Emilia sitzt in einer Hamburger Praxis, Gemälde hängen an den Wänden, im Flur steht ein Regal mit Büchern von Psychoanalytikern wie Sigmund Freud oder Jacques Lacan. Emilia ist eine freundliche Frau mittleren Alters, sie heißt im wirklichen Leben anders. Hinter ihr liegen schwere Jahre. Ihre Krise begann mit dem Tod ihrer Mutter und verschärfte sich mit der Pandemie, sie wurde krank und blieb es für zehn Wochen. „Ich war völlig erschöpft und konnte einfach nicht mehr“, sagt sie.
Emilia suchte sich…
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blieb es für zehn Wochen. „Ich war völlig erschöpft und konnte einfach nicht mehr“, sagt sie.
Emilia suchte sich therapeutische Hilfe und fand schließlich Platz in der Donnerstaggruppe des Psychoanalytikerpaares Birgit und Michael Meyer zum Wischen. Inzwischen, so sagt Emilia, geht es ihr viel besser. Und nicht nur das: „Ich erkenne durch die Sitzungen, wer ich eigentlich bin.“ Die Gruppentherapie hat wenig zu tun mit dem klassischen Setting der Psychoanalyse, niemand liegt auf einer Couch. Dennoch durchwaltet der Geist Sigmund Freuds jede Gruppensitzung. „Ich kann dort alles sagen, was mir gerade durch den Kopf geht, auch wenn es scheinbar nichts mit der Situation zu tun hat“, erzählt Emilia.
Pluralismus der Psychoanalyse
Sigmund Freud starb vor 85 Jahren. Viele glauben: So wie er damals arbeiten die meisten Therapeutinnen und Therapeuten noch heute. Freuds Denken lebt fort in unserem Alltagsverständnis – doch in Wirklichkeit fristet es in der modernen Psychologie nur noch ein Dasein am Rand. Das könnte sich jetzt ändern: Die Psychoanalyse steht womöglich vor einem kleinen Comeback.
In den Praxen von Birgit und Michael Meyer zum Wischen lässt sich der Trend erst erahnen. Ihre Wartelisten sind seit Jahren voll – wie überall wo das Wort „Psychotherapie“ auf dem Klingelschild steht. Die Formen der Hilfe sind vielfältig geworden. Manche Menschen wollen noch immer viermal pro Woche auf der Couch liegen. Andere wünschen sich nur ein oder zwei Treffen pro Woche im Sitzen. Die einen brauchen eine Paartherapie, die anderen besuchen eine der Therapiegruppen.
„Es gibt heute einen stärkeren Pluralismus in dem, was Psychoanalyse sein kann“, sagt Michael Meyer zum Wischen. Die Ehepartner veranstalten in den Hamburger Zeise-Kinos eine Filmreihe, bei der sie die Bedeutung von Filmen für die Psychoanalyse diskutieren. „Das Interesse ist viel größer, als wir erwartet hatten“, sagt Michael Meyer zum Wischen. Man könnte all das als nerdige Retrowelle abtun. Doch womöglich handelt es sich dabei um die Vorbotin von etwas Neuem.
Sich mit Psychodynamik vertraut machen
Um dieses Neue zu verstehen, muss man ein paar Worte verlieren über den Zustand der Psychotherapie in Deutschland: Nicht jeder darf sich „Psychotherapeutin“ oder „Psychotherapeut“ nennen, Voraussetzung dafür ist eine staatliche Approbation. Den Weg dorthin hat der Gesetzgeber im Jahr 2020 reformiert: Bislang musste man dafür nach dem Psychologiestudium noch eine rund fünfjährige Ausbildung absolvieren. Nach den neuen Bestimmungen macht man seine Prüfung direkt nach dem Studium.
„Gegenstand der psychotherapeutischen Prüfung sind alle wissenschaftlich geprüften und anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Methoden“, so steht es in der Approbationsordnung. Die jungen Psychologinnen und Psychologen müssen also – anders als früher – auch mit psychodynamischen Konzepten vertraut sein, also mit Techniken und Verfahren, die aus der Psychoanalyse stammen. Schließlich werden solche Verfahren in Deutschland von den Krankenkassen anerkannt. Das heißt: Die Universitäten müssen ihren Studierenden auch wieder Wissen über die Psychoanalyse vermitteln.
Wertlos ohne Penis
An den Universitäten wurden im Zuge der Reform viele zusätzliche Stellen geschaffen. Genau das könnte neuen Sauerstoff pusten in das sanft glimmende Feuer der psychoanalytischen Renaissance. Denn an den psychologischen Fakultäten staatlicher Universitäten spielt die Psychoanalyse mit all ihren Nachfolgeschulen kaum noch eine Rolle. Freud gilt den meisten Lehrenden als „überholt“ oder „unwissenschaftlich“. Kaum jemand glaubt mehr daran, dass kleine Jungs ihre Väter erschlagen und Sex mit ihren Müttern haben wollen oder dass kleine Mädchen sich wertlos fühlen, weil zwischen ihren Beinen kein Penis baumelt.
Auch die psychoanalytische Therapie geriet bereits vor Jahrzehnten in die Kritik: Die Verhaltenstherapie schien schneller und wirksamer zu sein. Mehr noch: Deren Vertreter – damals fast ausschließlich Männer – belegten ihre Erfolge mithilfe von Statistiken und Fragebögen, also genau mit jenen Werkzeugen, gegen deren Gebrauch die Jünger Freuds sich lange Zeit beharrlich sträubten. Diese Spaltung ist kein Zufall. Verhaltenstherapie ist ein Kind des Behaviorismus, jener Disziplin, die sich allein für objektiv beobachtbares Verhalten interessiert – egal ob beim Menschen, bei Ratten oder Hunden. In dieser Perspektive ist Psychologie eine Naturwissenschaft, die man nach denselben Regeln betreiben kann wie die Physik, in der sich fast alles messen, zählen und objektiv beschreiben lässt.
Wer hingegen der Psychoanalyse anhängt, sieht die Psychologie als eine Geisteswissenschaft, als Disziplin, in der es um Sprache, Interpretation, Verstehen und Bedeutung geht, in der die Seele sich nicht fassen lässt durch statistische Zeichen und Formeln. Diese Spaltung ist ein Grund dafür, dass Sigmund Freud im Psychologiestudium kaum noch auftaucht.
Als unwissenschaftlich geschmäht
Auch außerhalb Deutschlands haben es psychodynamische Verfahren seit etlichen Jahren schwer – und zwar in fast allen Ländern. Das sagt der klinische Psychologe Winfried Rief, der an der Universität Marburg forscht und lehrt. „In der medizinischen Psychosomatik sind psychodynamische Verfahren bis heute in Deutschland dominierend. Aber international kommen sie immer mehr unter Druck.“ An den deutschen Universitäten registriert Winfried Rief dagegen eine andere Bewegung: „Die Studierenden wollen diese Aufteilungen in verschiedene Therapieschulen nicht mehr. Und das mit Recht: Diese strenge Trennung in unterschiedliche Verfahren ist nicht mehr zeitgemäß; sie ist nicht wissenschaftlich, nicht offen, nicht flexibel. Da sind die Studierenden schon weiter als viele unserer psychotherapeutischen Berufsverbände.“
Wenn man über die Zukunft Galliens zu Zeiten von Julius Cäsar sprechen will, kann man sich mit einem römischen Zenturio unterhalten. Oder mit Asterix, dem Unbeugsamen, der den Eindringlingen Widerstand leistet. Diesen Asterix gibt es auch im Überlebenskampf der Psychoanalyse: Cord Benecke, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Kassel. Benecke ist hierzulande der einzige psychologische Lehrstuhlinhaber an einer staatlichen Hochschule, der eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolviert hat.
„Wir haben in Deutschland einen krassen Überhang der Verhaltenstherapie an den Universitäten“, sagt er. Die Studierenden von morgen jedoch hätten ein Anrecht darauf, mehr psychodynamische Psychotherapie zu erfahren. Genau das werde ihnen vorenthalten, kritisiert Benecke. Schuld daran sei ein altes Lagerdenken, das sich an Klischees orientiere. „Man sagt: ,Nur die Verhaltenstherapie ist wissenschaftlich begründet, alles andere ist Voodoozauber.‘ Das ist eines der erfolgreichsten Narrative der Wissenschaftsgeschichte. Aber das stimmte noch nie, es ist blanker Unsinn“, sagt Cord Benecke.
„Es gibt rund 300 randomisierte Wirksamkeitsstudien über psychodynamische Verfahren.“ Und deren Ergebnisse könnten sich sehen lassen. „Wenn man die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie und psychodynamischen Verfahren vergleicht und jeweils dieselbe Stundenzahl nimmt, dann kommt in der Regel dasselbe heraus. Die Verhaltenstherapie hat da keine Vorteile. Das ist Stand der Forschung.“
Frei von Depression
Andere Fachleute gehen sogar noch weiter als Cord Benecke. Denn psychodynamische Therapieformen könnten womöglich gar nachhaltiger wirken als eine Verhaltenstherapie. So zumindest lässt sich eine britische Studie aus dem Jahr 2015 lesen. Dort begleitete man 129 Depressionspatientinnen und -patienten nach Abschluss ihrer Psychotherapie. Einige davon hatten eine Standardtherapie absolviert, andere eine psychoanalytische Langzeittherapie.
Das Ergebnis: Von denen, die eine Analyse gemacht hatten, waren ungefähr 15 Prozent noch dreieinhalb Jahre nach der Behandlung depressionsfrei. Weiteren 30 Prozent ging es messbar besser als vor der Behandlung. Bei der Standardtherapie lagen diese Werte rund drei- beziehungsweise siebenmal niedriger.
„Eigentlich“, sagt Benecke, „müssten neue Stellen mit Fachleuten besetzt werden, die auch von den psychodynamischen Therapieformen etwas verstehen. Doch das ist bislang nur in wenigen Ausnahmefällen geschehen.“ Für Cord Benecke ist das viel zu wenig. Hintergrund seiner Forderung: Die Bundesländer zahlten den staatlichen Universitäten pro Jahr 50 Millionen Euro zusätzlich – Geld für neues Personal, um den reformierten Masterstudiengang stemmen zu können. „Damit hätte man ja ein paar Psychodynamiker oder Systemikerinnen einstellen können.“
Den passenden Markt gibt es
Inzwischen studieren viele angehende Therapeutinnen und Therapeuten an privaten Universitäten. „Dort hat man die Stellen oft paritätisch besetzt“, sagt Cord Benecke. Das heißt: Verhaltenstherapie, systemische Psychotherapie, psychodynamische Psychotherapie – für alle Schulen gibt es Professuren. „Die privaten Hochschulen haben gesehen, dass die Studierenden das wollen, dass es dafür einen Markt gibt.“
Eine dieser privaten Hochschulen trägt sogar den Begriff „Psychoanalyse“ in ihrem Namen. Die Gründungsidee hinter der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) in Berlin ist, „die Psychoanalyse auf akademischem Niveau anschlussfähig zu halten“. Das sagt die Hirnforscherin Birgit Stürmer, derzeitige Vizepräsidentin der IPU: „Unsere Institution soll die Psychoanalyse nicht nur in der Lehre, sondern gerade auch in der Forschung fördern.“
Seit 2014 ist die IPU staatlich akkreditiert, pro Jahr bewerben sich dort rund 400 junge Menschen aus der ganzen Welt um einen Studienplatz, mit leicht steigender Tendenz. Manche der Studiengänge finden in englischer Sprache statt. Zugegeben: Es ist nicht immer nur das persönliche Interesse, das diese Bewerbung treibt. Manche IPU-Studierende sind auch am strengen Numerus clausus der staatlichen Hochschulen gescheitert. Wer im Herbst 2023 zum Beispiel an der Freien Universität Berlin ein Psychologiestudium beginnen wollte, brauchte dafür ein Abitur mit einem Notenschnitt von 1,0. Diese Hürde entfällt bei der IPU. Dafür muss man sich das Studium dort leisten können. Der viersemestrige Masterstudiengang Klinische Psychologie und Psychotherapie kostet 22700 Euro.
Der eigene Körper als Seismograf
Leonie Kampe ist Juniorprofessorin an der IPU und lehrt unter anderem das Fach Diagnostik: Wie findet man eigentlich heraus, was einem Menschen fehlt? Sie betreibt keine Freud-Exegese der alten Schule, bei der man die Schriften des Meisters mit derselben Ehrfurcht interpretiert wie Theologinnen das Neue Testament. Leonie Kampe kommt aus der Praxis, hat über viele Jahre als Therapeutin gearbeitet. „Ich lege einen Schwerpunkt darauf, sich selbst und den eigenen Körper zu nutzen. Was fühle ich eigentlich während des Gesprächs und wie kann ich das theoretisch einordnen?“, sagt sie.
Kampe beschreibt ein typisches Phänomen der psychodynamischen Therapie: Plötzlich – man weiß nicht woher – fühlt man sich als Therapeutin beurteilt und beobachtet. Man fürchtet, etwas falsch zu machen. „Das könnte ich zum Beispiel als Hinweis auf narzisstische Züge bei meinem Gegenüber verstehen. Es kann aber auch etwas Zwanghaftes dahinterstecken. Vielleicht spreche ich gerade mit einem Menschen, der sehr viel Kontrolle braucht“, erklärt Kampe. Der eigene Körper wird so zum Seismografen, einem feinen Messinstrument, das hilft, Arbeitshypothesen zu entwickeln. „Nach meiner klinischen Erfahrung ist es hochrelevant, so etwas zu können. Egal welcher therapeutischen Schule man angehört“, sagt Kampe.
Hinter dieser Methode steht ein Modell, das Sigmund Freud in die Welt gebracht hat: die sogenannte „Gegenübertragung“. Unser Gegenüber lässt in seiner Begegnung mit uns alte Beziehungsmuster wiederaufleben, es „überträgt“ sie auf uns. Und wir reagieren intuitiv und spontan auf solche Angebote – eben mit unserer Gegenübertragung. Diese Reaktion wiederum können wir körperlich, emotional und gedanklich wahrnehmen. „Das sind Erfahrungen, die sich einprägen. Meine Studierenden werden sich später daran erinnern, wenn sie in der Klinik sitzen und etwas Ähnliches erleben“, sagt Leonie Kampe.
Verführt dieses Wissen nicht zur intellektuellen Arroganz? „Problematisch ist es, wenn Analytiker die Haltung haben, mit ihren Deutungen immer im Recht zu sein oder es besser zu wissen. Heute bezieht man interpersonelle Faktoren mehr mit ein. Ich bin mir bewusst, dass ich nur Hypothesen entwickele. Ich bleibe offen für die Möglichkeit, mich geirrt zu haben“, sagt Kampe. Die junge Generation hat eine Menge von Sigmund Freud gelernt – ihm aber längst den Heiligenschein vom grauen Haarkranz geklaubt.
„Narzisst“, „Borderliner“ oder „Histrioniker“
Auch ein paar aktuelle Entwicklungen der Mainstreampsychologie geben den geistigen Urenkelinnen Sigmund Freuds neuen Rückenwind. Etwa auf dem Feld der Persönlichkeitsstörungen, für die es lange Zeit eine strenge, schubladenhafte Unterteilung gab. Jemand war zum Beispiel „Narzisst“, „Borderliner“ oder „Histrioniker“. In den neueren Ausgaben der Diagnosemanuale findet sich jetzt ein Vorgehen, das auf derlei Kategorien verzichtet.
„Für die Behandlung selbst waren diese Aufteilungen ohnehin noch nie hilfreich“, sagt Leonie Kampe. „Denn all diese Menschen haben Probleme in denselben Bereichen: Schwierigkeiten mit dem Selbstwert, Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Gefühlen, Schwierigkeiten in Beziehungen, also damit, Nähe zuzulassen, Trennungen auszuhalten, sich vertrauensvoll einzulassen.“ Statt Menschen in Schubladen zu stecken, schaut man jetzt genauer hin: Wo kommt es eigentlich zu Problemen? Diesen besonderen Blick gab es in Teilen der Psychoanalyse „schon immer“, sagt Kampe. Man könne die Neufassung der psychiatrischen Handbücher durchaus als eine Art Rückbesinnung auf die Psychoanalyse werten.
Wie starke Manualtreue schadet
In anderen Forschungsergebnissen sieht sich die jüngere Generation der Psychodynamikerinnen und -dynamiker ebenfalls bestätigt. Wie zum Beispiel Christian Sell, auch er ist Juniorprofessor an der IPU in Berlin. Denn während man in der Psychoanalyse und ihren Spielarten seit jeher großen Wert auf die jeweils einzigartige Beziehung zu Klientin und Klient legt, gebe es in der Verhaltenstherapie eher eine Tendenz, jeden Schritt der Therapie einem bestimmten Schema folgen zu lassen. „Neuere Metastudien zeigen jetzt aber, dass solch eine starke Manualtreue dem Therapieerfolg eher schadet“, so Sell. Anders gesagt: Wer sich zu sklavisch an den vorgezeichneten Fahrplan hält, ist als Therapeut womöglich weniger hilfreich.
Auch in den Forschungsmethoden bemerkt der Psychologe eine Öffnung hin zu Verfahren, die sich besser mit dem verstehenden Ansatz der Psychoanalyse vereinbaren lassen. „Es gibt ein Wiedererstarken von qualitativer Forschung. Man will genauer nachvollziehen, was in der Behandlung eigentlich passiert, indem man Interviews führt oder Sitzungen per Video aufzeichnet, transkribiert und auswertet“, sagt Sell. Studien zeigten: „Was wir mit Fragebögen messen, ist nicht immer das, was die Patienten eigentlich beschäftigt.“ Unser inneres Erleben, so die Botschaft, ist womöglich zu reich, flüchtig und vielfältig, um sich mit objektiver Messung einfangen zu lassen. Derlei Forschung haucht junges Leben in die alten Glaubenssätze der Psychoanalyse.
Das Menschliche im Auge behalten
Reformen geschehen nur selten, weil etablierte Fachleute ihre Meinung ändern, sondern darüber, dass sie in Rente gehen. Es ist fast immer die nächste Generation, die alles neu werden lässt. Doch wie sehen die jungen Menschen aus, die der Psychoanalyse zu einem Wiederaufleben verhelfen könnten? „Wir haben an der IPU viele Studierende, die in ihrem Leben schon etwas anderes als die Schule gesehen haben“, sagt Christian Sell. „Viele haben bereits in einem Beruf gearbeitet.“
Das mag am Geld liegen: Wer schon gearbeitet hat, kann sich eine Privatuni leisten – bringt aber ganz sicher auch eine andere Lebenserfahrung mit Roxana Assadi, eine junge Psychologin, betreibt mit Freunden in Hamburg eine psychodynamische Beratungspraxis. Derzeit macht sie eine tiefenpsychologische Fachausbildung und will sich danach zur Psychoanalytikerin weiterbilden. Vor ihrem Psychologiestudium hat sie als Krankenschwester gearbeitet. Freud, so sagt sie, habe in ihrem Studium „praktisch keine Rolle gespielt“. Ihr Wissen über die Psychoanalyse musste sie sich auf anderen Wegen aneignen, etwa über Vorlesungen aus den Geisteswissenschaften oder private Lesezirkel.
„Ich möchte als Therapeutin nicht das Menschliche aus den Augen verlieren“, sagt sie. „Es geht mir nicht um Effizienz um jeden Preis, sondern um Erkenntnis und Sinnhaftigkeit.“ Womöglich, so sagt sie, erfülle eine Verhaltenstherapie auch eher den Wunsch nach Kontrolle. „Bei einer Psychoanalyse braucht man eine höhere Chaostoleranz.“ Sigmund Freud ist wieder da. Zumindest ein bisschen.
Quellen
Peter Lilliengren: A comprehensive overview of randomized controlled trials of psychodynamic psychotherapies. Psychoanalytic Psychotherapy, 37/2, 2023, 117–140
Winfried Rief u.a.: Selected trends in psychotherapy research: An index analysis of RCTs. Clinical Psychology in Europe, 4/2, 2022, e7921
Peter Fonagy u.a.: Pragmatic randomized controlled trial of long-term psychoanalytic psychotherapy for treatment-resistant depression: the Tavistock Adult Depression Study (TADS), World Psychiatry, 14(3), 2015, 312-321