„Schatz, wir haben heute Oper.“ „Oh, wirklich? Was wird denn gegeben?“ „Ich glaube La traviata.“ „Verdi geht immer.“ Umziehen. Passt das Hemd zum Sakko? Die Kette zum Kleid? Schlange am Parkhaus und an der Garderobe. Und dann ist doch noch Zeit für einen Sekt. Wer ist denn so da? Das Paar dahinten kennen wir doch, aber woher noch mal? Es gongt, wir müssen rein. Die Oboe gibt den Ton vor, die Instrumente werden gestimmt. Die Ouvertüre erklingt und lässt die Arien vorausahnen. Die Oper beginnt: ein Fest,…
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werden gestimmt. Die Ouvertüre erklingt und lässt die Arien vorausahnen. Die Oper beginnt: ein Fest, buntes Treiben. Plötzlich schießt die Stimme ins Herz – ah s, da un anno. Wie geht das? Plötzlich ist man mittendrin im dramma per musica! Ein Laserstrahl ins emotionale Stammhirn.
Die Oper als Ort umfasst die Stimme als Dreh- und Angelpunkt. Zugleich wird die Stimme durch das Werk, also die Oper, und die Besonderheit des Ortes, also das Opernhaus doppelt gerahmt. Alle drei Komponenten – Stimme, Werk und Ort – erzeugen zusammen einen kulturellen Teilchenbeschleuniger, der den Abstand von der Selbstvergessenheit im Alltag zur emotionalen Kernschmelze im Kunsterleben in kürzester Zeit überwindet. Immer wieder beschreiben Opernliebhaber und -liebhaberinnen, dass sie bereits vom ersten Ton der Diva in die höchste Intensität musikalischen Genießens stürzen. Wie ist das möglich? Kann die Psychoanalyse dieses Rätsel aufklären? Sie kann.
Die Wachstafel des Mutterleib
Dieser Ton der Diva sei „der Schrei des Engels“ (le cri de l’ange), wie der französische Psychoanalytiker Michel Poizat schrieb. Poizat analysiert den Genuss, der beim Liebhaber der Oper in der Stimme sein Zentrum findet. Hier nisten sich eine Erregung und eine Überflutung solcher Intensität ein, dass sie von keinem alltäglichen Sinnzusammenhang mehr einzuholen sind. Aber woher stammt diese Macht der Stimme, die den Sirenen des Odysseus’ gleicht und die das Genießen zu verführen weiß?
Man beginnt zu verstehen, wo diese Macht wurzelt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Mensch die Stimme zu einer Zeit kennenlernt, in der er vollkommen schutzlos ist. Im Mutterleib ist er den emotionalen Botschaften der Stimme ausgeliefert, ohne ihr etwas entgegensetzen zu können. Ein autonomes Ich mit einer Grenze, welche die Macht des Objekts mildert, entsteht erst im Verlauf des zweiten Lebensjahrs. Im Mutterleib schreibt sich die emotionale Botschaft ins Erleben ein wie in eine Wachstafel.
Wir sind gewohnt, uns die pränatale Zeit als ein Paradies vollständiger Versorgung vorzustellen. Der erste All-inclusive-Club sozusagen. Aber es ist auch ein Ort der Schutzlosigkeit, an dem der Fötus den Stress, die Gifte und die toxischen Seiten der Emotionalität abbekommt. Kristallisationspunkt des Erlebens ist dabei die Stimme der Mutter, die ab dem vierten Schwangerschaftsmonat differenziert wahrgenommen und abgespeichert wird.
Prestige, Größe, Transzendenz
So ist die Oper der Versuch, auf die gute Seite dieser archaischen Verschmelzung mit der Stimme zu kommen. Um mit solch explosiven Kräften umzugehen, benötigt der Kunstgenuss einen sicheren Rahmen. Wie die Psychoanalyse einen fest ritualisierten Rahmen etwa durch die strikte Taktung und feste Dauer der Sitzungen benötigt, um sich den seelischen Kräften anzunähern, so haben sich auch die Opernbesucherin und der Opernbesucher einen Rahmen geschaffen, der die Begegnung mit den Stimmen der Sirenen durch feste Ritualisierungen umgrenzt. So wie die menschliche Kulturentwicklung von 40000 Jahren mit einer Ritualisierung begann, bildet die Ritualisierung auch heute noch den Garanten für eine gelingende Begegnung mit den tiefsten psychischen Kräften.
Das schamanistische Ritual und die Oper kochen mit dem gleichen Wasser. Die Elemente sind Stimme/Gesang, Wiederholung und ein zum Alltag abgegrenzter Ort. So wie die schamanistischen Gesellschaften in abgegrenzten Räumen – der steinzeitlichen Bildhöhle – und mit spezifischer Bekleidung und besonderem Schmuck ihre Rituale abhielten, die die Gemeinschaft durch einen intensiven emotionalen Prozess aneinanderbanden, entsteht auch in der Oper eine eingeschworene Gemeinschaft.
Von der Bildhöhle über spirituelle Orte wie Stonehenge, die antiken Tempel und christlichen Kathedralen hin zum Opernhaus der bürgerlich aufgeklärten Gesellschaft: Stets schafft die Kultur Orte für ihre zentralen Rituale, die Prestige, Größe und Transzendenz ausstrahlen. In der heutigen, komplexer gewordenen Welt sind zu den religiösen und kulturellen noch weitere Ritualformate hinzugekommen, etwa das Fußballspiel. Aber der Sinn, die Gruppenbildung durch intensives gemeinsames emotionales Erleben, ist immer der gleiche.
All dieses muss zusammengedacht werden: Der grandiose Bau des Opernhauses und seine gerne marmornen Hallen bilden zusammen mit Kleidervorschriften und weiteren gesellschaftlichen Regeln den Rahmen für ein Geschehen, in dem eine sich selbst definierende gesellschaftliche Elite ihre Narrationen durchlebt und eine gemeinsame Matrix der emotionalen Erfahrung bildet. Das Opernhaus entpuppt sich, psychoanalytisch gesehen, als ein emotionaler Inkubator, in dem diese Individuen miteinander und mit den zentralen kulturellen Erzählungen verschweißt werden.
Sebastian Leikert arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Saarbrücken. Er ist Supervisor und Lehranalytiker sowie Buchautor, Redaktionsmitglied des International Journal of Psychoanalysis und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik.
Quellen
Sebastian Leikert: Schönheit und Konflikt. Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik. Psychosozial 2012
Sebastian Leikert: Schamanen der Leistungsgesellschaft. Psychoanalytische Bemerkungen zur Struktur des Fußballrituals. Psychoanalyse & Körper, 13/24, 2014, 33–46
Michel Poizat: L’Opéra ou le cri de l’ange. Essai sur la jouissance de l’amateur d’Opéra. Métailié 1986