„Psychisches Leiden soll möglichst schnell beseitigt werden“

Die Psychotherapie in Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Doch die Reformen haben einen bitteren Beigeschmack; das stört Jakob Müller.

Die Illustration zeigt den Schriftzug "Psychotherapie gerät unter Druck"
Therapeutisches Handeln muss immer stärkeren ökonomischen Vorgaben folgen – das stört Jakob Müller. © Biff für Psychologie Heute

Die Psychotherapie in Deutschland steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Reformen, die auf den ersten Blick Verbesserungen bringen sollen – etwa bessere Bezahlung für angehende Therapeutinnen und Therapeuten und mehr Qualitätssicherung –, drohen genau das Fundament zu gefährden, auf dem psychotherapeutische Arbeit ruht: Zeit, Beziehung und das Verstehen psychischen Leidens in seiner biografischen und gesellschaftlichen Tiefe. Die Folge: ein System, in dem therapeutisches Handeln zunehmend ökonomischen Vorgaben folgt – statt individuellen Entwicklungsprozessen.

Eine Reform ohne Finanzierung

Eine zentrale Veränderung betrifft den psychotherapeutischen Ausbildungsweg: Seit 2020 ersetzt ein Studiengang „Psychotherapie“ das frühere Modell aus Psychologiestudium plus anschließender Ausbildung. Die Idee: Nach dem Studium erfolgt direkt die Approbation, gefolgt von einer mehrjährigen Weiterbildung – ähnlich wie bei Ärzten. Klingt nach einem Fortschritt: Doch für diese Reform hat der Gesetzgeber keine Finanzierung bereitgestellt.

Die Ausbildungsinstitute geraten unter enormen wirtschaftlichen Druck. Sie müssen effizienter arbeiten, Angebote straffen, Bürokratie ausbauen. Für angehende Therapeutinnen bleibt immer weniger Raum für persönliche Entwicklung, Selbstreflexion oder die Auseinandersetzung mit der eigenen therapeutischen Haltung – essenzielle Elemente für alle psychotherapeutischen Verfahren. Stattdessen müssen sie vom ersten Tag an als produktive Arbeitskräfte „funktionieren“.

Ohne schnellen Therapieerfolg geht es nicht weiter

Auch die Rahmenbedingungen der Therapie selbst sollen verändert werden. Das bislang bewährte Gutachterverfahren, das Therapien langfristig absichert, soll durch ein Evaluationssystem ersetzt werden. Der Therapieerfolg würde dann anhand standardisierter Fragebögen fortlaufend gemessen. Zeigt sich keine rasche Verbesserung, droht das vorzeitige Ende der Behandlung. Zusätzlich wird über ein Ranking-System für Therapeutinnen diskutiert.

Das setzt nicht nur Patienten und Behandlerinnen massiv unter Druck, sondern untergräbt den Sinn von Qualitätssicherung. Patientinnen könnten sich gezwungen fühlen, ihre Angaben strategisch zu „optimieren“, um ihre Therapie zu sichern. Therapeuten wiederum hätten einen Anreiz, schwere oder chronifizierte Fälle zu meiden. Rückschläge, Krisen oder langsame Fortschritte könnten sich negativ auf das Bewertungssystem auswirken und zu beruflichen Nachteilen für die behandelnden Therapeutinnen führen.

Psychisches Leiden wird als funktionale Störung begriffen, die möglichst schnell beseitigt werden soll – statt als Ausdruck eines Zustands, der verstanden, kontextualisiert und individuell begleitet werden muss. Die Psychotherapie verliert dabei genau das, was sie wirksam macht: eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit, für die genügend Zeit zur Verfügung steht.

Ambulante Psychotherapie verursacht nur einen Bruchteil der Kosten, die psychische Erkrankungen insgesamt auslösen – etwa durch Arbeitsausfälle oder stationäre Aufenthalte.

Jakob Müller ist Psychologe und Psychoanalytiker. Er arbeitet am „Institut für Psychosoziale Prävention“ des Universitätsklinikums Heidelberg und in eigener Praxis. Zudem betreibt er den Podcast „Rätsel des Unbewussten

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2025: Drüber wegkommen
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