Unser Körper ist der kleinste Raum, in dem wir wohnen. Dies wird uns besonders dann bewusst, wenn wir erkranken. Dann nämlich fällt der Körper als Schutzraum, den wir womöglich bis dahin für unverwüstlich und selbstverständlich erachtet haben, zeitweilig aus. Er ist versehrt und plötzlich durchlässiger für alle Umweltreize als zuvor. Ein Zustand, den wir umgangssprachlich „empfindlich“ nennen.
In diesem Zustand suchen wir verstärkt nach Schutz in unserer Umgebung, die unser besorgtes und von Schmerzen…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
In diesem Zustand suchen wir verstärkt nach Schutz in unserer Umgebung, die unser besorgtes und von Schmerzen geplagtes Ich vorübergehend beheimatet. Wir ziehen uns dann in ein Eckchen zurück, das wir als angenehm erleben. Vielleicht das wärmende Bett im beruhigenden Schlafzimmer.
Kontrollverlust auf der Station
Was oder wo es auch ist, im Krankheitsfall steht der private Rückzug symbolisch dafür, so etwas wie Autonomie beanspruchen zu können, während eine Erkrankung diese einschränkt. Für die meisten Menschen ist in diesem Zustand das eigene Zuhause ein heilsamer Ort.
Die architekturpsychologische Forschung konnte inzwischen belegen: Das Gefühl von Privatheit ist ein entscheidender Wirkungsfaktor, wenn es darum geht, gesund zu werden. Privatheit bedeutet dann, die Kontrolle darüber zu haben, ob man mit sich allein sein will oder nicht; wen oder was man sehen, riechen oder hören möchte. Und gleichzeitig muss man kontrollieren können, wer einen sieht, riecht oder hört; wer also etwas über mich als Person erfährt. Schwerkranke haben sogar ein gesteigertes Bedürfnis nach Privatheit und Rückzug, so die Forschung.
Der Kontrollverlust auf einer Station findet gleich dreifach statt: durch die Krankheit, die medizinische Fremdbestimmung und die befremdliche Umgebung. Wer ein Privatzimmer bezieht, hat, wie der Name bereits verheißungsvoll andeutet, die größtmögliche Privatheit im Krankenhaus: keine schnarchenden, röchelnden, unangenehm riechenden und mit Fragen nach meinem Leben lästigen Bettnachbarinnen. Ich allein entscheide, wann das Fenster geöffnet, das Licht gelöscht, die Toilettenspülung betätigt wird. Ich allein wähle aus, an der Tür oder am Fenster zu liegen.
Und dennoch, die absolute, heilende Kontrolle und private Sphäre habe ich auch im Einzelzimmer nicht. Ein flüchtiges Alibiklopfen um halb sieben, das man schlaftrunken überhört, kündigt den ersten Besuch an. „Jetzt bitte nicht!“ zu sagen: undenkbar. Stattdessen: Fieber messen, andere wichtige Körperfunktionen und Befindlichkeiten erfassen, dann Frühstück. Das Zimmer ist kahl und spartanisch eingerichtet, damit alle Prozesse – vom Reinigen des Zimmers bis hin zum nächtlichen Notfalleingriff – effizient und frei von Hindernissen ablaufen können. Zu Hause sind es gerade diese Einrichtungsgegenstände, die wir über Jahre angesammelt haben, um die Wohnung zu dekorieren, ihr den persönlichen Touch zu verleihen, uns wohlzufühlen.
Der Raum gleicht dem kranken Körper
Im Patientinnenzimmer ist es einzig ein technisch ausgeklügeltes Schränkchen neben dem Bett, das einen multifunktionalen Tisch und privaten Tresor gleichzeitig darstellt. Auf 30 mal 60 Zentimetern bietet es persönliche Gestaltungsmöglichkeiten: ein Blumenstrauß, eine Saftflasche, etwas Nervennahrung, die Tablettenschachteln, ein Bild von der Familie, der Teddy als Glücksbringer, eine Tasse Tee, ein Glas Wasser, die riesige Grußkarte der Kolleginnen, meine Uhr, das Handy, ein Zeichenblock, die Lesebrille. – Greife ich mit geschwächter Hand danach, gerät das Arrangement durcheinander.
Im Zwei- oder gar Mehrbettzimmer wächst die Bedeutung dieses „privatisierten Schränkchens“ zum Schutzwall heran. Es bietet die einzige Möglichkeit, den oder die auf Armlänge Abstand platzierten Nachbarkranken auf halbwegs angenehmen psychologischen Abstand zu halten. Wir tauchen mit dem Kopf hinter dem verschiebbaren Möbel ab, um nicht angesprochen oder beobachtet zu werden, Tränen im Stillen zu weinen, Telefonate privat zu führen, die Suppe unbeholfen zu schlürfen.
Wir tauchen aber auch ab, um all das beim anderen, einem wildfremden Menschen nicht wahrzunehmen. Legen eine sogenannte höfliche Gleichgültigkeit an den Tag, um wiederum dem Leidensgenossen Privatsphäre zu ermöglichen, wenn Pflegende den Körper entblößen, die Urinflasche anlegen, den 40-Jährigen füttern oder der jungen Frau beim Kämmen helfen. Abtauchen ist die Reaktion auf eine auf Dauer extrem anstrengende Gefühlsmischung aus Scham, Besorgnis, Ekel und Frustration.
Vielerorts verstärkt die Architektur und Atmosphäre des Krankenhauszimmers diese Emotionen: ein simples Rechteck aus kahlen Wänden mit Anschlüssen für Gase und Gerät, kaltes Licht, harte Linoleumböden und karge Ausstattung. Der Raumkörper, in den der Hilfesuchende schlüpfen muss, gleicht dem eigenen kranken Körper: entkleidet, entkeimt, blass.
Nische, Holz und Balkon
Langsam entstehen Alternativen, sogenannte heilsame Architekturen, bei denen Entwurfsentscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Beweise getroffen werden, also auch dem, dass Privatheit als heilender Faktor im Krankenhaus wirkt. In diesen Räumen werden die halbhohen Schränkchen durch echte Nischen ersetzt, die ausreichend räumlichen Sichtschutz und psychologisch wichtige Distanz zum Geschehen bieten.
Holzböden und andere natürliche Materialien verwandeln den klinischen in einen heimischen Raumeindruck; die Wiederentdeckung der Qualität von Balkonen schafft Bewegungs- und Rückzugsräume. Im niederländischen Utrecht sorgt die PCPU-Zimmertypologie (parent-child patient unit) sogar dafür, dass krebskranke Kinder mithilfe einer Schiebetür selbst entscheiden, wie viel Nähe ihrer Eltern sie benötigen. Zweifellos ersetzen diese Räume keine medizinische Behandlung, aber dennoch gilt: Sie wirken als Co-Therapeut.
Gemma Koppen ist Architektin und Professorin für das Entwerfen von Krankenhäusern und Bauten im Gesundheitswesen an der Hochschule Coburg. 2009 gründete sie mit der Psychologin Tanja C. Vollmer das Architektur- und Forschungsbüro Kopvol architecture & psychology in Rotterdam, 2019 in Berlin.
Quellen
Gemma Koppen und Tanja C. Vollmer: Architektur als zweiter Körper. Eine Entwurfslehre für den evidenzbasierten Gesundheitsbau. Gebr. Mann Verlag, 2022
Vollmer TC, Koppen G. The Parent-Child Patient Unit (PCPU): Evidence-Based Patient Room Design and Parental Distress in Pediatric Cancer Centers. Int J Environ Res Public Health. 2021 Sep 23;18(19). bit.ly/3EffE4f
Tanja C. Vollmer und Gemma Koppen: Die Erkrankung des Raumes. Körperliche Versehrtheit und deren Bedeutung für die Architektur. Utz Verlag, 2010