollüstigen Lächeln“. Zunächst einmal: Warum ist die Erotik eine so zentrale Komponente dieser Blutsaugerfigur?
Weil es um Macht und Ohnmacht geht und um die Bereitschaft, sich hinzugeben, um die Freude an einem Schmerz. Und um die Ekstase, wenn man in einer Situation gefangen ist. Diese Art von Anziehung versklavt auch ein bisschen. Es ist eine unbedingte und fatale, eine reizvolle, aber auch gefährliche Verkettung. Und doch ist sie freiwillig. Einen Vampir muss man hereinlassen.
Tatsächlich?
Kein Vampir kann in ein Haus kommen, in das er nicht eingeladen wurde. Die Hauptfigur kommt an einen Punkt, an dem sie Dracula hereinlassen möchte. Sie verändert ihren Blick auf die Welt und beginnt, das Böse zu sehen. Es gibt diese Szene, in der sie im Garten liegt, in einer eigentlich idyllischen Atmosphäre. Und sie erlebt auf der Höhe des Grases die ganze Boshaftigkeit der Käfer und der Spinnen. Sie wollen alle fressen, sie sind alle gnadenlos, wenn sie etwas brauchen.
Die Erzählerin wird mit einem Mal dieser Gnadenlosigkeit gewahr, sieht sie dann überall, in allem. Und damit öffnet sie sich dieser Welt. Beschäftigt hat mich auch die Bereitschaft der Menschen, sich der starken Hand, dem strengen Führer hinzugeben, diese fast schon morbide Lust.
Auf der anderen Seite gibt es im Roman auch die zarte Liebesbeziehung zu Traian, der barfuß die Kuh von der Weide holt. Was hat Sie an dieser Verbindung interessiert?
Ich wollte eine Figur hineinbringen, die so gar keine Ähnlichkeit mit einem Vampir hat. Traian ist eine Frohnatur und er gehört zu den Einheimischen. Er ist nicht privilegiert wie die Erzählerin, die ein Ferienhaus im Ort besitzt. Sie geht eine Liebesbeziehung mit diesem Traian ein und setzt sich damit über die sozialen Grenzen hinweg.
Traian hat kleine Löcher in den Vorderzähnen, aber das stört sie nicht. Dann kommt dieser Satz: „Echte Liebe, wusste ich, braucht Überwindung.“ Warum denkt sie das?
Weil auf dem Weg zu diesem Pol, zu dem man gezogen, hingerissen wird, vieles im Weg stehen kann, auch vieles, was der Vorstellung bis dahin nicht entsprochen hat. Man nimmt es mit, man lässt sich treiben. Mit der Vorstellung, dass genau diese Überwindung, dieses Gezogenwerden wie über Steine, über Scherben echte Liebe sei. Es ist zum Teil auch eine pubertäre Vorstellung: Je schwieriger es ist, je unverständlicher diese Beziehung, desto tiefsinniger ist sie.
Eines Tages wird Traian tot aufgefunden. Sein Tod wird als Pfählung inszeniert, um die Gegend wieder touristisch zu beleben. Der Bürgermeister will sogar einen Draculapark bauen lassen.
Die Verzweiflung über diese Kaltherzigkeit radikalisiert die Erzählerin. In dem Moment, da sie merkt, dass niemand daran interessiert ist, herauszufinden, wie Traian wirklich gestorben ist, verändert sie ihren Blick auf den Ort. Deswegen kann man ihr ein Stück weit in ihrer Radikalisierung folgen, kann nachvollziehen, warum sie so wird. Bei Lesungen habe ich oft das Feedback bekommen, dass viele es kaum erwarten konnten, dass endlich etwas passiert, dass die Bösen bestraft werden, dass Blut fließt. Tatsächlich wollte ich meine Leserinnen und Leser mitradikalisieren, damit sie sich am Ende fragen können, ob das wirklich der richtige Weg war.
Ihr Roman spielt in einem korrupten lokalpolitischen Milieu. Welche Bedürfnisse ziehen Menschen zu politischen Blutsaugern, die ihnen eigentlich schaden?
Es ist eine Sehnsucht nach klaren Verhältnissen. Die historische Vorlage der Draculafigur, Vlad der Pfähler, der blutrünstige mittelalterliche rumänische Fürst, wurde zu seiner Zeit gefeiert. In der Zwischenkriegszeit wurde seine Herrschaft von den Rumänen als die Zeit der Freiheit idealisiert. Von den Kommunisten wurde er auch wieder hochgehalten, weil er den gestrengen Fürsten symbolisiert hat, als der sich Ceauescu sehen wollte.
„In meiner Kindheit sprach man in Rumänien nur von einem ganz bestimmten Graf Dracula – und das war der das Volk aussaugende Diktator Nicolae Ceauescu“, schreiben Sie an einer Stelle. Welches Bild haben Sie als Kind vor allem mit dieser Figur verbunden?
Das Bild, das im Klassenzimmer hing und das wir auf der ersten Seite aller Schulbücher hatten. Sein Gesicht war ein bisschen pummelig, ein bisschen wie Kim Jong-un. Er war überall, so dass ich ihn gar nicht mehr wahrgenommen habe. Man musste jeden Tag vor dem Unterricht aufstehen und die Nationalhymne singen. Ich habe als Kind, ich war acht oder neun, dabei aus Witz Tiergeräusche nachgeahmt. Man hat mich verpetzt und dann mussten meine Eltern in die Schule kommen. Sie waren verärgert.
Da war ich erstaunt und habe gesagt: Aber ihr mögt ihn doch gar nicht, ihr glaubt doch nicht an den Kommunismus. Und sie haben gesagt: Doch, doch. Zu spüren, dass sie etwas anderes sagten als das, was ich die ganze Zeit mitgekriegt hatte, das hat mich in der Kindheit verstört, ohne dass ich das benennen konnte. Sie haben mir nicht alles gesagt, damit ich mich nicht verplappere, uns nicht in Gefahr bringe.
Ein auf den ersten Blick eher unpolitischer Text ist Ihre Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen – inspiriert von der berühmten Novelle Die Dame mit dem Hündchen von Anton Tschechow aus dem Jahr 1899. Die Anziehungskraft von literarischen Texten kann Autoren offensichtlich über Jahrhunderte hinweg verbinden. Wie würden Sie die Art der Anziehung beschreiben, die zwischen den Figuren bei Tschechow existiert?
Der Moskauer Gurow geht in Jalta eine Beziehung ein mit dieser jungen Petersburgerin Anna, um sich selbst wieder jung zu fühlen. Es ist als Affäre angesetzt, er benutzt Anna. In seiner biederen Vorstellung hat dieser Seitensprung seine Berechtigung. Dann wandelt sich aber diese Beziehung, die Sehnsucht kommt dazu und er überschreitet Grenzen. Dieser Gedanke hat mir gefallen, dass man nicht in der Sicherheit zu sich kommt, sondern wenn man diesen Schritt ins Ungewisse wagt.
War das die wesentliche Motivation, Ihre eigene Version der Tschechow-Novelle zu schreiben?
Ich wollte auch nach meinem Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit, der vielschichtig ist, mit vielen Zeitebenen, vielen Schleifen, eine lineare Geschichte erzählen – und auf der Kante zum Kitsch balancieren. Wir scheuen immer den Kitsch, und zur Not greifen wir zur Ironie und zum Sarkasmus, um einen doppelten Boden zu schaffen. Aber eigentlich ist das sehr spannend, wenn man etwas wagt, wenn man sich auf diese Kante begibt, weil man sich damit verletzlich macht, und in der Verletzlichkeit schöpft man das Große. Annas Ballettmeister, ihr Choreograf in meiner Novelle, sagt: Seid wie Gott, werdet Mensch. Macht euch verletzlich.
Bei Ihnen treffen nun die wohlsituierte Ballerina Anna mit ihrem maghrebinischen Hündchen und der kurdische Gärtner Gürkan in Zürich aufeinander.
Ich wollte wie bei Tschechow diese Verwandlung der Beziehung von einer Affäre zu einer großen Leidenschaft, die beide transfiguriert. Aber ich habe die Rollen getauscht. Nicht mehr der Mann ist der Verführer, sondern Anna. Ich habe ihr mit Gürkan eine Figur an die Seite gestellt, die eigentlich den ersten Schritt machen müsste – so ist seine Prägung.
Am Anfang schätzt sie ihn nicht, aber sie geht diese Beziehung ein, weil sie sich auch fragt: Wenn sie schon alle Liebesgeschichten auf der Bühne gespielt hat, was bleibt noch für ihr Leben? Und was kann sie aus dem Leben auf die Bühne bringen, um eine bessere Künstlerin zu werden? Und da nützt sie ihn aus, bis sie sich vielleicht doch in ihn verliebt. Dieses Wechselspiel zwischen Berechnung und tatsächlicher Neigung, tatsächlicher Liebe finde ich interessant für die Kunst.
Ihre literarische Hommage an Tschechow ist zugleich ein Porträt der Stadt Zürich, wo Sie selbst leben. Wo wir über Anziehung sprechen – was macht die Anziehungskraft dieses Orts für Sie aus?
Für diese Geschichte habe ich Zürich gebraucht, weil es die passende Kulisse bietet für eine Liebesbeziehung. Das richtige Verhältnis von Nähe und Weite. Die Figuren können sich leicht begegnen und ihr Auge auf Schönes richten. Es gibt diesenAusblick ins ganz Große, von der Brücke über den See auf die Berge. Eine Liebesgeschichte in Bukarest, Moskau oder in Peking hätte sich ganz anders geschrieben. Zürich lässt die Figuren in Ruhe.
Wie meinen Sie das?
Ich hatte ein spannendes Gespräch mit der österreichischen Therapeutin Andrea Kager. Sie sagt, wenn der Krieg ausbleibt, das Bedrohliche, der Hunger, hat man Zeit für die Neurosen. Ich würde sagen: Man hat Zeit für die Introspektion. Zürich ist eine Stadt auf Menschenmaß. Das ist eigentlich das, was man zum Glück braucht: eine Architektur auf Menschenmaß. Dagegen wirkt diese Zuckerbäckerarchitektur der Kommunisten so erdrückend oder auch die faschistische Architektur, die den Menschen klein halten will.
Ihr Mann, Perikles Monioudis, mit dem Sie hier in Zürich leben, ist ebenfalls Schriftsteller. Was hat Sie vor allem aneinander angezogen?
Die Beziehung ist ein fortwährendes Gespräch, in dem wir einander immer wieder überraschen. Es ist wie ein Fluss. Das Wasser glitzert immer, wenn es über Ecken und Steinchen fließt. Es wird tiefer und flacher, aber es bleibt im Fluss. Das zieht mich mit. Das ist die Attraktion. Wir sind so selbstvergessen im Gespräch.
Wie war es für Sie, das literarische Werk Ihres Mannes kennenzulernen?
Da war ich vorsichtig. Obwohl ich die Beziehung selbst ohne jede Vorsicht eingegangen bin. Ausschnitte habe ich sehr genossen, aber ich habe mich gefragt, ob ich das große Ganze, ob ich ihn als Geschichtenerzähler schätze, über den unterhaltsamen Erzähler im Café und auf Spaziergängen hinaus.
Er hat mir das Manuskript seines Romans Land mitgegeben, als ich einmal allein mit einer Freundin im Donaudelta Ferien machte, und da habe ich lange gezögert, ob ich es lesen möchte. Ich hatte Angst, dass es mir nicht gefallen und ich dann von meiner Wertschätzung etwas verlieren könnte. Und dann habe ich es gelesen und war so begeistert! Und ich war begeistert, dass es von ihm ist, der mir auch so gefällt.
Sein Humor ist in der Literatur sehr fein, im Leben ist er eher kindlich ungehalten. Das hat mir große Freude bereitet. Umgekehrt habe ich ihm in Athen auf dem Syntagmaplatz eines Nachts unter dem Sternenhimmel Gedichte rezitiert, die ich geschrieben hatte. Und er hat mich umarmt und gesagt: Leg sie weg, schreib keine Gedichte mehr.
Sind Sie immer so direkt in Ihrer Kritik miteinander?
Das habe ich nicht persönlich genommen. Das kann ich bei ihm und er bei mir, denn es ist ein geschützter Raum. Wir kritisieren das Objekt. Der Text ist außerhalb von uns. Viel wichtiger ist das Gespräch, wie wir darüber reden. Das ist das Eigentliche. Er ist mir der intimste Leser. Wir haben einen sehr ähnlichen Geschmack. Deswegen passt es auch so gut mit unserem gemeinsamen Küchenverlag, dem Telegramme-Verlag. Da lesen wir zusammen Manuskripte und entscheiden. Wir sind uns sofort einig.
Wie wichtig ist Ihr kreativer Austausch für die gegenseitige Anziehung?
Er erhebt uns aus dem Alltagstrott. Es hilft uns, einander auch über Irritationen des Alltags hinweg ernst zu nehmen. Also zu merken: In dem anderen Menschen wohnen Welten. Wenn er den Müll nicht rausgetragen hat oder wenn er findet, dass ich nicht richtig geputzt habe – das sind völlig blödsinnige, kleine Konflikte im Alltag. Wenn wir dann aber rausgehen – wir sind beide begeisterte Spaziergänger –, dann finden wir uns wieder. Mein Mann hat ein Buch über den Schriftsteller Robert Walser geschrieben, mit einem Motto, das mich seitdem begleitet: „Was nützt dem Künstler das Talent, wenn ihm die Liebe fehlt?“
Auch die US-Amerikanerin Siri Hustvedt war mit einem Schriftsteller verheiratet, dem im April verstorbenen Paul Auster. In einem Essay schreibt sie davon, die Anziehung bleibe, weil es etwas an ihm gebe, das sie nicht erreichen könne. Kennen Sie dieses Gefühl, Ihrem Mann über sein Werk immer neu zu begegnen?
Bei uns gibt es eine ganz andere Ausgangslage. Ich habe immer strikt getrennt zwischen Autor und Werk. Und ich lese sehr egoistisch. Das Buch gehört mir, wenn ich es lese. Ich mache den Text. Es sind die Spiegelungen meiner selbst. Bei seinem Buch Der tiefblaue Traum habe ich sein Manuskript gelesen. Da gab es einen Satz und plötzlich habe ich gedacht: Der ist so gut, ich wünschte, der wäre von mir gewesen. Es war eine kollegiale Eifersucht: Freude beim Lesen und gleichzeitige Irritation.
Die Lebensgefährtin des US-amerikanischen Autors Jonathan Franzen, Kathryn Chetkovich, die ebenfalls Schriftstellerin ist, hat einen langen Essay über den Neid in ihrer Beziehung geschrieben. Welche Rolle spielt er in Ihrer Partnerschaft?
Neid kann ich mir in der Beziehung mit meinem Mann nicht vorstellen, weil ich seine Erfolge wie meine erlebe, und umgekehrt ist es auch so. Wir sind zum Beispiel beide auf Facebook, er postet meine Sachen, ich seine. Wir loben uns gegenseitig, das ist natürlich auch sehr günstig, dann lobt man sich nicht mehr selbst [lacht]. Und wir durchschauen auch die Mechanismen des Marktes. Als ich angefangen habe zu schreiben, war ich die Frau des Schriftstellers, die auch schreibt.
Darunter hat offenbar auch Hustvedt länger gelitten.
Ich habe aber nicht darunter gelitten. Bevor wir Kinder hatten, bin ich zu allen seinen Lesungen mitgekommen, und ich kannte die Passagen auswendig. Und wenn keine Fragen aus dem Publikum kamen, dann habe ich sie gestellt. Ich war der Freund aus dem Publikum [lacht]. Inzwischen habe ich mehr Einladungen als er. Perikles ist eine völlig neidlose Person. Das ist spannend und erfrischend für mich, weil ich aus einer Neidgesellschaft komme. In den postkommunistischen Ländern ist man aufgewachsen mit dieser Prägung: Wir sind alle gleich, also schaue ich, dass sich bloß niemand höher streckt als ich. Ich kann Neid sofort spüren, habe ein feines Sensorium dafür.
Wenn nicht Neid, was empfinden Sie in Ihrer Beziehung als Herausforderung?
Die Herausforderung besteht darin, dass wir beide zu Hause sind und ganz unterschiedliche Temperamente haben. Ich genieße es sehr, mit ihm zusammen zu sein, aber er lenkt mich ständig ab. Mein Mann kann von Thema zu Thema springen. Und er wirft mich aus dem heraus, was ich gerade mache.
Er kann aber sofort wieder ganz tief in seine Arbeit eintauchen. Parallel zum Schreiben seines neuen Romans, der jetzt herauskommt, hat er auch promoviert: über das Funken, in empirischer Kulturwissenschaft an der Universität Zürich. Er ist Hobbytelegrafist. Und auch das macht er ständig. Er steht auf, telegrafiert ein bisschen, erreicht eine entlegene Insel im Südpazifik, dann kommt er zurück und fragt mich, was wir heute kochen.
Und dann schreibt er gleich weiter?
Das ist sein Naturell. Er wirkt quirlig, kann sich aber ganz gut sofort in etwas vertiefen. Und ich brauche eine Zeit, bis ich mich eingelesen habe. Wenn ich unterbrochen werde, bin ich irritiert. Die Kinder unterbrechen uns zur Genüge. Aber er unterbricht mich auch oft und ich werde ungehalten. Und deswegen gehe ich dann in die Bibliothek oder ins Zürcher Sozialarchiv und suche mir einen ruhigen Ort.
Wie hat Ihre gemeinsame Geschichte eigentlich begonnen?
Das war bei einer Lesung von ihm, im Jahr 2006. Er hat zu dieser Zeit im Literarischen Colloqium Berlin am Wannsee gewohnt. Ich hatte dort gerade ein Praktikum angetreten. Kaum war ich da, ging ich zu dieser Lesung, und danach haben wir uns unterhalten. Am nächsten Tag habe ich ihn dort in der Küche getroffen und er hat mich eingeladen, mit ihm eine Bootsfahrt auf dem Wannsee zu machen. Es war, glaube ich, morgens oder Mittag. Und dann haben wir auf die Boote gewartet und irgendwann war es Nacht. Die Boote waren in der Zwischenzeit zigmal angekommen und wieder abgefahren. Und wir waren immer noch am Ufer im Gespräch. Von jenem Tag an sind wir zusammen.
Psychologie und Literatur
In unserer Serie sprachen zuletzt:
Eva Menasse über die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (Heft 5/2024)
Steffen Kopetzky über Kunst und Bodenhaftung (Heft 1/2024)
Charles Lewinsky über das Grundbedürfnis, kein Niemand zu sein (Heft 5/2023)
Milena Michiko Flaar über das beredte Innenleben stiller Menschen (Heft 1/2023)
…und viele mehr. Sie finden diese Interviews auf unserer Website (PH+): psychologie-heute.de
Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, wo sie Germanistik und Niederlandistik studierte. Heute lebt die schweizerisch-rumänische Autorin von Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern mit ihrem Mann Perikles Monioudis und ihren Kindern in Zürich. Für einen Auszug aus ihrem Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit gewann sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 den 3sat-Preis. Ihr Roman Die nicht sterben wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2022 erhielt sie dafür den Schweizer Literaturpreis. Zuletzt erschien Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen.