Frau Mou Yanxi, Sie dokumentieren Menschenrechtsverletzungen in China und begegnen dabei täglich erschütternden Fällen. Welcher hat Sie besonders tief bewegt?
Tagtäglich höre ich von schrecklichen, tragischen und teils auch absurden Geschichten. Doch eine hat sich mir besonders eingeprägt: der Fall des „Tintenmädchens“ Dong Yaoqiong aus der Provinz Hunan. Die 28-Jährige filmte sich im Juli 2018 dabei, wie sie Tinte auf ein Porträt des Staatspräsidenten schüttete und dessen autoritäre Politik kritisierte. Das…
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sie Tinte auf ein Porträt des Staatspräsidenten schüttete und dessen autoritäre Politik kritisierte. Das Video verbreitete sich rasant – kurz darauf wurde sie in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen. Ihr Vater, der sich öffentlich für ihre Freilassung einsetzte, kam 2022 in Polizeigewahrsam ums Leben. Dong Yaoqiong selbst befindet sich bis heute in psychiatrischer Zwangsbehandlung.
Der Künstler Hua Yong, der sich für sie starkmachte, floh aus China, ertrank aber später unter ungeklärten Umständen in Kanada. Sein Tod führt mir täglich vor Augen, dass ich selbst hier im Exil in Großbritannien nicht völlig sicher bin – schließlich kann in China bereits das Sprechen über Menschenrechte als Straftat gewertet werden.
In Ihrem Bericht haben Sie sehr detaillierte Informationen über viele solcher Fälle gesammelt. Wie erheben Sie diese Daten?
Seit fast elf Jahren sammle ich monatlich Berichte über Menschenrechtsverletzungen für die Menschenrechtsorganisation Civil Rights and Livelihood Watch, darunter auch Fälle psychiatrischen Missbrauchs. Die meisten davon werden uns oder Bürgerjournalisten direkt von Betroffenen oder deren Angehörigen und Bekannten gemeldet. Auch die systematische Analyse von Onlineinhalten ist sehr wichtig. Obwohl Opfer nicht aus der Klinik berichten können, teilen sie nach ihrer Entlassung oft ihre Erfahrungen in sozialen Medien. Unsere Aktivisten besuchen die Menschen persönlich, um diese Berichte zu überprüfen.
Mittlerweile haben wir über hundert solcher Interviews dokumentiert. Diese Daten bildeten die Grundlage für den Bericht von Safeguard Defenders, der im November 2024 auf einem Psychiaterkongress in Berlin präsentiert wurde. Die dokumentierten Fälle sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs – die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher sein.
Weshalb greifen die chinesischen Behörden auf psychiatrische Einrichtungen zurück statt auf Gefängnisse?
Diese Praxis dient vor allem der vollständigen Isolation. Mit der Einweisung verlieren die Betroffenen sofort jede Möglichkeit, zu protestieren oder mit Medien zu sprechen. Die Stigmatisierung durch eine vermeintliche psychische Erkrankung untergräbt zudem ihre Glaubwürdigkeit bei möglichen Unterstützerinnen und Unterstützern.
Besonders perfide ist die zeitliche Ungewissheit. Anders als bei einer Gefängnisstrafe wissen die Opfer nicht, wie lange sie eingesperrt bleiben. Der wohl längste dokumentierte Fall ist der von Xing Shiku: Nach einer Beschwerde gegen Behörden 2007 eingewiesen, befindet er sich seitdem ohne Aussicht auf Entlassung in einer Klinik.
Werden dabei medizinische Gründe angeführt?
Zwar sieht das chinesische Gesetz seit 2012 eine psychiatrische Untersuchung vor der Einweisung vor. In der Praxis durchlaufen jedoch zwei Drittel der Betroffenen nie eine solche Begutachtung. Mehrere Zeugen berichten, dass die Polizei die Menschen selbst dann einweisen lässt, wenn Ärztinnen oder Ärzte ausdrücklich bestätigen, dass keine psychische Störung vorliegt und keinerlei Gefahr – weder für die Betroffenen selbst noch für andere – besteht.
Bekommt die Bevölkerung davon etwas mit?
Ja. Denn diese Praxis erzeugt eine lähmende Angst unter den Menschen. Wer damit rechnen muss, jederzeit ohne rechtliche Grundlage in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen zu werden, überlegt es sich zweimal, ob er oder sie Kritik äußert oder Beschwerden einreicht. Die Menschen üben Selbstzensur, meiden heikle Themen und passen ihr Verhalten an – aus Furcht, von der Kommunistischen Partei als „Störenfried“ gebrandmarkt zu werden.
Wie funktioniert dieses System? Werden dafür spezielle Kliniken genutzt oder reguläre Krankenhäuser?
Ursprünglich operierte das System über spezielle Ankang-Kliniken – wörtlich „Gesundheit und Wohlbefinden“. Diese wurden 1980 vom Ministerium für öffentliche Sicherheit offiziell für die Behandlung psychisch kranker Straftäter eingerichtet. Doch sie dienten schnell als Instrument zur Einweisung politischer Dissidenten und Aktivisten. In den 1990er Jahren weitete sich diese Praxis aus und erfasste immer größere Bevölkerungskreise. Heute werden Unerwünschte meist in reguläre psychiatrische Kliniken eingewiesen. Diese Verlagerung ermöglicht es, formale Rechtsverfahren zu umgehen.
Wie unsere Untersuchungen belegen, sind inzwischen mehr als 80 Prozent der Zwangseingewiesenen keine politischen Aktivisten oder Regimekritikerinnen, sondern Petentinnen und Petenten wie der erwähnte Xing Shiku, der seit 2007 eingesperrt ist. Hier handelt es sich um Menschen, die auf legalem Weg ihr Recht suchen, nachdem ihre Häuser abgerissen, ihr Land enteignet oder sie Opfer von Polizeigewalt wurden. Sie nutzen das traditionelle chinesische System der „Briefe und Besuche“, ein bis in die Kaiserzeit zurückreichendes Verfahren, um Beschwerden gegen lokale Beamte einzureichen. Doch statt ihre Anliegen zu prüfen, lassen die Behörden sie in psychiatrischen Einrichtungen verschwinden.
Haben Sie dafür ein weiteres Beispiel?
Im Jahr 2022 reichte eine junge Frau namens Li Yixue eine Beschwerde gegen einen Polizeiassistenten wegen sexueller Belästigung ein. Kurz darauf wurde sie für zwei Monate in das Provinzpsychiatriekrankenhaus Jiangxi eingewiesen. Nach ihrer vorübergehenden Entlassung veröffentlichte sie kurze Videos auf ihrem Douyin-Profil – eine Art TikTok in China –, in denen sie enthüllte, dass dort zahlreiche weitere psychisch gesunde Petenten und Petentinnen festgehalten wurden. Daraufhin wurde sie erneut festgenommen, ihr Douyin-Profil wurde gesperrt – ihr aktueller Verbleib ist unbekannt.
Die „politische Psychiatrie“ wurde in der Sowjetunion und der DDR systematisch gegen Dissidentinnen und Dissidenten eingesetzt. Wie verhält sich das chinesische System dazu?
In den 1950er Jahren, kurz nach Gründung der Volksrepublik, wurden schon politische Gegner als „geisteskrank“ eingestuft und in Haftkrankenhäuser eingewiesen – ein direkter Import aus der Sowjetunion. Als Stalins selbsternannter Erbe übernahm Mao Zedong auch dessen Logik: Nur eine geisteskranke Person könne sich gegen den Kommunismus stellen.
Heute ist die „politische Psychiatrie“ nicht mehr nur ein Mittel gegen Dissidentinnen, sondern Teil eines umfassenden Systems zur „Stabilitätswahrung“. Der Staat investiert in diesen Kontrollapparat mehr als in das Militärbudget. Die psychiatrische Zwangseinweisung ist dabei eines der wichtigsten Instrumente.
Es gibt nicht viele internationale Organisationen, die dieses Thema untersuchen. Die vorliegenden Studien sind eher alt, wie der Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2002. Seitdem hat China diese Praxis jedoch weit über das sowjetische Modell hinaus ausgebaut.
Wie weit reicht sie heute?
Hier ein erschreckendes Beispiel: Das jüngste bekannte Opfer war ein Neugeborenes. Seine Mutter kam in eine psychiatrische Klinik, weil sie sich für ihre ältere Tochter einsetzte, die durch verunreinigte Impfstoffe zur Behinderten wurde. Das Baby kam in der Klinik zur Welt – und die Behörden verweigerten die Übergabe an Verwandte, die für das Kind außerhalb der Einrichtung hätten sorgen können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ein so massives, brutales System der repressiven Psychiatrie in anderen Ländern der Welt gibt. Es wäre tragisch, wenn dem so wäre.
Was passiert mit den Menschen innerhalb dieser psychiatrischen Krankenhäuser?
Die Zustände dort sind erschreckend: schlechte Hygiene, Nahrungsmangel und ständige Überwachung. Ganz brutal ist der Einsatz von Elektroschocks, der bei 14 Prozent der Opfer dokumentiert ist. Dies wurde häufig ohne Narkose durchgeführt, was zu schweren Krämpfen und Verletzungen führte, sogar Lungenschäden. Es ist mindestens ein Todesfall bekannt: Dem Kriegsveteranen Zeng Jiping wurden während seiner Zwangseinweisung trotz einer Krebsdiagnose Elektroschocks verabreicht und jegliche wirksame Behandlung verweigert. Erst als er kurz vor dem Tod stand, wurde er entlassen. Wenige Tage später starb er zu Hause.
Die Zwangsmedikation, der 77 Prozent der Betroffenen, von denen wir wissen, ausgesetzt sind, ist nicht weniger qualvoll. Viele berichten, dass sie nie über die ihnen verabreichten Medikamente aufgeklärt wurden. Diese Psychopharmaka verursachen schwere Nebenwirkungen. Feng Xiaoyan, eine Aktivistin, berichtete ihrer Tochter während der Besuche, dass sie aufgrund der Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka dreimal täglich kaum noch in der Lage war zu sprechen, zu denken oder zu schlafen. Ihre Zunge schwoll an, und ihr ganzer Körper war von Schmerzen geplagt.
Dürfen Familienangehörige die Eingewiesenen besuchen?
Die Besuche sind nur mit polizeilicher Genehmigung möglich. Aber unsere Erhebung zeigt: 76 Prozent der Betroffenen können weder mit Angehörigen noch mit Anwältinnen oder Anwälten kommunizieren. Wenn jemand eingewiesen wird, informiert die Polizei die Familien meist nicht. Diese verbringen oft Monate damit, die vermisste Person überhaupt zu finden.
Wenn Familienangehörige zu aktiv für die Freilassung ihrer Verwandten kämpfen, riskieren sie selbst eine Einweisung. Als Feng Xiaoyans Tochter sich im Jahr 2020 bemühte, ihre Mutter zu befreien, postierte die Polizei Agenten vor ihrer Wohnung. Als sie versuchte, diese zu filmen, wurde sie selbst zu einer psychiatrischen Untersuchung gezwungen und schließlich unter Hausarrest gestellt.
Es gibt aber auch erfolgreiche Interventionen durch Familien. 2016 gelang es dem Ehemann der Petentin Wang Haiying aus Guangdong, nach einem Handgemenge mit den Wachleuten in die Klinik einzudringen und ihr zur Flucht zu verhelfen. Solche dramatischen Rettungen bleiben jedoch die Ausnahme.
Manche Verwandte kooperieren sogar mit den Behörden, aus Opportunismus. In Familien entstehen tiefe Konflikte – einige kämpfen für die Freilassung, andere fordern die Internierung. Dies führt zu familiären Spaltungen, und in extremen Fällen sogar zu Gewalt.
Was bewegt Ärztinnen und Ärzte dazu, sich daran zu beteiligen?
Viele sehen sich als ausführende Organe des Systems und äußern keine Bedenken. Sie sehen es als risikoloses Geschäft und profitieren davon. In manchen Fällen haben Krankenhäuser sogar die Entlassung von Patientinnen oder Patienten verweigert, selbst wenn die Polizei diese bereits genehmigt hatte. Stattdessen hielten sie die Menschen länger fest, um weiterhin an deren Internierung zu verdienen.
Es gibt nur wenige Ausnahmen. Im Jahr 2016 versuchte die Polizei, einen Mann dazu zu zwingen, eine Einweisungserklärung für seine Frau Luo Guilian zu unterschreiben – doch ein Arzt stellte sich quer. Dadurch wurde sie bereits nach drei Tagen entlassen. Aber solche Fälle sind extrem selten.
Können Betroffene, die den Fängen des Systems entkommen, jemals in ein normales Leben zurückkehren?
Für diese Menschen wird ein „normales“ Leben nahezu unmöglich. Selbst nach ihrer Freilassung stehen sie weiterhin unter ständiger Überwachung durch die Polizei. Sie werden eingeschüchtert, bedroht und oft erneut festgenommen, selbst wenn sie keinerlei Protest mehr äußern.
Der Fall des „Tintenmädchens“ Dong Yaoqiong zeigt dies deutlich: Als sie im November 2020 vorübergehend freikam, veröffentlichte sie ein Video, in dem sie erklärte, dass sie durch die ständige Polizeikontrolle kurz vor einem Zusammenbruch stehe. „Wenn ich wieder in die Klinik muss, überlebe ich das vielleicht nicht“, warnte sie. Ihre Ängste waren berechtigt – die andauernde Misshandlung und die Zwangsmedikation hatten bereits schwere Schäden hinterlassen. Laut ihrem Vater entwickelte sie mit nur 30 Jahren Symptome einer Demenz, wurde teilnahmslos, verlor die Kontrolle über ihre Blase und litt unter nächtlichen Angstzuständen.
Durch Missbrauch und Zwangsmedikation erzeugt das System die psychische Krankheit, die ursprünglich nur erfunden war.
Ihre Ermittlungen konfrontieren Sie mit zutiefst verstörenden Fällen. Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?
Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen ist eine anspruchsvolle und manchmal überwältigende Aufgabe. Zu Beginn meiner Karriere war der Stress durch diese schrecklichen Fälle tatsächlich enorm, aber ich habe diesen Weg gewählt – in dem Wissen, wie schwierig und riskant er sein wird. Aufzugeben kam für mich nie infrage – im Gegenteil: Herausforderungen haben mich immer angezogen.
Und so überraschend es klingen mag: Ausgerechnet diese Fälle geben mir Hoffnung. Dass die Behörden auf Kritik nur mit Repression reagieren können, ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. Ein System, das nicht mehr in der Lage ist, soziale Probleme zu lösen, sondern nur noch mit Verängstigung regiert, ist bereits im Niedergang.
Zugleich bestärkt mich immer wieder die Widerstandskraft der Betroffenen – das ist es, was mich weitermachen lässt. Wäre ich an ihrer Stelle, hätte ich vielleicht nicht die Kraft, all das durchzustehen. Dass ich nicht selbst in ihre Lage geraten bin, verdanke ich einzig dem Glück und der Unterstützung vieler Menschen in China und im Ausland. Viele andere hatten dieses Glück nicht. Ihre Geschichten zu erzählen ist mein Weg, etwas zurückzugeben.
Mou Yanxi ist Ermittlerin für Menschenrechte in China und verfasste für den Verein Safeguard Defenders einen Bericht über die Repression durch psychiatrische Zwangseinweisungen im Land. Nach jahrelanger politischer Verfolgung floh sie 2019 aus China, lebt und arbeitet jetzt im Exil in London.
Eckdaten aus dem Bericht des Vereins Safeguard Defenders zur Repressionsmethode „Psychiatrie“
144 dokumentierte Fälle von erzwungener psychiatrischer Einweisung zwischen 2015 und 2021. Dem Bericht zufolge ist das nur die „Spitze des Eisbergs“
Über 109 Krankenhäuser in 21 Regionen waren beteiligt
Politische Aktivisten und Unzufriedene waren die Hauptopfer
In 66% der Fälle gab es vorab keine psychiatrische Untersuchung – trotz gesetzlicher Vorgaben
Die Opfer erlitten sehr häufig Zwangsmedikation (77%) und Elektroschocktherapie (14%)
Mehr als die Hälfte wurde länger als 6 Monate festgehalten, einige sogar über 10 Jahre, ohne klare Entlassungstermine
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Quellen
Mou Yanxi, Dinah Gardner: Drugged and detained: China’s psychiatric prisons. Safeguard Defenders, 2022
Chinese Human Rights Defenders: “The darkest corners”. Abuses of involuntary psychiatric commitment in China. Chinese Human Rights Defenders, 2012
Human Rights Watch: Dangerous minds. Political psychiatry in China today and its origins in the Mao era. Human Rights Watch, 2002