Wie wir schüchtern glücklich sein können

Schüchterne Menschen müssen nicht unter ihrer Zurückhaltung leiden. Außer, sie lassen zu oft Chancen verstreichen. Wie wir uns im richtigen Maß überwinden.

Die Illustration zeigt eine blaue Person auf dem Boden sitzend, die Hände um die Beine geschlungen, die schüchtern schaut und umringt ist von Pflanzen, deren Blätter aus Augen bestehen
Schüchterne Menschen trauen sich manchmal nicht, auf anderen Menschen zuzugehen – dabei wünschen sie es sich. © Hanna Barczyk für Psychologie Heute

Traf er auf der Straße Bekannte, brachte er es nicht über sich zu grüßen. Er wechselte sogar die Straßenseite, „um das ungute Gefühl zu vermeiden“. So schreibt es der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda in seinen Memoiren, die 1974, kurz nachdem er gestorben war, erschienen. Mit dem „unguten Gefühl“ meint er die Schüchternheit, der er ein eigenes Kapitel widmet. Er beschreibt sich in jungen Jahren, aber auch später als „eine Art Taubstummer“. Zwar habe er „unbestimmt“ gefühlt, dass er „gar…

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er „gar nicht so schlecht aussah“. „Doch statt mich den Mädchen zu nähern, wohlwissend, daß ich vor ihnen stottern und erröten würde, zog ich vor, ihnen die kalte Schulter zu zeigen und Interesselosigkeit zu heucheln.“

Die Schüchternheit sei ein „merkwürdiger Seelenzustand, eine Kategorie, eine Dimension, die sich der Einsamkeit öffnet“. Er geht noch weiter, nennt sie ein „untrennbares Leiden, als habe man zwei Epidermen und als werde die zweite, innere Haut gereizt und verschließe sich dem Leben“. „Unnötig lange“ habe sie ihn begleitet, schreibt Neruda.

Ein ähnliches Gefühl haben viele Menschen, manche stärker, andere schwächer. US-Studien gehen davon aus, dass sich bis zu fünfzig Prozent der Bevölkerung als schüchtern einschätzen, zwei Drittel davon empfinden das als Problem. Während sich die einen entmutigt in ihre Schüchternheit zurückziehen, gelingt es den anderen, einen positiven Umgang mit ihr zu finden. Nur: Wie machen sie das?

Schüchternheit auch körperlich spürbar

Soziale Situationen sind für schüchterne Menschen eine Herausforderung, für viele von ihnen sogar eine große Belastung. Vor allem im Kontakt mit Fremden fühlen sie sich unwohl, reagieren ängstlich und gehemmt. Das macht sich auch im Körper bemerkbar: Forscher aus den USA fanden heraus, dass bei Schüchternen nicht nur die Herzfrequenz und der Kortisolspiegel, also das Stresshormonlevel erhöht sind, wenn sie auf Unbekannte treffen. Auch die Aktivität in der Amygdala ist deutlich gesteigert, jenem Ort im Gehirn, der wesentlich an der Entstehung von Angst beteiligt ist.

„Schüchterne brauchen länger, um in sozialen Situationen warm zu werden“, sagt der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Humboldt-Universität zu Berlin. „Ihr Problem ist der Sprung in die Interaktion.“ Während sie in vertrauten Situationen oft keine Schwierigkeiten hätten, mangele es ihnen im Kontakt mit Fremden an Selbstbewusstsein. Sie befürchteten, nicht interessant genug zu sein, sich falsch zu verhalten, negativ aufzufallen. Einen Smalltalk mit Unbekannten zu führen sei für Schüchterne ein Graus, sagt Asendorpf. „Aber wenn ihnen ein Thema zusagt, werden sie offen und gesprächig.“ Die Blockade ist dann erst einmal überwunden.

Schüchterne seien hin- und hergerissen zwischen Interesse und Gehemmtheit, sagt Asendorpf. Sie möchten in Kontakt treten, trauen sich aber nicht. Wegen dieser Zögerlichkeit stellen sie sich häufig infrage und meinen, mehr auf andere zugehen zu müssen.

„Man sollte sich aber fragen: Warum will ich mich ändern – für mich selbst oder für andere?“, sagt Asendorpf. Denn für Außenstehende sei Schüchternheit meist überhaupt nicht störend, sie schränke schließlich niemanden außer die Betroffenen selbst ein. „Am Ende muss man die eigene Schüchternheit mit sich selbst ausmachen“, sagt Asendorpf. Denn auch wenn man etwas gegen sie tun kann– völlig verschwinden wird sie nie.

Welchen Einfluss haben die Gene?

Schüchternheit gilt als Charaktereigenschaft. „Sie ist eine Normalvariante der Persönlichkeit und kein Grund für eine Therapie“, sagt der Psychologe. Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass Schüchternheit als Persönlichkeitsmerkmal zu 40 bis 50 Prozent genetisch bedingt sei, den Rest machten äußere Einflüsse aus. „Bei Neugeborenen gibt es große Temperamentsunterschiede, das berichten schon Krankenpfleger und -pflegerinnen auf der Babystation“, sagt Asendorpf.

Als Persönlichkeitsmerkmal sei die Schüchternheit für Kinder erst einmal nicht belastend. Manche spielen gern allein oder brauchen länger, um den Kontakt mit anderen Jungen oder Mädchen aufzunehmen. Für sie ergebe sich daraus zunächst kein Problem, sagt Asendorpf. Problematisch werde es erst ab der zweiten Klasse. Denn mit etwa acht Jahren beginnen Kinder, sich mit Gleichaltrigen zu vergleichen. Sie erkennen, dass sie sich anders verhalten und deshalb unter Umständen abgelehnt oder übersehen werden. Erst wenn sie die Reaktionen der anderen als abwertend wahrnehmen, beginnt das Selbstwertgefühl zu leiden.

Für den österreichischen Psychoanalytiker Alfred Adler spielte der Selbstwert bei der Betrachtung der menschlichen Psyche eine große Rolle. Seiner Auffassung nach dient schüchternes Verhalten auch dazu, das eigene Selbstwertgefühl vor Verletzungen zu schützen. Ein Schüler könnte sich zum Beispiel für dumm halten; um diese Rückmeldung von den anderen gar nicht erst zu bekommen, verhält er sich still. Schüchternheit ist demnach ein Symptom von Minderwertigkeitsgefühlen (siehe Definition unten).

Die Stärken der Schüchternen

Die Individualpsychologie, jene Form der Psychoanalyse, die Adler Anfang des 20. Jahrhunderts begründete, beleuchtet das Individuum besonders stark im Kontext seiner Umgebung. Nach Adler ist der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen, jede seiner Handlungen ist auf die Gemeinschaft bezogen. Der Schüchterne jedoch zieht sich zurück und schafft dadurch eine Distanz zu seinen Mitmenschen. Er entwickelt eine ängstlich-zögerliche Haltung seiner Umwelt und generell dem Leben gegenüber. Situationen, in denen er sich unsicher oder minderwertig fühlen könnte, meidet er.

Diese Zurückgezogenheit kann laut Adler zu „Menschenscheu, Berufsangst, Liebes- und Ehescheu“ führen. Gleichzeitig verstärkt sie die Selbstbeobachtung. Schüchterne nehmen häufig die Außenperspektive ein, also den Blick der Fremden auf sich. Genau das kann eine Qualität sein. „Dadurch können sie fähig werden, über sich nachzudenken, sich selbst zu beobachten, zu reflektieren“, sagt die Berliner Psychotherapeutin Katharina Kaminski, die durch die Individualpsychologie geprägt wurde.

Wer sich von außen betrachtet, ist aber auch weniger bei sich und selten in der Lage, sich einem Moment ganz hinzugeben. Schüchterne grübeln häufig darüber nach, was andere über sie denken könnten. Diese grundsätzliche Unsicherheit kann Kaminski zufolge in befremdlichen Situationen spontan eine starke Angstreaktion auslösen. Die mache sich oft auch körperlich bemerkbar, etwa durch Stottern, Schwitzen oder Erröten, was viele Schüchterne als besonders unangenehm empfinden.

„Im Symptom des Errötens kann sich eine unbewusste Ambivalenz ausdrücken“, sagt Kaminski. Das Gesicht werde auffällig rot, obwohl man eben gerade nicht auffallen möchte. „Das kann darauf hindeuten, dass es bei der Schüchternen zum einen das Verlangen gibt, sich zu verbergen, und gleichzeitig den Wunsch, gesehen zu werden.“ Viele hätten eine Sehnsucht, intensiver am Leben teilzunehmen, seien aber gleichzeitig kaum fähig, das auszuhalten.

Leidensdruck ist unterschiedlich ausgeprägt

Heutzutage werde Schüchternheit vielleicht stärker als Handicap empfunden als noch vor hundert Jahren, meint die Psychotherapeutin. „Damals waren Bescheidenheit oder allein sein zu können hohe gesellschaftliche Werte.“ Heute gehe es oft eher darum, sich vor anderen zu präsentieren. Soziale Medien wie Instagram, TikTok oder Twitter sind darauf ausgelegt, die eigene Person möglichst perfekt und reichweitenstark zu inszenieren. Vor einem solchen Hintergrund werde die Schüchternheit erst zum Thema – weil sie nicht hineinpasst.

Zu Kaminski kommen Patienten meist dann, wenn die Schüchternheit bestimmte Lebensbereiche einschränkt. In Liebesbeziehungen spiele etwa Scham bei der Sexualität eine Rolle. Man findet seinen Körper nicht in Ordnung, steht deswegen neben sich und traut sich weder zu, sich fallenzulassen, noch die Sexualität mitzugestalten, sagt Kaminski. Eine weitere Unsicherheit sei jene vor spontanen Begegnungen, vor dem Sprechen in Gruppen, ob im Studium, der Ausbildung oder am Arbeitsplatz. Schüchterne hadern oft mit ihren überhöhten Ansprüchen an sich selbst, hätten Angst vor Fehlern.

Der Leidensdruck sei je nach Person unterschiedlich hoch, sagt Kaminski, bei manchen sei die Ablehnung ihrer selbst sehr groß. Wie Schüchternheit erlebt werde, hänge auch vom Geschlecht ab. In unserer Kultur werde sie bei Mädchen oft als weniger schlimm empfunden, häufig werde sie sogar gutgeheißen und gelobt. „Schüchternheit ist immer noch mit Weiblichkeit assoziiert: fügsam, unterordnend und zurücknehmend sein“, so Katharina Kaminski. „In unserer immer noch patriarchalen Gesellschaft passt Schüchternheit nicht zu Männlichkeit.“

Kein Platz für schüchterne Männer in der Gesellschaft

Männer stünden unter einem hohen Druck, sich als coole Typen beweisen zu müssen. Viele überspielten ihre Schüchternheit mit dem Gegenteil: laut sein, sich die Maske des harten Mackers überziehen. Oder sie rauchen, trinken, nehmen Drogen. „Man müsste Mädchen von Anfang an zutrauen, expansiv zu sein und eine Meinung zu haben. Und Jungen, dass sie auch weich sein dürfen“, sagt Kaminski.

Die Auswertung einer Langzeitstudie aus den USA hat gezeigt, dass schüchterne Männer wegen ihrer Aufwärmschwierigkeiten eine Verzögerung im Lebenslauf haben. Die Studie begleitete 182 Kinder, die in den Jahren 1928/29 geboren worden waren, bis zum Alter von 40 Jahren. Man konnte feststellen, dass Männer, die in ihrer Kindheit schüchtern waren, im Schnitt drei Jahre später heirateten, ihr erstes Kind vier Jahre später bekamen und erst drei Jahre später ihre Berufskarriere starteten als weniger schüchterne.

Doch am Ende bekamen sie im Schnitt so viele Kinder wie nicht schüchterne Männer, führten ebenso stabile Ehen und waren im Job genauso erfolgreich. Zurückhaltende Mädchen zeigten in der Studie hingegen keine Verzögerung, sie heirateten eher beruflich ambitionierte Männer und arbeiteten deshalb im Schnitt drei Jahre weniger. Schüchterne Frauen waren also besser angepasst an die gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Zeit als schüchterne Männer.

Das habe sich mittlerweile geändert, sagt Asendorpf. Eine Studie von 2010 habe gezeigt, dass nun auch bei schüchternen Frauen eine Verzögerung im Lebenslauf auftritt: „Früher galten schüchterne Frauen als begehrenswert, doch durch die Emanzipation haben sich die Vorstellungen von Persönlichkeit dem männlichen Ideal angeglichen.“

Einen Grund zur Sorge sieht er in der verzögerten Entwicklung aber keineswegs. „Schüchterne sind vielleicht später dran, aber sie erreichen letztendlich alle wesentlichen Meilensteine der Entwicklung.“ Asendorpf warnt deshalb davor, Schüchternheit zu schnell zu problematisieren. Die Pathologisierung normaler Persönlichkeitsvarianten hält er für gefährlich. Betroffene könnten sich dadurch stigmatisiert fühlen: Das Selbstwertgefühl sinkt und man spürt den Wunsch, sich zurückzuziehen.

Von der Zurückhaltung zur Angststörung?

Einige Studien legen nahe, dass Schüchterne ein höheres ­Risiko haben, später an einer sozialen Angststörung zu erkranken (siehe Kasten unten). Asendorpf hat daran allerdings Zweifel. Er sieht bei vielen Studien das Problem, dass gehemmte Erwachsene oft glauben, schon immer schüchtern gewesen zu sein, obwohl das gar nicht der Fall ist. Diese ­falsche Einschätzung verzerre das Ergebnis der Untersuchungen.

Was jedoch klar ist: Die Grenze zwischen starker Schüchternheit und sozialer Phobie, wie die soziale Angststörung auch genannt wird, ist fließend. Sie könne nur bedingt objektiv gemessen werden, sagt Jürgen Hoyer, Professor für behaviorale Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden. Es gehe um die subjektive Empfindung. „Die Frage ist: Können Sie trotzdem alles, was im sozialen Umfeld nötig ist?“ Sobald die Angst den Alltag einschränkt, weil man etwa nicht mehr in der Lage ist, an Prüfungen oder einem Essen mit der Chefin teilzunehmen, sollte man hellhörig werden.

Ein Bewerbungsgespräch ist zum Beispiel für die meisten Menschen eine nervenaufreibende Angelegenheit. „Ein Schüchterner findet die Situation zwar unangenehm, kann sie aber letztlich bewältigen“, sagt Hoyer. Ist man jedoch nicht in der Lage, sich der Situation zu stellen, oder erfindet sogar Ausreden, um sie zu vermeiden, kann es sich um eine soziale Angststörung handeln. Der Leidensdruck ist bei Menschen mit einer sozialen Phobie höher als bei sehr schüchternen. Im Vergleich sind Schüchterne in ihrem Alltag weniger beeinträchtigt und haben eine höhere Lebensqualität.

Hoyer leitet derzeit eine Studie, für die Forschende der Unis Dresden und Frankfurt mit einem Berliner Start-up eine App entwickeln. Sie soll Menschen mit verschiedenen Alltags­übungen helfen, ihr Leben unabhängig von den Ängsten zu gestalten. Mit einer App ließen sich viele Betroffene erreichen, meint der Psychotherapieforscher – und soziale Angststörungen seien sehr gut zu behandeln. Es gehe darum, die eigenen Sicherungsmechanismen zu überwinden.

Die App gebe dafür Anregungen, die auf die jeweiligen Nutzerinnen angepasst sind, ähnlich wie in einer Therapiesitzung. Statt auf einer Party nur in der Ecke zu stehen, animiert sie dazu, aktiv auf andere zuzugehen und den Smalltalk zu suchen. Oder statt lange nachzudenken, einfach das Erstbeste zu sagen, was einem in den Kopf kommt. Es sind Übungen, die auch Schüchternen helfen können, ihre Hemmungen zu überwinden.

Gar nicht so unbeholfen wie gedacht

Generell sei Schüchternheit, sollte sie als belastend empfunden werden, meist erfolgreich zu behandeln, sagt Hoyer. Die tiefenpsychologisch fundierte Therapie, wie etwa Katharina Kaminski sie durchführt, möchte in Gesprächen zu mehr Selbsterkenntnis führen. Indem der Betroffene versteht, warum er sich zögerlich verhält, soll er zu einem positiveren Umgang mit der Schüchternheit finden. Er wird nicht gedrängt, sie zu überwinden, sondern ermutigt, sich selbst mehr zuzutrauen.

Die Verhaltenstherapie, die Hoyer vertritt, setzt dagegen auch auf Expositionssitzungen. Das sind Übungen, bei denen man sich mit der Sache konfrontiert, vor der man Angst hat. Denkbar wäre etwa, dass eine schüchterne Person beim Kauf eines Buches oder Kleidungsstückes um eine ausführliche Beratung bittet oder sich beim Mittagessen mit den Kolleginnen aktiv am Gespräch beteiligt. Durch die wiederholte Erfahrung, dass sie diese unangenehme Situation überstehen kann, verliert sie die Angst davor. Manchmal werden Expositionssitzungen mit einer Kamera aufgezeichnet.

Wenn sich die Patientin die Aufnahme später ansieht, erkennt sie zum Beispiel, dass sie gar nicht so unbeholfen wirkt, wie sie dachte. Zusätzlich helfen regelmäßige Herausforderungen im Alltag, Hemmungen abzubauen. Dabei geht es um Situa­tionen, die jedem, auch nicht Schüchternen ein bisschen Mut abverlangen, dem Schüchternen jedoch noch ein wenig mehr. Man könnte etwa möglichst oft mit fremden Personen Blickkontakt aufnehmen, nach der Uhrzeit oder dem Weg fragen.

„Beiden, Patientin und Therapeut, macht es Spaß, Fortschritte zu erkennen“, sagt Hoyer. Es gehe darum, nicht mehr so stark auf die Angst zu achten. Vor allem aber sollten Schüchterne lernen, sich selbst anzunehmen. „Schüchternheit ist zwar veränderbar“, so Hoyer, „aber es gibt eben Leitplanken im Leben. Man kann Menschen nicht neu programmieren. Sie sind eben so, wie sie sind. Über Schüchternheit zu grübeln macht genauso wenig Sinn, wie sich Gedanken zu machen, ob man zu groß oder zu klein ist.“

Chancen im richtigen Moment ergreifen

Das Risiko bei Schüchternen ist, dass sie unter ihren Möglichkeiten bleiben. Dass ihr Leben an ihnen vorbeirauscht, weil sie sich nicht trauen, Chancen zu ergreifen, die sich ihnen bieten. Sollte das aber nicht der Fall sein, weil man mit der eigenen Zurückhaltung umzugehen weiß, sei eine Veränderung überhaupt nicht nötig – teils auch nicht gewünscht. „Schüchterne setzen sich sozialen Situationen zwar nicht so gerne aus, die meisten kommen im Sozialleben aber dennoch gut zurecht“, sagt Hoyer.

Und mehr noch: Schüchterne Menschen seien durchaus beliebt. Zu Führungspersonen einer Gruppe, sei es als Klassensprecherin oder als Projektleiter, würden statt der Lauten auch gern die Zurückhaltenden gewählt – weil sie engagiert wirkten, sich aber nicht in den Vordergrund drängten. „Man müsste stärker zum Verständnis kommen, dass auch leise Personen einen wertvollen Beitrag leisten können“, so Jürgen Hoyer.

Berufswahl erfüllt den Wunsch, gesehen zu werden

Viele Schüchterne wählen – vielleicht auch unbewusst – eine Arbeit, bei der sie viel mit Menschen in Kontakt treten: Lehrerin, Erzieher, Pflegerin, Kellner. Innerhalb der klar definierten Berufsrolle falle die Verbindung mit der Außenwelt leichter oder sei auf diese Weise sogar erst möglich, schreibt Margarete Eisner in ihrem Buch Über Schüchternheit. Wie Katharina Kaminski ist auch Eisner Psychotherapeutin in Berlin. Sie meint, dass hinter der Berufswahl schüchterner Menschen eine verdrängte Sehnsucht stecken könne: der Wunsch, gesehen zu werden. Besonders deutlich werde er etwa bei Schauspielerinnen.

Die schwedische Hollywood-Ikone Ingrid Bergman galt als selbstbestimmt und unabhängig, wenn es um ihre Arbeit ging. Die dreifache Oscar-Preisträgerin ließ sich nicht vorschreiben, was sie zu tun hatte, hielt sich nicht an Normen und Regeln. So berichtet es ihr Biograf Thilo Wydra. Doch im Privaten sei Bergmann ganz anders gewesen. Er spricht von einer „Tiefambivalenz“, ja gar „Zerrissenheit“, „dass sie privat sich wirklich von allen etwas hat sagen lassen müssen, dass sie sehr scheu, sehr schüchtern, sehr introvertiert war“.

Ingrid Bergmann, aber auch Pablo Neruda sind keine Ausnahmen. Viele Künstler seien schüchtern, sagt Psychotherapeutin Katharina Kaminski. Mit ihrer kreativen Arbeit – einer Rolle oder einem Text – verbinden sie sich indirekt mit den Mitmenschen und der Außenwelt.

Wie Ehrfurcht helfen kann

„In der eigenen Lebensorientierung steht man immer wieder vor den Optionen: eine Brücke zu den Mitmenschen schlagen und so am Leben teilnehmen oder im Rückzug steckenbleiben“, sagt Kaminski. „Schüchterne Menschen entwickeln oft ein lebendiges Innenleben, sie haben viel Fantasie.“ Diese über den Umweg einer kulturellen Leistung auszudrücken sei eine gute Kompensationsmöglichkeit und ein produktiver Weg, mit Schüchternheit umzugehen.

In ihrem Buch greift Psychologin Margarete Eisner diesen kulturellen Aspekt auf. Über Kunst, Literatur oder die Orientierung an Vorbildern könne es gelingen, die eigene Schüchternheit zu überwinden. Eisner eröffnet eine interessante Kategorie, nämlich die der erstrebenswerten Schüchternheit. Sie beschreibt diese als „Schüchternheit angesichts dessen, was Menschen bisher an Lebenswerten und Kulturgütern geschaffen haben“. Diese „kulturelle Schüchternheit“, schreibt Eisner weiter, „ließe sich mit Respekt oder Ehrfurcht oder echter Bescheidenheit charakterisieren“ angesichts all dessen, „was die Menschheit bisher an Wissenschaften und Technik, an Philosophie, Kunst und Sprache, an Werten und Kultur geschaffen hat“.

Eine solche Haltung könne den Impuls auslösen, selbst ein Teil dieses Ganzen werden zu wollen und dafür die schüchternen Hemmungen immer wieder zu überwinden. Dabei helfe, nachsichtig und respektvoll mit sich wie mit anderen umzugehen, die eigenen Fähigkeiten für sich und seine Mitwelt zu fördern. Und so den Mut zu entwickeln, sich so zu zeigen, wie man eben ist.

Minderwertigkeitsgefühl

Dieser populäre Begriff wurde von Alfred Adler in die Psychologie eingebracht. Adler zufolge spornt das Empfinden der Unzulänglichkeit viele Menschen an und führt unter anderem zu großen Leistungen. Es sei nicht nur die treibende Kraft des Individuums, sondern stecke auch hinter der gesamten menschlichen Kultur. Die Ursachen lägen sowohl in objektiven Schwächen, beispielsweise des Körpers, als auch subjektiv wahrgenommenen, jemand könnte etwa meinen, dass er sozial unfähig ist.

Soziale Angst und Introversion

Zwei Begriffe, die sich mit Schüchternheit überschneiden und doch wesentlich von ihr unterscheiden:

Soziale Phobie

Anders als die Schüchternheit ist die soziale Angststörung oder auch soziale Phobie eine psychische Krankheit. Sie zeichnet sich aus durch eine „ausgeprägte und übermäßige Furcht oder Angst, die konsistent in einer oder mehreren sozialen Situationen auftritt“, so das Diagnosehandbuch ICD-11. Solche Momente können etwa Gespräche sein oder gemeinsame Mahlzeiten. Betroffene machen sich Sorgen, dass andere sie negativ bewerten könnten – wegen ihres Verhaltens oder speziell wegen der Symptome ihrer Angst, zum Beispiel dem Zittern.

Sie vermeiden soziale Situationen oder ertragen sie „mit intensiver Furcht“. Während sich schüchterne Menschen in sozialen Momenten einfach manchmal unwohlfühlen, erleben Menschen mit dieser Krankheit so starke Symptome, dass sie das Leben enorm belasten. Beispielsweise wenn die Angst so groß ist, dass sie Prüfungen nicht wahrnehmen oder nicht vor ­anderen essen können.

Introversion

Introvertiert“ wird häufig synonym mit „schüchtern“ verwendet. Denn auch eine introvertierte Person hält sich in sozialen Situationen tendenziell zurück. Aber nicht weil sie wie ein schüchterner Mensch Hemmungen hat, sondern weil die Interaktionen sie erschöpfen. Vereinfacht könnte man sagen, die introvertierte Person will allein sein, während die schüchterne dies gar nicht will, aber sich nicht traut, auf andere zuzugehen.

Introversion gilt als sehr stabile Persönlichkeitseigenschaft, ihr Gegenpol ist die Extraversion. Wer extravertiert ist, also unter anderem stark an Kontakten interessiert, kann dabei zugleich unsicher sein – und damit schüchtern.

Anne Kratzer

Quellen

Bernardo J. Carducci: Erfolgreich schüchtern. Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 2000

Margarete Eisner: Über Schüchternheit. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte. V&R Unipress, Göttingen 2012

Lynne Henderson, Philip Zimbardo: Shyness, relationship to social anxiety and social phobia. Allyn & Bacon, New York, 2001

Jürgen Hoyer und Samia Härtling: Soziale Angst verstehen und verändern. Springer, Berlin 2016

Pablo Neruda: Ich bekenne, ich habe gelebt. Memoiren. Luchterhand, München 2003

Franz. J. Neyer, Jens B. Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. Springer, Berlin 2017

Carl E. Schwartz u.a.: Inhibited and uninhibited infants Grown Up Adult amygdalar response to novelty. 6/ 2003, Science300 (5627): 1952-3.

Michele M. Volbrecht, H. Hill Goldsmith: Early Temperamental and Family Predictors of Shyness and Anxiety. 09/ 2010. Dev Psychol. 46(5): 1192–1205. 

„Ingrid Bergman war eine sehr freie, moderne Frau“, www.deutschlandfunk.de, 28.04.2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein