Eine segensreiche Tugend

Psychologie nach Zahlen: Schon antike Philosophen priesen sie an. Nun entdeckt auch die Psychologie die 4 Vorzüge der Bescheidenheit.

Die Illustration zeigt Diogenes, der in einer Tonne sitzt und glücklich ist, davor ein Hund
Hauptsache, mir steht keiner in der Sonne – mehr brauch ich gar nicht! © Till Hafenbrak

Antike Philosophen priesen sie an. Christliche Kirchenväter verlangten nach ihr. Und Literaten erkannten früh ihr Potenzial: „Wodurch wird Würd und Glück erhalten lange Zeit? Ich meyne: durch nichts mehr als durch Bescheidenheit“, schrieb der Barockdichter Friedrich von Logau. Heute widmen sich auch Wissenschaftler der Bescheidenheit. Ihre Studien führen vor Augen, wie positiv und tiefgreifend diese Eigenschaft unser Leben beeinflussen kann. Und fragt man – ganz unbescheiden –, was die Bescheidenheit uns denn zu bieten hat, so nennen die Psychologen (mindestens) vier Vorzüge.

1. Sie stärkt den eigenen Charakter

Die Bescheidenheit ist Ausgangspunkt für ein achtsames Leben. In einer aktuellen Studie legen der australische Psychologe Eddie Harmon-Jones und seine Kollegen nahe, dass bescheidene Menschen dankbarer als andere sind. Auch helfe diese Haltung dabei, die kleinen Momente des Alltags wertzuschätzen. Außerdem fördert sie laut den amerikanischen Forschern Everett Worthington Jr. und Don Davis eine gesunde Selbstreflexion. „Denn bescheiden zu sein bedeutet, sich selbst mitsamt seinen Schwächen und Problemen richtig einzuschätzen.“ Ihre Fehler gestehen sich bescheidene Menschen meist ohne viel Hadern ein. Sie können sich die kleinen wie großen Irrtümer auch schneller verzeihen – und machen sich selbst nicht unnötig viel Druck und Stress. So stärkt Bescheidenheit die innere Ruhe. Da die Mäßigung laut Harmon-Jones und seinem Team zudem die Offenheit gegenüber der Umwelt fördert, erleichtert sie es grundsätzlich, sich auf neue Dinge einzulassen, die letztlich guttun und zufriedener stimmen. Außerdem: Eine gute Charaktereigenschaft kommt selten allein – bescheidene Menschen tendieren dazu, großzügiger, entgegenkommender und warmherziger zu sein.

2. Sie kräftigt das Miteinander

Bescheidenheit verleiht dem Umgang mit anderen Menschen eine freundliche Authentizität. „Bescheiden zu sein heißt auch, sich vor anderen als eben die Person zu präsentieren, die man ist“, schrei­ben Worthington Jr. und Davis. Das Bedürfnis, sich im positiven Licht darzustellen und andere zu beeindrucken, spüren bescheidene Personen nur selten. Sie bleiben sie selbst und sind dadurch in der Lage, stabilere Bindungen aufzubauen. Wer bescheiden ist, neigt ferner zur Ehrlichkeit – was ihm hilft, vertrauensvolle Beziehungen und Freundschaften zu führen. Außerdem betrachtet er sich selbst und andere als gleichwertig. Deshalb geht er mit ihnen eher gewissenhaft und gerecht um. „Bescheidene Menschen manipulieren andere nicht für ihren persönlichen Vorteil“, beobachteten die kanadischen Forscher Elliott MacDonell und Teena Wil­loughby. „Sie folgen Regeln und verschreiben sich nicht materiellen Zielen.“ Im Berufsleben nehmen die Bescheidenen stärker Rücksicht auf Kollegen, fühlen sich nicht schon durch Kleinigkeiten herausgefordert und lassen sich generell weniger leicht provozieren. Bescheidene Menschen sind weniger impulsiv und aggressiv – auch dadurch sind sie für ihre Mitwelt ein Segen.

3. Sie erleichtert das Lernen

Bescheidenheit ist förderlich für den Aufbau eines reichen Wissensschatzes. Zunächst einmal scheinen bescheidene Personen ihren Kenntnisstand zuverlässiger einzuschätzen als andere. Das bietet ihnen entscheidende Vorteile. Etwa weil sie genauer wissen, ob sie sich auf eine neue Aufgabe noch besser vorbereiten oder für einen bevorstehenden Test noch intensiver üben müssen. Außerdem geht Bescheidenheit oft einher mit Eigenschaften wie Neugier, Offenheit und einem intensiven Bedürfnis, zu begreifen und zu verstehen. „So scheint Bescheidenheit all jene Eigenschaften zu begünstigen, die unserer Lernmotivation zugutekommen“, schreiben die Psychologin Elizabeth Krumrei-Mancuso und ihre Kollegen. Und weil Mäßigung mit Fairness und Offenheit gegenüber anderen Menschen korrespondiert, lässt sie den Einzelnen auch stärker von dem gemeinsamen Lernen in Gruppen profitieren. Einen Nachteil gibt es aber für die Bescheidenen: „Sie tendieren dazu, ihre kognitiven Fähigkeiten zu unterschätzen“, berichtet Krumrei-Mancuso von der amerikanischen Pepperdine University.

4. Sie schützt die Natur

Bescheidenheit ist eine Tugend – eine Tugend, die dem Planeten helfen könnte. Darauf lassen gleich mehrere Studien der letzten Jahre schließen. Eine bescheidene Einstellung erlaubt uns, von unserer menschzentrierten Haltung Abstand zu nehmen. Forscher sprechen von environmental humility (Umweltbescheidenheit). Diese Form der Mäßigung lädt unter anderem dazu ein, entscheidende Fragen zu stellen, etwa: Was braucht die Natur? Wie können wir ihr helfen? Wie können wir sie besser schützen? Die umweltförderliche Bescheidenheit lässt sich strategisch fördern. Jüngst hat der amerikanische Psychologe August John Hoffman in einer Studie gezeigt, dass Aktivitäten wie das Ernten uns dazu animieren, genügsamer und wertschätzender mit den Ressourcen der Natur umzugehen. Und das kommt dann wiederum nicht nur der Natur, sondern uns allen zugute.

Everett Worthington Jr., Don Davis, Joshua Hook: Handbook of humility. Theory, research, and applications. Routledge, New York 2017

August John Hoffman: Environmental humility, “wicked problems,” and green space activity: A collaborative approach to sustainable behaviors. Environmental Justice, 13/2, 2020. DOI: 10.1089/env.2019.0042

Eddie Harmon-Jones u.a.: Humility is associated with less aggressive motivation. Personality and Individual Differences, 158, 2020. DOI: 10.1016/j.paid.2020.109837

Elizabeth Krumrei-Mancuso u.a.: Links between intellectual humility and acquiring knowledge. The Journal of Positive Psychology, 15/2, 2020. DOI: 10.1080/17439760.2019.1579359

Elliott MacDonell, Teena Willoughby: Investigating honesty-humility and impulsivity as predictors of aggression in children and youth. Aggressive Behavior, 46/1, 2020. DOI: 10.1002/ab.21874

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2020: So gelingt Entspannung
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