In Deutschland sitzen über 51000 Menschen im Justizvollzug. Die meisten davon würde Thomas Galli freilassen. Der Jurist und frühere JVA-Direktor erklärt in seinem Buch Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen, weshalb. Nach mehr als 14 Jahren Arbeit im Strafvollzug kommt er zu dem Fazit, dass Freiheitsentzug mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt.
Zunächst erläutert er, warum es überhaupt das Bedürfnis nach Strafen gibt und wieso hierbei nicht nur Wut, Angst und Rachedurst der Antrieb der Menschen sind, sondern auch Neid. Anhand von Studien unterstreicht er seine Thesen, dass die Androhung einer Haftstrafe Menschen nicht vor Taten abschreckt, der Vollzug die Rückfallraten nicht senkt. Anhand einer genauen Analyse legt er dar, dass das aktuelle Justizsystem Opfer und deren Bedürfnisse in den Hintergrund stellt.
Dass Thomas Galli nicht nur Rechtswissenschaften, sondern auch Psychologie studiert hat, zeigt sich in vielen Erklärungen und Ansichten. Er lässt zum Beispiel durchgehend Einblicke in das typische Haftleben zu und versetzt sich damit in das Leben der Inhaftierten. Er zeigt auf, weshalb die Personen durch ihre Zeit hinter Gittern nicht zu straffreien Bürgern werden und wie schon wenige Monate JVA jegliche Chance auf dem Arbeitsmarkt eliminieren können. Galli beschreibt, wie der kaputte Selbstwert durch Mitgefangene und Regularien weiter zerrüttet wird und sich Inhaftierte weiter vom Staat und seinen Regeln abwenden – wie in Haftanstalten dem Abgleiten in noch mehr Kriminalität der Weg bereitet wird.
Seine biografischen Schilderungen einzelner Lebensverläufe machen klar: Die 51000 Gefangenen sind immer noch Menschen, viele wie du und ich. Die wenigsten Inhaftierten sitzen ein, weil sie anderen Gewalt angetan haben, sondern nicht wenige, weil sie aus Geldnot schwarzfuhren, weil sie suchtkrank sind oder weil sie die Geldstrafen für Bagatelldelikte nicht zahlen konnten. Eine große Zahl der Inhaftierten kommt aus prekären Verhältnissen und hatte keine Chance auf einen guten Start ins Leben.
Gallis Kritik ist allumfassend, zahlreiche Aspekte im Vollzugswesen nimmt er auseinander und erklärt sämtliche Gründe für Freiheitsstrafen als nichtig. Seine Argumente sind stichhaltig, sein Konzept für ein neues Justizsystem ist ausgereift, wenn auch nicht perfekt. Es soll Opfer in die Urteilsfindung einbeziehen, mehr Wert auf gemeinnützige Arbeit und Wiedergutmachung legen, auf elektronische Fußfesseln und Hausarrest statt Haft setzen. Haftstrafen soll es nach Galli nur noch für schwere Straftaten geben – und dann gleich lebenslang. Der Haken: Sein Konzept braucht nicht nur viel Geld für neue Strukturen, es ist auf die Mitarbeit der Gesellschaft angewiesen, darauf, dass es uns gelingt, Mitgefühl mit Straftätern zu empfinden und den Menschen hinter den Taten zu sehen. Ob das allen möglich ist, bleibt offen. Gallis Buch könnte aber den Weg dazu ebnen.
Thomas Galli: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020, 304 S., € 18,–