Wie funktioniert eine Odysseus-Verfügung?

Kann man eine zukünftige Zwangseinweisung für sich selbst planen? Matthé Scholten über eine moderne Verfügung, inspiriert von griechischer Mythologie

Herr Scholten, Sie sagen, dass man sich mit einer „Odysseus­verfügung“ selbst in einem psychiatrischen Krankenhaus unterbringen lassen könne, obwohl man es in dem Moment gar nicht möchte. Was ist das für eine Verfügung und wie soll sie funktionieren?

Bei der Odysseusverfügung handelt sich um eine spezielle Art der Patientenverfügung. Menschen mit einer psychischen Erkrankung können mit diesem Dokument im Vorhinein entscheiden, dass sie in bestimmten, zukünftigen Situationen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden wollen, selbst wenn sie es in dem Moment ablehnen.

Personen mit einer bipolaren Störung beispielsweise erleben in der manischen Phase oft ein übersteigertes Hochgefühl und neigen dazu, plötzlich sehr viel Geld auszugeben oder andere Dinge zu tun, die sie später bereuen. In diesem Wissen könnten sie eine Person ihres Vertrauens beauftragen, schon bei den ersten Anzeichen für das manische Verhalten eine Zwangseinweisung zu veranlassen. Zudem könnten sie auch festlegen, welche Art von Behandlung sie dann wünschen. In Deutschland gibt es diese Verfügungen noch nicht, in den Niederlanden aber schon. Forschende sind der Meinung, dass die Vorteile überwiegen, aber die Verfügung ist ethisch und rechtlich nicht unumstritten.

Welche Vorteile sehen Sie?

Unsere Studien zeigen: Ist die psychiatrische Patientenverfügung richtig aufgesetzt, kann sie viele Vorteile haben. Im Mittelpunkt steht die Person: ihr Wille, ihre Präferenzen. Es muss nicht bis zum Notfall gewartet werden und man kann so eventuellen Schäden, auch finanziellen, besser vorbeugen. Die Vertrauensperson ist diejenige, die die Zwangseinweisung anstößt, wenn sich das Verhalten des Betroffenen verändert, es also Frühwarnzeichen gibt.

Die Verfügung bezieht sich zudem stets auf eine bestimmte Psychiaterin und ist an diese Person gebunden. Sie kennt den Betroffenen und kann sofort sehen, welche Behandlungen die Person wünscht. Forschende denken, dass dies alles die Autonomie der Betroffenen erhöht, die therapeutische Allianz verbessert und das Vertrauen stärkt. Die Beteiligten sprechen während der Entstehung des Dokuments intensiv miteinander, was auch zur Entstigmatisierung beiträgt.

Was sind die Nachteile?

Eine solche Verfügung aufzusetzen ist ein längerer Prozess und eine große Herausforderung. Neben der betroffenen Person sind auch die behandelnde Psychiaterin oder der Psychiater sowie die erwähnte Vertrauensperson beteiligt. Es gibt Bedenken, dass die beteiligten Personen unterschiedliche Auffassungen haben, beispielsweise zur Auswahl der Medikamente, so dass es zu unangemessener Einflussnahme kommen könnte. Dieses Risiko kann minimiert werden durch Einbezug einer neutralen Person, die den Prozess der Erstellung moderiert.

Warum war Odysseus der Namensgeber dafür?

Der Sage nach kam Odysseus auf dem Heimweg nach Ithaka an der Insel der Sirenen vorbei. Er wusste, dass diese Wesen mit ihrem wunderschönen Gesang schon viele betört hatten, die ihnen gefolgt waren und nie zurückkehrten. Odysseus ersann daher eine List: Er ließ sich am Mast des Schiffes festbinden und trug seinen Gefährten auf, ihre Ohren mit Wachs zu verschließen. So gelang es Odysseus, den Gesang der Sirenen zu hören und dennoch sicher seine Heimfahrt fortzusetzen.

Matthé Scholten ist Philosoph und forscht an der Ruhr-Universität Bochum zu ethischen Fragen in der Psychiatrie.

Quellen

Matthé Scholten u.a.: Implementation of self-binding directives: recommendations based on expert consensus and input by stakeholders in three European countries. World Psychiatry, 2023. DOI: 10.1002/wps.21095

Matthé Scholten u.a.: Opportunities and challenges of self-binding directives: A comparison of empirical research with stakeholders in three European countries. European Psychiatry, 2023. DOI: 10.1192/j.eurpsy.2023.2421

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