Herr Wieser, wie wurde Psychotherapie im Dritten Reich verstanden?

Der Psychologe Martin Wieser befasste sich mit dem so genannten "Göring-Institut", in dem Psychotherapeuten ausgebildet wurden.

Das „Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie“ steht im Mittelpunkt Ihres Artikels. Mit welchem Ziel wurde es damals gegründet?

Gegründet wurde das Institut 1936 in Berlin unter ­Matthias Heinrich Göring, einem Cousin des „Reichsfeldmarschalls“ Herrmann Göring. Matthias Göring war als Neurologe und Psychiater, als Mitglied der SS und des Reichsärztebundes im NS-Staat gut vernetzt. Sein oberstes Ziel war die Festigung der psychotherapeutischen Profession im NS-Staat.

Sein Institut sollte als geistiges und institutionelles Zentrum für die Neuausrichtung der Psychotherapie im NS-Staat fungieren und die Schulen Freuds, Adlers und Jungs unter dem Dach der „Deutschen Seelenheilkunde“ vereinen. Es wurde ab 1939 großzügig durch die Deutsche Arbeitsfront und das Reichsluftfahrtministerium finanziert und noch 1944 zum „Reichsinstitut“ erhoben, bevor es in den letzten Kriegstagen buchstäblich in Flammen aufging.

Welche Aufgaben hatte das Institut?

Vorrangig diente es der Ausbildung des psychotherapeutischen Nachwuchses und der ambulanten Behandlung. Auch wurde ein zweijähriger Lehrgang für „behandelnde Psychologen“ eingerichtet, welcher erstmals einen gesicherten Ausbildungsweg für Psychologen zur Psychotherapie eröffnete. Am „Göring-Institut“ wurde aber auch geforscht, unter anderem über die Behandlung von Kriegsneurosen, die Wiederherstellung sexueller Funktionsfähigkeit oder Homosexualität.

Sie schreiben, dass Patientinnen und Patienten im Sinne eines „arischen Menschenbilds“ behandelt wurden. Was heißt das?

Offiziell wurde die freudsche Psychoanalyse im NS-Staat geächtet. Da es für deren Methoden und Begriffe aber kaum Ersatz gab, änderte sich wenig an der therapeutischen Praxis – mehr hingegen an ihren Rahmenbedingungen: Zum einen wurde aus kriegsökonomischen Gründen vermehrt auf Kurzzeittherapien und symptomorientierte Behandlungstechniken gesetzt – beispielsweise autogenes Training.

Der Zugang zur Therapie und die Erlaubnis, diese anzubieten, wurde an die „rassische“ Zugehörigkeit geknüpft. Die „Deutsche Seelenheilkunde“ sollte auf die Förderung „erbwerter“ und dem „Volksganzen“ zuträglicher Eigenschaften abzielen, also der Fähigkeit zur „Eingliederung“ in das völkische Kollektiv und der Wiederherstellung der Arbeits- und Kampftauglichkeit.

Was lässt sich aus der Bedeutung, die das Institut während der NS-Zeit für den Psychotherapieberuf hatte, für heute lernen?

Psychotherapeutische Praxis war und ist keine Insel der Seligen, die sich getrennt von ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verstehen lässt. Namhafte Psychotherapeuten hatten die Konformität ihrer Praxis mit der nationalsozialistischen Weltanschauung propagiert und sich bewusst den geänderten Rahmenbedingungen angepasst. Die Motive der Einzelnen reichten von Identifikation und Opportunismus bis zu Naivität oder Angst.

Auf fachlicher Ebene führte der breite Konformismus zu einer Verarmung der therapeutischen Theorie und Praxis, die noch lange nach Kriegsende fortdauerte. Eine stärkere Verankerung ethischer und historischer Fragen in der Psychologie ist auch heute noch geboten, um zukünftige Praktiker für diese Problematik zu sensibilisieren.

Martin Wieser ist Psychologe und Philosoph. Er ist Assistenzprofessor an der Sigmund-Freud-Privat Universität Berlin, wo er im Bereich Theorie und Geschichte der Psychologie lehrt und forscht.

Literatur

Martin Wieser: „Deutsche Seelenheilkunde“ und die Erfindung des „behandelnden Psychologen“. Zum Verhältnis von Psychologie und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Psychologische Rundschau, 72/3, 2021. DOI: 10.1026/0033-3042/a000544

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