Ich bin in Kapfenberg aufgewachsen, einer kleinen Industriestadt in der Steiermark. Während meiner Kindheit hat meine Mutter manchmal aus heiterem Himmel gesagt: „Du siehst deiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.“ Sie war nach Auskunft meiner Mutter 1943 in einer deutschen Psychiatrieklinik „gestorben“. Viel mehr erfuhr ich von ihr nicht.
In meinem ersten Assistenzjahr in der Psychiatrie in Solothurn – ich war zu Beginn meiner psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildung in die…
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in Solothurn – ich war zu Beginn meiner psychiatrischen und psychotherapeutischen Ausbildung in die Schweiz gezogen – hat mir eine deutsche Kollegin einmal von der Euthanasie-Gedenkstätte in Hadamar erzählt. Hadamar liegt in Hessen und beherbergt ein psychiatrisches Großkrankenhaus. Es war der Ort, an dem meine Großmutter ihr Leben beendete.
Nach diesem Gespräch wurde ich mit einem Mal von einem Eifer erfasst, zu ergründen, ob sich über ihren Tod mehr in Erfahrung bringen ließ. Damit begannen meine Recherchen – und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie in der deutschen NS-Zeit, mit der „Vernichtung“ von psychisch Kranken, geistig Behinderten oder Menschen mit niedriger Intelligenz, die von dem Regime als „unwertes Leben“ oder als „Ballastexistenzen“ bezeichnet wurden.
Von Ablehnung zur Einverständnis
Bertha Johanna Schulz, meine Großmutter, war nach den Worten meiner Mutter aus einem Versehen heraus in der Psychiatrie gelandet, die sie dann nicht mehr verlassen habe. Sie sei nicht „verrückt“ gewesen.
Mehr war damals von Mutter nicht zu erfahren gewesen, selbst wenn ich gelegentlich fragte, wie denn meine Oma aus Deutschland gewesen sei, wie sie wirklich ausgesehen hatte, war nicht viel in Erfahrung zu bringen und ich merkte schnell, hier war genug gefragt, die Haltung meiner Mutter schlug in eine diskrete Ablehnung um. Damals konnte ich mir keinen Reim darauf machen und mied über die Jahre unbewusst das Thema, ich wollte Mutter nicht verärgern.
Als ich schließlich als erwachsene Frau von meiner Absicht erzählte, zu Großmutters Verbleib Nachforschungen zu beginnen, gab Mutter erst nach einigen Wochen ihr Einverständnis und entschloss sich letztendlich sogar dazu, mich auf der Reise zu den vier psychiatrischen Kliniken zu begleiten, in denen jene Bertha Johanna Schulz nach den ersten telefonischen Auskünften einer Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar nacheinander untergebracht gewesen war.
"Minderwertiges Leben"
Während der Jahre des nationalsozialistischen Terrors waren Schizophrene, Alkoholiker, Epileptiker und sogenannte Asoziale als „minderwertiges Leben“ abqualifiziert worden, und bereits lange vor dem Krieg hatten Schüler Rechenbeispiele zu lösen, wie viele Monate ein deutscher Haushalt heizen könnte mit dem Geld, das für einen Klinikplatz eines „Geisteskranken“ in einem Monat ausgegeben würde. Es kann gut sein, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, dass Mutter mit solchen Schulaufgaben konfrontiert worden war. Die Hetze und die Vorbereitung für die „Beseitigung“ dieser Menschen schlichen sich leise und wie Gift in die Gesellschaft ein, das begann ich mit jeder historischen Lektüre mehr zu begreifen.
Während der zahlreichen Gespräche, in denen mir meine Mutter von ihrer Kindheit und Jugend erzählte, kamen immer deutlicher diffuse Schuldgefühle ihrer Mutter, also meiner Großmutter gegenüber an die Oberfläche, die ich damals nicht verstand. Meine Mutter war nach dem Krieg aus Deutschland zu ihrem aus der englischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Mann nach Österreich gezogen, um dort in der Steiermark ein neues Leben zu beginnen, wie sie zunächst meinte, weit weg von den Erfahrungen der Kriegszeit.
Doch die Erinnerung ließ sich nicht abschütteln. Mutter sagte, sie habe sich in all den Jahren immer wieder die Frage gestellt, ob sie und ihr Vater damals in Deutschland nicht mehr hätten unternehmen können, um Großmutter aus der Psychiatrie freizubekommen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass dieses Schuldempfinden, etwas unterlassen zu haben, sich tief im Gefühlshaushalt meiner Mutter eingegraben hatte und dort seit Jahrzehnten vorhanden war.


Schnösel im Fackelzug
Mit der Zwangseinlieferung ihrer Mutter in eine geschlossene Psychiatrie hatte sich der Alltag der damals Vierzehnjährigen radikal verändert. Was mich an Mutters Erzählungen erstaunte, war, dass sie sich zunächst kaum an die Verrücktheiten ihrer Mutter erinnern konnte, es war, als ob sie sich als Mädchen nicht eingestehen konnte, eine psychisch auffällige Mutter zu haben.
Doch als wir dann über viele Stunden hinweg gemeinsam im Auto saßen und uns langsam zuerst dem Geburtsort meiner Mutter und dann den Kliniken näherten, tauchten mit einem Mal Situationen aus ihrer Kindheit auf, an die sie sich seit langem nicht mehr erinnert hatte: Da stand ihre Mutter verloren im Schlafzimmer, in dem sie sich tagelang bei verschlossenen Fensterläden eingesperrt hatte, und berichtete von Gestalten, die sie bedroht und verfolgt hätten. Diese Zustände besserten sich zwar stets wieder, seien aber über die Jahre in veränderter Art immer wiedergekommen.
Es spricht einiges dafür, dass sich Großmutters Wahnvorstellungen über längere Zeit ausgebildet hatten, möglicherweise als visuelle Halluzinationen. Sie hatte mehrfach neue Brillengläser gefordert, damit sie die Schatten, die sie wahrzunehmen glaubte, besser sehen könne. Diese Wahrnehmungen – verknüpft mit einer politischen und gesellschaftlichen Alltagsrealität unter dem immer beengender werdenden Regime des „Dritten Reiches“, das bereits an die Türen der Privatwohnungen klopfte – ergaben ein Gemisch, aus dem sich ein Wahn herauszukristallisieren begann.
Das Ehepaar Schulz wohnte mit ihrer einzigen Tochter in einem Mehrfamilienhaus, das Platz für drei Parteien bot, in einer funktionierenden Gemeinschaft, die sich den Garten für den Gemüsebau teilte. Die Kinder tollten im Hof herum, die Eltern und Alten saßen abends zusammen und tauschten sich über den Verlauf des Tages aus. Das alles ging so lange gut, bis zu Beginn der dreißiger Jahre ein Cousin meiner Mutter bei einem Fackelzug der Nazis mitmachte, die politische Parolen skandierend durchs Dorf zogen.
Großvater stauchte den noch nicht volljährigen Schnösel zusammen, er solle doch gefälligst von der Straße wieder in den Garten kommen, er habe doch bei diesen Rabauken nichts verloren. Der Cousin sollte einige Jahre später Karriere bei der NSDAP machen, zu diesem Zeitpunkt würde Großmutter jedoch bereits tot sein.
Verzweifelte Befreiungsversuche
Wir erreichten Hadamar, zwei Tage nachdem wir uns das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg angesehen hatten, dessen Besichtigung für mich ebenso einen Teil der Recherchen über die damalige Zeit darstellte. Zwei Wochen zuvor hatte mir die zuständige Mitarbeiterin der Gedenkstätte am Telefon berichtet, man sei in den Archiven fündig geworden und habe einen Teil der Akten über Bertha Johanna Schulz entdeckt, die bruchstückhaft über die letzten Jahre hinter Anstaltsmauern Auskunft geben könnten.
Es war ein Moment der Erwartung und der gespannten Stille, als endlich der braune Kartoneinband von Großmutters Krankenakte vor uns auf dem Pult in der Gedenkstätte Hadamar lag. Mein Blick fiel als Erstes auf das eingeklebte Porträtfoto, das sie bei ihrem Eintritt in die psychiatrische Klinik Niederrad in Frankfurt am Main zeigt. Ich betrachtete es gebannt und ich sah unsere Verwandtschaft in den Augen, der Nase, der Stirn. Es war das erste Mal, dass ich mir „ein Bild“ von der Person machen konnte, die wie ein Phantom durch meine Kindheit gegeistert war, weil in unserem Familienalbum keine Aufnahmen von ihr enthalten waren.
Als wir weiterblätterten, fand sich ein Polizeibericht über den Beginn ihrer Odyssee durch vier psychiatrische Kliniken. Außerdem waren da zahlreiche Briefe, die teils vom Großvater, teils von meiner Mutter selbst verfasst worden waren. Mutter las aufmerksam in den Briefen, und mehr und mehr zeigte ihr Gesicht Erleichterung. „Wir haben ja damals doch verzweifelt versucht, sie herauszuholen.“ Dann suchten wir beide in den mit Schreibmaschine und Handschrift gefüllten Seiten weiter nach mehr Details zum Leben und Sterben der Bertha Johanna Schulz.
Das Umstellformat
Auszug aus den Polizeiakten des Dauerdienstes der Stadtpolizeistelle Frankfurt am Main, 28.8.1935: Frau Schulz erschien bereits in den frühen Morgenstunden beim Dauerdienst des Polizeipräsidiums und erklärte, dass sie zum vereinbarten Termin erschienen sei. Sie redete in unverständlicher Weise. Auf die Aufforderung, das Amtszimmer zu verlassen, wurde sie sehr aufgeregt und frech. Es war zunächst beabsichtigt, sie mit ihrem Anliegen der Kriminalwache zu übersenden, schließlich musste sie durch drei Beamte in die Zelle gebracht werden, da sie um sich schlug und auf wiederholte Aufforderung nicht gehen wollte.
Sie selbst gab zu den anzuzeigenden Vorkommnissen an, dass sie vor einem Vierteljahr ein Jugendfreund aufgesucht habe, er sei vor ihrem Bett gestanden und habe zu ihr gesagt, dass er Blut von ihr haben müsse, auch wenn sie ihn nicht sehen könne, er habe schon damals in Essen, als sie ein Verhältnis mit ihm gehabt habe, die Teufelsunterschrift geleistet, und nur sie könne ihn erlösen aus dem Umstellformat. Dann erzählte Frau Schulz, sie sei von Mumen umkreist worden und plötzlich habe sie gewusst, dass ihr Jugendfreund, aber auch ihr Schwager am Polizeipräsidium festgehalten würden, um ebenfalls dem Umstellformat zu dienen, und sie sei hier, um diese beiden freizubekommen. Alle Richter und Polizeibeamten seien mit dem Umstellformat verbunden, man habe den Schwager schließlich freigelassen, nur sie habe man dortbehalten, um sie in die Nervenklinik einzuweisen. Dort habe sich eine Schulfreundin von ihr als Ärztin ausgegeben, die von der Gesellschaft beauftragt worden sei, sie für geisteskrank zu erklären, außerdem seien die zwei Ärzte, die sie anschließend behandelt hätten, Cousins von ihr, von diesen habe sie erfahren, dass ihr Mann bald sterben müsse, er würde sie so oder so nicht mehr zurückbekommen, dafür würden sie schon sorgen. […] Durch Augenhypnose habe das Umstellformat zuerst sie und dann die anderen, die sich als Ärzte und Schwestern ausgaben, in die Gewalt genommen.
Frau Schulz begann, wild zu gestikulieren, und sie behauptete, sie habe ein Ferngespräch, das Umstellformat sage, ihr Mann könne sie vergessen, sie würde hier nicht mehr herauskommen. Bei der ganzen Unterhaltung ist Frau Schulz heiter und sehr gesprächig, wird nur wieder garstig, als man sie mehrmals bittet, das Amtszimmer ohne weiteres Aufheben zu verlassen.
Die Vorführung der Frau Schulz am städtischen Gesundheitsamt, amtsärztliche Abteilung, erfolgte zwecks Untersuchung des Geisteszustandes. Erklärt Amtsarzt sie für gemeingefährlich geisteskrank, ist sie nach Einholung entsprechender telefonischer Vorsprache bei Abteilung 5B unmittelbar in die Anstalt zu bringen, auch die etwaige Entlassung hat nur nach Rücksprache zu erfolgen.
Todesursache, die keiner glaubte
Zum Zeitpunkt dieses Geschehens auf der Hauptwache der Polizei in Frankfurt ist Bertha Johanna Schulz 39 Jahre alt und hat ihrem Mann und ihrer halbwüchsigen Tochter, die in Bergen, einem Vorort von Frankfurt auf sie warten, nichts von ihrem Vorhaben erzählt. Nach ihrer Zwangseinweisung werden ihr Ehemann Peter Schulz und ihre Tochter Sofie versuchen, sie nach Hause zu holen, was ihnen jedoch nicht gelingen wird. Der Zweite Weltkrieg bricht aus und erschwert durch die Bombardements der Alliierten weitere Freisetzungsversuche und zuletzt sogar die Besuche in den Kliniken, deren Entfernung vom Heimatort mit jeder Verlegung der Patientin wächst.
Damals, so sagte mir Mutter eines Tages, als ich ungefähr fünfzehn war und sie meinte, mir diese Information zumuten zu können, seien viele Menschen in den Kliniken gestorben und man habe gemunkelt, es sei so gewollt. Das Herzversagen, das in dem Brief als Todesursache von Großmutter festgehalten worden sei, hätten jedenfalls weder ihr Vater noch sie selbst geglaubt. Zur Beerdigung hätten sie nicht fahren können, die Zustände in Frankfurt und im Umland seien durch die Zerstörungen katastrophal gewesen und man habe sehen müssen, selbst lebend durch den Tag zu kommen.
Während sie mit den Leuten aus den anderen Wohnungen in den Keller geflüchtet sei, habe der Vater auf dem Dach die Brandbomben eingesammelt, unerschrocken, nachdem er das Grauen des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben bei Verdun in Frankreich mit einem Rückendurchschuss überlebt hatte.
Damals hatten sie nicht mehr auf dem Dorf gelebt, sondern in einer Vorstadt Frankfurts in der Nähe einer Farbenfabrik. Mutter war inzwischen als junge Frau im Arbeitsdienst beschäftigt und musste in der Telefonzentrale den Fliegeralarm auslösen. In diesen Momenten war sie es, die nicht mit den anderen in den Bunker fliehen konnte, sie musste die Stellung halten. Sie verkroch sich unter einen Schreibtisch und harrte dort aus, bis der Luftangriff vorbei war. Der Wehrmachtssoldat, der ihr am Telefon mitteilte, dass sie die Sirene auslösen sollte, wurde wenige Monate später ihr Mann, eine Kriegsheirat in Uniform, bevor er weiter an die Ostfront abberufen wurde.
Die ohnmächtige Wut in mir
Ich habe nach vielen Jahren wieder die Porträtaufnahme meiner Großmutter vor mir, und allein das Betrachten des Anstaltshemdes, der fettigen Haare, der Nummer unter dem Porträt, lässt ohnmächtige Wut in mir hochkommen. Sichtbar der Zwang, sich unterzuordnen, beraubt der Individualität, der persönlichen Kleidung, in ein Krankenhemd gesteckt. Mit einer Nummer versehen, wird das Porträt in die Reihe der zahllosen anderen Patientenporträts eingefügt.
Doch das Lächeln, das leicht die Mundwinkel dieser Frau umspielt, ist rätselhaft, es liegt etwas Allwissendes darin, mit ihren klaren Augen zieht sie den Betrachter in ihren Bann. Ahnt sie, was auf sie zukommen wird? Fühlt sie sich in ihrem Wahn, in dessen wasserdichtem Erklärungsgefüge sie auch einen Schutz um sich aufgebaut hat, den anderen überlegen, weil sie über Informationen vom Umstellformat verfügt?
Sie wirkt auf eine Art entrückt, das linke Auge sieht etwas milde und spöttisch auf den Betrachter, während das rechte, eingebettet in die dunkle, der Beleuchtung abgewandte Gesichtshälfte, mit stechend heller Pupille aus einer Tiefe das Gegenüber zu durchbohren trachtet, das sich unweigerlich ertappt fühlen muss, sich eines Voyeurismus schuldig zu machen.
Gleichzeitig scheint sich der Blick nach innen zu richten, in einen Abgrund, zu dem niemand anders Zutritt hat. Was, wenn der Abgrund, gefühlt für Bertha Johanna Schulz, ein klarer grüner Bergsee war, dessen Bewusstseinstiefe ihr Ruhe vermittelt hat? Sind es nicht wir, die urteilen und uns überlegen fühlen, weil wir uns psychisch gesund wähnen? Aus dem Text der Polizeiakte spricht für mich die Tragik der Erkenntnis, wenn sie das Umstellformat mit der Aussage zitiert, sie werde ohnehin der Psychiatrie nicht mehr entkommen, und zugleich wird in der Szene vom rapportierenden Beamten ihre aufgeräumte Heiterkeit geschildert, die wohl am besten durch das Wort „verrückt“ beschrieben werden kann.
Begleitende Schatten
Wenn ich versuche, den Auszug aus den Polizeiakten zu interpretieren, so tut sich dort ein System von Verschwörung auf, in dem sich die Verwandtschaft, aber auch der Kreis der Freundinnen und Mitschülerinnen verstrickt zu haben scheint. Es schwebt ein Hauch von nachvollziehbarer Logik über dem Ganzen, vor allem wenn man an das Machtsystem des Nazismus denkt, an Mitläufer- und Denunziantentum, das das Regime an die Macht gebracht und dort gehalten hat.
Letztendlich ist die unbewusste Wahl des Begriffes „Umstellformat“, den man in keinem Lexikon findet, ein Neologismus, eine Wortneubildung, wie sie manchmal von schizophreniekranken Menschen erfunden wird, äußerst passend, und ich staune über Großmutters Intuition und Klarheit, mit der sie diesen unterbewusst gewählt hat. Zeit-ebenen schieben sich ineinander, beginnend mit der Vergangenheit, wenn es um ihren Jugendfreund geht, der Gegenwart, wenn sie im Hier und Jetzt diesen und ihren Schwager befreien möchte; das aktuelle Ferngespräch mit dem Umstellformat weist in die Zukunft, in der sie die Klinik nicht mehr verlassen würde. Es scheint, als ob die Zeit ein begehbares Tableau wäre, eine Fläche, auf der sich Vergangenes mit dem Jetzt und der Zukunft mischt und so eine Gleichzeitigkeit ermöglichen würde.
Es gab eine Zeit während meiner intensiven Beschäftigung mit Großmutters Schicksal, in der ich Angst hatte, selbst an einer Schizophrenie zu erkranken. Aus der Theorie der psychiatrischen Erkrankungen wusste ich um das statistische Risiko, als Nachfahrin einer Schizophreniekranken selbst psychotisch zu werden, vor allem wenn es Auslöser in Form von Lebensbelastungen gibt, wie es bei mir zu dieser Zeit der Fall war. Gerade hatte ich mich unter ärgsten seelischen Schmerzen von meiner großen Liebe getrennt, die Arbeitsüberlastung als Assistenzärztin in der Psychiatrie mit zahlreichen schlaflosen Nachtdiensten hatte mich in eine Erschöpfung getrieben, die Facharztprüfung stand bevor und ich sollte zudem eine Abschlussarbeit zu meiner psychotherapeutischen Ausbildung abliefern.
In diesen Phasen der Übermüdung und psychischen und physischen Überforderung begannen mich Schatten zu begleiten, die irgendwo im äußeren Blickfeld auftauchten, doch wenn ich mich umblickte, war nichts zu sehen. Etwas Unheimliches und buchstäblich Unfassbares war schleichend in mein Leben getreten. Hilfesuchend begann ich eine Selbsterfahrung in katathym-imaginativer Psychotherapie bei einer älteren psychiatrischen Kollegin, die mich in den nächsten Jahren mit fachlich und menschlich sicherer Hand begleiten sollte und mich vor den Abgründen der Selbstzerstörung bewahrte.
An die Öffentlichkeit
Vor der definitiven Veröffentlichung des Buches Das Umstellformat gab es für mich einige Bedenken zu überwinden. Eine schizophreniekranke Großmutter zu haben und das vor den Kolleginnen und Kollegen zu erzählen und mich durch die Publikation öffentlich dazu zu bekennen fiel mir zunächst schwer. Die drohende Stigmatisierung, Nachfahrin einer „Verrückten“ zu sein und vielleicht selbst eines Tages „durchzudrehen“, nicht so belastbar zu sein wie meine Kollegen oder sogar zu verständnisvoll den Patienten gegenüber, verunsicherte mich.
Das Umstellformat erschien im Jahr 2002 und es war für Mutter zunächst ein freudiges Ereignis, als sie die positiven Rezensionen in den Zeitungen studierte. Kurz vor einer Lesung im Frankfurter Römer rief sie mich an und meinte, dieser Auftritt sei eine Rehabilitation für ihre geliebte Mutter. Doch in den Monaten danach wurde Mutter immer wieder von dem Gedanken geplagt, man hätte das alles doch lieber nicht ans Tageslicht bringen sollen. Das Schweigen gebrochen zu haben konnte nicht ungestraft bleiben und Mutter wurde vom Gefühl heimgesucht, sich eines Verrates schuldig gemacht zu haben. Mich verunsicherte ihre Reaktion und ich begann, mit meiner eigenen Entschlossenheit, Großmutters Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen, zu hadern.
Der lange Arm der Vollstrecker eines menschenverachtenden Regimes, denen sie sich fast siebzig Jahre zuvor selbst ausgeliefert hatte, reichte bis in die Gegenwart, er hatte die Mär von den „unwerten Leben“ tief in die Seele meiner Mutter geimpft. Als ich Jahre später die Idee verfolgte, einen Stolperstein auf dem Gehsteig vor Großmutters letztem Wohnort verlegen zu lassen, wollte meine Mutter nichts davon wissen, das Thema war ihr unangenehm, und sie fragte mich, wozu das denn gut sein solle nach so vielen Jahren. Es war, als ob mit diesem sichtbaren Zeichen im Asphalt erst recht die psychisch kranke Mutter einer Öffentlichkeit preisgegeben würde, vor der man sie über Jahrzehnte durch Schweigen versteckt hatte.
Der kaputte Ring
Acht Jahre nach der Publikation des Buches besuchte ich den jährlichen Psychiatriekongress in Berlin, der diesmal im Zeichen der Krankenmorde in den Psychiatrien der NS-Zeit stand, und verfasste darüber an Mutters Sterbebett einen Artikel, der in einer österreichischen Zeitung abgedruckt wurde. Den Text habe ich ihr in ihren letzten Lebenswochen vorgelesen. Und da sagte Mutter, ich habe ihrer Mutter mit dem Buch einen Platz im Leben verschafft, den sie sonst nicht mehr gehabt hätte, wofür sie mir zutiefst dankbar sei. Erst nun, am Ende ihres Lebens, schien das Thema versöhnlich und im Guten abgeschlossen.
„Du siehst ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich“, dieser Satz hat die Bindung zu meiner mir letztendlich unbekannten Großmutter vertieft. Sie starb zwei Jahrzehnte, bevor ich zur Welt kommen sollte, 1943, mitten im Krieg, ohne Verwandte und Freunde, die ihr das letzte Geleit gaben. Es ist nicht viel geblieben von ihren persönlichen Dingen, außer einem kaputten Ring, dessen grüner Stein aus der Fassung gesprungen und dessen goldene Rahmung gebrochen war. Inzwischen liegt er in meinem Schmuckkästchen verwahrt. Immer wieder hatte ich den Plan, ihn reparieren zu lassen, ihn wieder „heil“ werden zu lassen, doch irgendetwas ließ mich zögern, so als würde ich damit Bertha Johanna Schulz zu nahe treten, ihren Todesfrieden stören.
Es gibt tatsächlich eine Porträtaufnahme von mir, aufgenommen als Personalbild für die Wand der Abteilung4 in der Klinik Schützen, in der ich als leitende Ärztin tätig war, das mich, nachdem ich es zum ersten Mal gesehen hatte, an diesen ein wenig lächelnden und doch abwesenden Blick von Großmutter erinnerte. Die Fotografin hatte irgendetwas in meinem Gesicht festgehalten, das ich vorher darin noch nie entdeckt hatte und das mich beim Hinsehen an meine Angst erinnerte, die mich damals rund um die Recherchen und das Schreiben am Buch immer wieder streifte. Gerade gestern habe ich mich dazu entschlossen, den Ring einem befreundeten Goldschmied zu bringen. Grün ist seit Kindestagen meine Lieblingsfarbe.
DER ESSAY
In unserer Serie schrieben zuletzt:
Ilona Jerger über das Beobachten von Vögeln und wie es die Angst lindert: Der Vogelfuß und ich, Heft 2/2024
Theresa Pleitner über die übergriffige Seite der Wohltätigkeit: Über die Widersprüche des Helfens, Heft 10/2023
Karoline Klemke über ihre Lehrjahre im Studium und im Leben: Psychologie, meine Liebe, Heft 6/2023
Anna Felnhofer über die Demütigung, ausgeschlossen zu werden: Das Scherbengericht, Heft 2/2023
Fritz Breithaupt über die Endgültigkeit des Erzählten: Wer nicht handeln kann, muss fühlen, Heft 10/2022
…und viele mehr. Sie finden diese Essays auf unserer Website psychologie-heute.de
Eine imaginäre Begegnung
Ich stelle mir vor, wie ich mit ihr auf einer Parkbank im Klinikgarten sitzen würde, ich hätte mir ihre Reden angehört und immer von neuem erklären müssen, wer ich bin. Ich würde ihre Hand in die meine genommen haben, ihre kleinen dicken Finger, am Mittelfinger der rechten ein alter Ring, abgeschabt, der Stein längst aus der Fassung gesprungen, wir würden gemeinsam zum Café auf dem Gelände der Klinik gehen und ich würde ihr zusehen, wie sie mit Hast ein Stück Torte in sich hineinschlingt, mit aus beiden Mundwinkeln tropfendem Speichel, den ich ihr mit den Enden der umgebundenen Serviette, vorsichtig und gegen den Widerstand ihrer unentschlossen abwehrenden Hand, abwischen würde, eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie seit Jahren bekommen hätte. Sie hätte die hellblauen Augen starr auf das Essen gerichtet, nur manchmal würde sie sich in ihrem Sessel zurücklehnen, um kurz zu mir und dann zum Nebentisch zu sehen, mit leerem Blick, gehetzt, misstrauisch, um etwas von einem Umstellformat vor sich hin zu murmeln. Sie würde die Bissen noch lange nachkauen, bis der letzte Krümel verschluckt wäre, dann würde sie, ohne auf mich zu warten, in einer eckig abrupten Bewegung aufstehen und mit kleinen Schritten, vorgeneigt und steif, wieder in ihr Zimmer gehen, ganz mit sich selbst beschäftigt. Ich würde ihr nachlaufen, um mich von ihr zu verabschieden, während sie bereits wieder am Fenster Platz genommen hätte, das Strickzeug neben sich auf dem Nachtkästchen, und sie würde abwesend in den Garten blicken, ohne von mir richtig Notiz genommen zu haben. Oma, ich komme dann nächste Woche wieder.
Aus dem Buch Das Umstellformat von Melitta Breznik, Luchterhand 2002.
Melitta Breznik ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Schriftstellerin. Neben Das Umstellformat schrieb sie unter anderem die Romane Nordlicht und Der Sommer hat lange auf sich warten lassen sowie das Erinnerungsbuch Mutter. Chronik eines Abschieds über die Wochen, in denen sie ihre krebskranke Mutter pflegte und beim Sterben begleitete.