Grenzverletzungen lauern manchmal da, wo man es am wenigsten erwarten würde. Luise, wie wir sie nennen wollen, schildert ein Erlebnis mit ihrem eigenen Ehemann, das sie aus der Bahn warf: „Es war morgens und ich war noch im Halbschlaf, als er plötzlich anfing, in mich einzudringen“, erzählt sie. „Mir schoss durch den Kopf: Eigentlich weiß ich nicht mal, wer du bist.“ Nach zehn Jahren gemeinsamer Ehe hätten sie sich meist auch ohne Worte gut verstanden. Doch an diesem Morgen sei das anders gewesen: „Mir ging…
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„Mir ging es zu dieser Zeit nicht besonders gut, ich hatte keine Kraft zu protestieren. Ich wollte einfach nur, dass es möglichst schnell vorbei ist“, erinnert sich Luise.
Hätte ihr Mann erkennen können, dass sie gerade nicht wollte? „Ich habe in mein Kissen geweint, weil ich die Auseinandersetzung nicht führen wollte“, antwortet sie. Wie sie heute über dieses Erlebnis denkt? „Ich würde es nicht Vergewaltigung nennen. Ich hätte die Verantwortung gehabt, nein zu sagen“, betont Luise. Trotzdem werfe sie ihm insgeheim vor, nichts mitbekommen zu haben. „Man kann sagen: Wenn sie sich nicht wehrt, wird es schon okay sein. Aber man kann sich auch in eine andere Person hineinfühlen und sie lesen“, meint Luise.
Die Begebenheit hatte ein Nachspiel: Sie wurde schwanger. Weil sie auf diese Weise kein Kind bekommen wollte, trieb sie ab – für sie eine quälende Erfahrung. Nun, drei Jahre später, sind die beiden immer noch ein Paar. Inzwischen können sie sich auch im Bett besser verständigen. „Wenn sich etwas nicht gut anfühlt, gibt es danach eine kleine Analyse, wie ich es das nächste Mal früher erkennen kann – und besser kommunizieren“, so Luise. Ob sie das gemeinsam mit ihrem Partner macht? „Nein, das mache ich lieber mit mir selbst aus“, antwortet sie.
Frauen als "Pförtnerinnen" sexueller Angebote
Tatsächlich ist bei der Kommunikation über Sex häufig der Wurm drin. In anderen Bereichen des Lebens ist das nicht so: Andere ins Eiscafé oder auf eine Wandertour einzuladen ist gewöhnlich kein großer Akt. Ein Satz wie: „Ich möchte mit dir schlafen“, geht hingegen viel schwerer über die Lippen. Selbst in langjährigen Partnerschaften haben viele Menschen noch Probleme, der oder dem Liebsten klarzumachen, wie und wann sie Lust auf Sex haben – und wann nicht. Doch weshalb ist es so knifflig, sich unbefangen über erotische Wünsche auszutauschen? Wie kommt es, dass Menschen auch in engen Beziehungen Sex haben, den sie eigentlich nicht wollen? Und warum lassen Fragen rund um sexuelles Einvernehmen so häufig die Gemüter hochkochen?
Die Sexualforscherin Kristen Jozkowski und ihre Kollegin Zoë Peterson, inzwischen beide am US-amerikanischen Kinsey-Institut tätig, befragten knapp 200 heterosexuelle Studierende, wie sie im Alltag über Sex kommunizierten. Die Antworten fielen eindeutig aus: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekannten sich mehrheitlich dazu, dass es an den Männern sei, Sex anzubahnen. Frauen komme die passive Aufgabe einer „Pförtnerin“ zu, die das Angebot entweder annehme oder abwehre.
Manche der weiblichen Befragten betonten, dass sie bei dieser starren Rollenverteilung auch dann blieben, wenn sie selbst Lust verspürten: „Ich würde meinen Partner anfangen lassen. Er ist der Kerl, er sollte den ersten Schritt machen“, meinte eine Teilnehmerin. „Typen sind immer einverstanden, haha“, ergänzte eine andere. Einige der Männer erzählten, den Akt einfach mit den Worten „Lass uns Sex haben“ anzukündigen – oder ihre Partnerin zu überwältigen. Ein kleiner Teil erzählte offenherzig von körperlichem Zwang oder Tricksereien: „Steck ihn einfach rein, und wenn sie protestiert, stelle es als Versehen dar“, gab ein Mann zu Protokoll.
Die Mär vom männlichen Hunger auf Sex
Die Ergebnisse stammen aus dem Jahr 2013. Dennoch wirken die Aussagen aus der Zeit gefallen – ganz so, als seien die vielen Umbrüche der letzten Jahrzehnte spurlos an den Schlafzimmern vorbeigezogen, von der sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre bis hin zu den öffentlichen Debatten um körperliche Übergriffe, die es bereits vor der MeToo-Bewegung zuhauf gab. Von einem gleichberechtigten, einvernehmlichen Umgang mit Sex schienen die Befragten noch weit entfernt.
Dass es hierzulande kaum anders aussieht, zeigen die Ergebnisse aus dem sogenannten Eurobarometer 2016: Über ein Viertel der knapp 28000 Befragten erklärten in der europaweiten Erhebung, dass sie unter manchen Umständen auch Sex ohne Einwilligung akzeptabel fänden: etwa wenn die Person mit zu ihrem Flirt nach Hause gehe, sich aufreizend anziehe, stark berauscht sei oder nicht klar genug nein gesagt habe. Solchen Positionen stimmten insgesamt 26 Prozent der befragten Frauen und 29 Prozent der Männer zu, der Geschlechterunterschied fiel also gering aus.
In derartigen Aussagen hallt ein Weltbild nach, das die Psychologin Wendy Hollway den „Männlicher-Sexualtrieb-Diskurs“ nennt: die alte Erzählung, Männer hätten einen biologisch verankerten Hunger auf Sex, welcher, einmal entfacht, unbedingt gestillt werden müsse. Es sei an den Frauen, den Trieb in Schach zu halten und die Männer nicht unnötig zu reizen. Dass Männer ihren sexuellen Regungen widerstehen können (und Frauen ebenfalls Lust auf Sex haben), kommt in dieser Gedankenwelt nicht vor. Obwohl sich heute kaum noch jemand öffentlich zu diesen rückschrittlichen Ideen bekennen würde, scheinen sie aus den Köpfen noch nicht verschwunden.
Das sexuelle Miteinander auf den Prüfstand stellen
Insofern überrascht es kaum, dass sich viele Feministinnen für eine neue Konsenskultur einsetzen. Sexuelle Kontakte sollen stets einvernehmlich sein, so die Forderung. Was das genau heißt, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander: Das „Nein heißt nein“-Modell betont, verbale Ablehnung müsse stets als solche respektiert werden. Was wie eine Banalität klingen mag, ist eine eher neue Entwicklung.
Lange Zeit galt die Idee der sogenannten token resistance: Eine abwehrende Frau ziere sich bloß – und ihr Protest sei lediglich eine Einladung, es noch energischer zu versuchen. Solches Gedankengut spiegelt sich in zahlreichen Filmen und Liedtexten wider. „Nein heißt ja, wenn man lächelt so wie du“, heißt es in einem Schlager von G.G. Anderson aus dem Jahr 2000. Innerhalb der Ehe sind Vergewaltigungen erst seit 1997 strafbar. 2016 nahm der Bundestag den „Nein heißt nein“-Grundsatz ins Strafrecht auf.
Inzwischen gibt es Vorstöße für ein schärferes Konsensmodell, nämlich „Nur ja heißt ja“: Sex sei allein dann einvernehmlich, wenn alle Beteiligten davor zugestimmt haben. Ein fehlendes Nein wäre demnach nicht genug, um von einer Einwilligung auszugehen. Die Forderung nach einem ausdrücklichen Ja soll die Leerstellen füllen, welche der „Nein heißt nein“-Ansatz hat: Was, wenn eine Person bewusstlos, berauscht oder schlichtweg zu eingeschüchtert ist, um ihre Ablehnung auszudrücken? Hier soll eine klare Zustimmung Abhilfe schaffen. „Nur ja heißt ja“ ist dabei nicht zwingend als juristische Forderung gemeint (obwohl beispielsweise das spanische Parlament im Jahr 2022 eine solche Regelung verabschiedete). Vielmehr geht es darum, das sexuelle Miteinander auf den Prüfstand zu stellen: Fühlen sich alle Beteiligten wohl mit dem, was gerade abläuft?
Ablehnung wird meist subtil oder indirekt ausgedrückt
Doch als Werkzeug, um das eigene Liebesleben einvernehmlicher zu gestalten, taugen diese Ansätze nur bedingt. „Forderungen nach einer eindeutigen verbalen Kommunikation legen Maßstäbe an den sexuellen Konsens an, die so in keinem anderen alltäglichen Bereich geläufig sind“, meint Simone Kreutz. Die Sozialwissenschaftlerin forscht und lehrt an der Berliner Humboldt-Universität, unter anderem zum Thema sexualisierte Gewalt.
„Menschen drücken Ablehnung häufig in subtiler oder indirekter Form aus – und sie wird auch als solche verstanden“, so Kreutz. Werden körperliche Grenzen übergangen, sei das normalerweise eben kein Ergebnis von Missverständnissen, sondern ein Ignorieren von Zeichen der Ablehnung. Tatsächlich verstehen wir im Alltag meist auch ohne ein klares Ja oder Nein, was eine andere Person gerade will. Das bekannteste Beispiel dürften die „Kopfschmerzen“ sein, die als Chiffre für sexuelle Unlust herhalten müssen.
Die australische Psychologin Rachael O’Byrne und ihre Kollegen ließen junge heterosexuelle Männer sich in Kleingruppen darüber austauschen, woran sie bei einem Date merkten, dass ihre Verabredung keine Lust auf Sex hat. Den Befragten fielen zahlreiche Indizien ein: eine abgewandte Körpersprache, einsilbige Antworten und Andeutungen wie „Es ist spät“ oder „Ich muss morgen früh zur Arbeit“.
Frauen flüchten sich oft in Ausreden oder gehen über ihre Grenzen
Als die Forscher aber auf sexuelle Grenzverletzungen zu sprechen kamen, wendete sich das Blatt: Plötzlich wollten die Interviewten von nonverbalen Hinweisen nichts mehr wissen. Stattdessen machten sie mehrdeutige Signale der Frauen für das Problem verantwortlich. „Frauen scheinen zu vergessen, dass Männer mit Subtilitäten nicht zurechtkommen“, klagte einer der Befragten. „Wenn die Situation unklar ist, tendiert ein Mann eher zu einer positiven Deutung“, ergänzte ein anderer.
Die Männer waren offenbar in der Lage, Situationen auch ohne ein ausdrückliches Ja oder Nein zu deuten und Signale des Zögerns oder Widerstands als solche zu erkennen, fraglich bleibt aber, inwiefern sie dieses Wissen auch nutzen – und beispielsweise einen sexuellen Moment abbrechen, wenn sich ihre Partnerin offenkundig unwohl fühlt. Denn ein klares Nein ist im echten Leben eher die Ausnahme als die Regel.
„Es gibt Situationen, in denen Menschen grenzüberschreitende Handlungen ertragen, weil sie sich aufgrund früherer Zustimmung dazu verpflichtet fühlen – ganz so, als hätten sie einen Point of no Return überschritten“, meint Kreutz. Interviewstudien legen nahe, dass Frauen häufig Ausflüchte oder Weichmacher nutzen, um ihre Ablehnung auszudrücken, etwa: „Ich mag dich, aber…“, oder: „Ich bin noch nicht so weit.“ Die befragten Frauen erklärten, sie wollten den Partner nicht verletzen und peinliche Momente vermeiden. Einige erklärten, sie würden den ungewollten Sex über sich ergehen lassen, nachdem sie ihren Partner bereits „heiß“ gemacht hätten, um nicht als Spielverderberin dazustehen.
Will ich oder will ich nicht?
Befunde wie diese lassen daran zweifeln, ob die Ja- oder Nein-Regelungen wirklich dazu beitragen, unerwünschten Sex zu verhindern. Diese Konsensmodelle gehen von selbstbestimmten Individuen aus, die stets wissen, was sie wollen, und das auch ausdrücken können. Die Wirklichkeit sieht oftmals anders aus: Neben äußeren Zwängen bestehen auch innere, die Menschen zu Dingen treiben, die sie selbst nicht richtig wollen – beispielsweise Rollenbilder darüber, was sich für Männer und Frauen geziemt.
Der Sexualforscher Volkmar Sigusch warnte bereits 2005 vor einer aufkommenden Konsensmoral: „Es scheint, als imitierten die Individuen scheinbar selbstbestimmt die allgemeinen Mechanismen, die ihnen ohnehin im Detail und step by step bestimmen, was zu geschehen hat und was nicht“, so Sigusch. Ähnlich skeptisch äußert sich die Philosophin Amia Srinivasan von der Universität Oxford. In ihrem aktuellen Buch Das Recht auf Sex wettert sie gegen die „Ja heißt ja“-Gesetze an US-amerikanischen Colleges: „Musste der Mann bisher aufhören, wenn die Frau nein sagt, muss er jetzt die Frau dazu bewegen, vorher ja zu sagen.“ Sie stellt infrage, dass sich althergebrachte Sexualnormen mit derartigen Regelwerken ändern ließen.
Tatsächlich holen nur sehr wenige Paare ein ausdrückliches Ja ein, bevor sie miteinander ins Bett gehen. Doch wie kommunizieren sie dann über Sex? Der Psychologe Malachi Willis von der Universität Glasgow und seine Kollegin Kristen Jozkowski erfassten, was in den Betten ihrer gut 80 Versuchspersonen vor sich geht. Einen Monat lang sollten diese über ihre Smartphones täglich ein paar kurze Fragen über ihr Sexleben beantworten. Sie sollten erklären, woran sie festmachten, dass alle Beteiligten mit den Geschehnissen einverstanden waren.
Kulturelle Skripte und Rollenerwartungen
Auf diese Weise sammelten Willis und Jozkowski lebensnahe Daten über rund 1000 sexuelle Momente, 95 Prozent davon werteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als einvernehmlich. Dabei beriefen sie sich teils auf stille Vereinbarungen zwischen beiden Partnern. Eine Probandin erklärte beispielsweise, es sei „immer ein Ja, außer einer von uns ist zornig oder müde“. Andere begnügten sich damit nicht, sondern nannten konkrete Hinweisreize in der Situation selbst, etwa Augenkontakt oder direkter verbaler Austausch: „Meine Freundin fragte, ob sie es mir besorgen könne, und ich sagte ja“, berichtete ein Teilnehmer.
Willis und Jozkowski waren neugierig, ob sich die Kommunikation mit der Länge der Beziehung änderte. Das Ergebnis überraschte sie: Je mehr sexuelle Erlebnisse ein Paar bereits miteinander teilte, desto seltener kommunizierte es direkt über seinen Sex – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Nach ungefähr 600 sexuellen Kontakten drehte sich der Trend plötzlich um. Die Paare verließen sich nun zunehmend weniger auf ihr Erfahrungswissen und kommunizierten wieder direkter miteinander. Möglicherweise brauchen Partner und Partnerin viel Zeit, bis sie sich einander wirklich öffnen und ohne Angst vor Zurückweisung über ihre Bedürfnisse reden können, so Willis und Jozkowski.
Ob Blicke, Körpersprache, Erfahrungswissen, Andeutungen oder ganz direkte Ansprachen: Menschen verfügen über eine große Bandbreite an Werkzeugen, um ihren Willen auszudrücken und den ihres Gegenübers einzuschätzen. Je nach Situation oder Konstellation scheinen sie mal das eine, mal das andere zu bevorzugen: So legen einige Studien nahe, dass schwule und lesbische Paare häufiger auf direkte Kommunikation setzen als heterosexuelle. Der Grund dafür ist unklar. Denkbar ist, dass sie weniger auf kulturell verbreitete „Skripte“ zurückgreifen können, die die Rollenerwartungen für Männer und Frauen in romantischen Situationen formen. Auch sexuelle Spielarten jenseits der Norm erfordern manchmal längere Vorgespräche, so etwa Rollenspiele oder sadomasochistische Praktiken (siehe Definition unten).
Zustimmen ist nicht gleich Wollen
Doch auch doppelbödige Kommunikation kann ein Mittel sein, um Konsens zu wahren. Bei einem Flirt ist es üblich, mit verdeckten Karten zu spielen, die eigenen Wünsche nur anzudeuten. Im Idealfall sorgt dieses Versteckspiel für Freiräume, um einander vorsichtig zu beschnuppern, Grenzen auszuloten – und sich bei Unwillen galant zurückzuziehen, ohne den Zauber verpuffen zu lassen. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek veranschaulicht das anhand einer Szene aus dem Spielfilm Brassed Off: „Möchtest du noch auf einen Kaffee raufkommen?“, fragt die Heldin ihren Flirt an der Türschwelle.
„Ich trinke keinen Kaffee“, zögert dieser. „Ich habe auch keinen da“, kontert sie – und entzieht ihrer Einladung damit keck den doppelten Boden. Hätte der Mann sich nun rückversichert, ob es statt um Kaffee eigentlich um Sex gehe, hätte er nicht nur den Moment ruiniert, sondern auch seine Begleitung beschämt, behauptet Žižek. „Das wahre Problem ist nicht, dass Kaffee nie nur Kaffee ist, sondern dass Sex nie nur Sex ist“, schreibt er. Deswegen brauche der Sex ein beigefügtes Phantasma, um funktionieren zu können – beispielsweise die Einladung zum Kaffee oder zum gemeinsamen Filmabend.
Sex ist nicht nur Sex, das meint auch: Zustimmen ist nicht das Gleiche wie Wollen. In der Debatte um Einvernehmlichkeit geht manchmal unter, dass Menschen aus ganz verschiedenen Gründen miteinander ins Bett gehen. Natürlich ist unmittelbare körperliche Lust ein guter Grund für Sex – aber eben nur einer von vielen. Manche erhoffen sich von Sex, anderen eine Freude zu bereiten, genießen die Bestätigung oder zielen auf Gefälligkeiten.
Festgefahrene Abläufe durchbrechen
Menschen in festen Partnerschaften haben häufig das Gefühl, dass Sex zu einer festen Bindung einfach dazugehört. Ähnliches berichtet auch Luise über das komplizierte Verhältnis zu ihrem Mann: „Früher war Sex für mich ein Zeichen dafür, dass wir uns lieben, dass alles okay ist. Wenn wir mal längere Zeit nicht miteinander schliefen, hatte ich schnell das Gefühl: Oje, die Beziehung ist kaputt! Ich hätte mir die Dinge auch damals schon anders gewünscht, dachte mir aber: Irgendetwas ist schon mal besser als gar nichts.“
Nicht jede Einwilligung kommt also aus purer Lust zustande. Umgekehrt will nicht jede Fantasie in Erfüllung gehen: Der kanadische Psychologe Christian Joyal befragte 1500 Menschen über ihre erotischen Sehnsüchte. Rund drei von zehn Personen erregte die Idee, geschlagen oder ausgepeitscht zu werden. Fast ebenso viele hatten schon fantasiert, zum Sex gezwungen zu werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Befragten damit einverstanden wären, wenn ihre Tagträume plötzlich in Erfüllung gehen würden.
Anders gesagt: Sex kann unerwünscht, aber durchaus einvernehmlich sein – und umgekehrt. Und um es noch komplizierter zu machen: Man kann Sex auch aus einem Grund wollen und aus einem anderen ablehnen. Eine Frau könnte beispielsweise Lust auf unverbindliche Affären haben, sich aber gleichzeitig sorgen, dann als „Schlampe“ zu gelten. Letztlich zählt, wozu eine Person zustimmt und wozu nicht. Das allein verrät aber noch wenig darüber, welche Motive hinter der Einwilligung eigentlich stehen. Um das offenzulegen, bedarf es einer langen und ehrlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben.
"Weiter so? Wie fühlt sich das an?"
Es bleibt die Frage: Was können etwa Paare tun, die trotz aller Vertrautheit das Gefühl haben, dass ihre sexuellen Wünsche zuweilen auf der Strecke bleiben? Simone Kreutz schlägt einen Blick auf Konsens vor, der nicht an vertragliche Klauseln erinnert: „Ich verstehe es lieber als einen kontinuierlichen Prozess, als Form der Verbundenheit und als Rahmen für gegenseitigen Respekt und Empathie“, sagt sie. „Unsere eigenen Wünsche können flüchtig sein und sich mit der Zeit wandeln.“
Wahrhaft einvernehmlicher Sex fragt also nicht nur nach dem Ob, sondern auch danach, welcher Sex sich für die Beteiligten gut anfühlt. Ein erster Schritt dorthin kann sein, dem Gegenüber intensive Aufmerksamkeit zu schenken und auf minimale Veränderungen in Mimik oder Verhalten zu achten. Wer sich unsicher ist, kann charmant nachfragen. Sätze wie: „Weiter so? Oder brauchst du eine Pause?“, oder: „Wie fühlt sich das an?“, dürften den sexuellen Flow im richtigen Moment eher anfachen als hemmen.
Zuletzt: Manchmal ist es an der Zeit, die eingeschliffenen Routinen über den Haufen zu werfen und den Sex völlig anders zu denken. Die Pioniere der Sexualtherapie, William Masters und Virginia Johnson, empfahlen frustrierten Paaren, für eine Zeit gänzlich auf Penetration zu verzichten. Stattdessen sollten sie sich damit begnügen, den Körper des Gegenübers ausgiebig zu erkunden und sich über die Empfindungen auszutauschen. Anschließend sollten sie einander sinnlich berühren, allerdings ohne dabei einen Höhepunkt anzustreben. All das kann dabei helfen, festgefahrene Abläufe zu durchbrechen, den eigenen Körper und den anderen besser zu spüren – und einander so im besten Fall auf eine neue Weise zu begegnen.
Sadomasochismus setzt sich zusammen aus den Begriffen Sadismus und Masochismus und beschreibt, dass jemand sowohl das Erleben als auch das Auslösen von Schmerz sexuell erregend und lustvoll findet. Die sadomasochistische Community wendet Strategien an, um selbst sexuelle Spiele mit Zwang, Schmerz und Unterwerfung einvernehmlich zu gestalten. Dazu zählen: umfangreiches Abfragen von Vorlieben, ein Ampelsystem (rot = aufhören) oder ein Safewort, das das Spiel sofort beendet.
Quellen
Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert. Klett-Cotta, Stuttgart 2022
Rona Torenz: Ja heißt Ja? Feministische Debatten um einvernehmlichen Sex. Schmetterling, Stuttgart 2019
Melissa Burkett u.a.: Postfeminist sexual agency: Young women’s negotiations of sexual consent. Sexualities, 15/7, 2012, 815–833
Christian Joyal u.a.: What Exactly is an Unusual Sexual Fantasy? The Journal of Sexual Medicine, 12/2, 328–340, 2015. DOI: 10.1111/jsm.12734
Kristen Jozkowski u.a.: College students and sexual consent: Unique insights. Journal of Sex Research, 50/6, 517–523, 2013. DOI: 10.1080/00224499.2012.700739
Celia Kitzinger u.a.: Just say no? The use of conversation analysis in developing a feminist perspective on sexual refusal. Discourse & Society, 1/3, 293–316, 1999.
Charlene Muehlenhard u.a.: The Complexities of Sexual Consent among College Students: A Conceptual and Empirical Review. Journal of Sex Research, 53/4–5, 457–487, 2016. DOI: 10.1080/00224499.2016.1146651
Rachael O’Byrne u.a.: If a girl doesn't say ‘no’…”: young men, rape and claims of ‘insufficient knowledge. Journal of Community & Applied Social Psychology, 18/3, 168–193, 2007. DOI: 10.1002/casp.922
Volkmar Sigusch. Neosexualitäten: über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Campus Verlag, Frankfurt 2005.
Rona Torenz: The Politics of Affirmative Consent: Considerations from a Gender and Sexuality Studies Perspective. German Law Journal, 22/5, 718–733, 2021. DOI: 10.1017/glj.2021.33
Malachi Willis u.a: Sexual Precedent’s Effect on Sexual Consent Communication. Archives of Sexual Behavior, 48/6, 1723–1734, 2019. DOI: 10.1007/s10508-018-1348-7