Demut: Ein vergessener Weg zum Glück

Demut galt lange als verstaubte Tugend. Heute wird sie von der positiven Psychologie wiederaufgenommen, denn sie kann unser Wohlbefinden stärken.

Die Illustration zeigt eine Frau, die einen schönen Garten mit Menschen, die gärtnern , im Arm hält
Nehmen wir unser Ego zurück und werden uns unseren Schwächen bewusst, so schafft das Verbundenheit und macht glücklich. © Natalia Bzdak für Psychologie Heute

Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“, sprach der Pfarrer und strich uns ein Kreuz aus Asche auf die Stirn. Ich war ein Kind, begriff die Worte nicht so ganz, fand sie aber trotzdem zu traurig, um sie Kindern zu sagen. Zugleich war das Ritual faszinierend, denn es verriet eine Wahrheit aus der Erwachsenenwelt. Und danach durften wir mit Dreck im Gesicht herumlaufen.

Die Asche, die uns jedes Jahr am Aschermittwoch auf die Stirn gestrichen wurde, sollte nicht abgewaschen…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

abgewaschen werden. Dieser Brauch aus dem katholischen Gottesdienst erinnert an eine Eigenschaft, die im Christentum – und auch fast allen anderen Religionen – eine zentrale Rolle spielt. Eine Haltung, die als altmodisch gilt, in der Psychologie der letzten Jahre jedoch einiges Interesse erfahren hat: Demut.

"Demut, die Erde, auf der Glück wächst"

Nicht weniger als das Fundament dauerhaften Glücks sieht die Sozialpsychologin Pelin Kesebir in der Demut. Kesebir arbeitet an der amerikanischen Universität von Wisconsin-Madison am Center for Healthy Minds, einer Einrichtung, die sich der Erforschung von Wohlbefinden verschrieben hat. „Demut, die Erde, auf der Glück wächst“ lautet einer von ihren Aufsätzen, wenn man ihn ins Deutsche übersetzt. Darin erklärt die Glücksforscherin, weshalb Demut so wohltuend ist. Ausgangspunkt sind die vielen positiven Effekte, die in wissenschaftlichen Untersuchungen gefunden worden sind.

Demütige Menschen haben demnach etwa weniger depressive Symptome als andere, sie führen bessere soziale Beziehungen, und schlimme Ereignisse wie eine ernsthafte Erkrankung treffen sie seelisch weniger hart. Die schützende Wirkung zeigte sich dabei umso stärker, je gravierender die Schicksalsschläge waren.

Kesebir betrachtet Demut im Wesentlichen als das Vermögen, sich selbst akkurat einzuschätzen und mit diesem Bild von sich einverstanden zu sein. Weil wir dadurch besser mit uns selbst, unseren Mitmenschen und der Realität zurechtkämen, sorge sie für langfristiges Wohlbefinden. Das ist ein sehr psychologisches, auf das Individuum beschränktes Verständnis.

Andere Forscherinnen, Forscher und Traditionen betonen andere Aspekte dieses sehr vielschichtigen, jahrtausendealten Begriffs. Im Christentum herrsche eine soziale Auffassung der Demut, schreibt Theologieprofessor Stephen Pardue im Sammelwerk Handbook of Humility. Das zeige sich etwa in Jesus, der seinen Jüngern die Füße wäscht. Sie, so sagt dieser, sollten ebenfalls anderen Menschen dienen. In der hebräischen Bibel geht es hingegen mehr um die eigene Kleinheit. Anzuerkennen, dass es Größeres als einen selbst gibt, sei es die Natur oder die Schöpfung eines Gottes, ist ein häufig genanntes Merkmal der Demut. Auch um die Fähigkeit, sich selbst zu vergessen, geht es oft. Unter den vielen Facetten der Demut widmen wir uns hier jenen, die aus zeitgenössischer und psychologischer Sicht bedeutsam sind.

Nach Grenzenlosigkeit kommt der Fall

„Demut hat etwas Erdendes“, sagt Professor Eckhard Frick von der Technischen Universität München. Wir führen ein Videogespräch. Frick ist Psychiater und Jesuit, er verweist auf die lateinische Etymologie des Wortes Demut: humilitas und später das englische humility sind zurückzuführen auf humus (Erde). „Erdung kann immer helfen“, meint Frick. „Sie geschieht mit Leib und Seele, es geht darum zu spüren: Ich bin ein materielles Wesen, das hinfallen kann.“ Das Gegenteil davon, die Grenzenlosigkeit, fühlt sich schön an, besonders im Rausch genießen wir sie, doch sie enthält immer auch Gefahr. „Nach der Grenzenlosigkeit kommt der Absturz“, sagt Frick. Demut umfasst für ihn daher auch „die Bereitschaft, nicht ganz so hoch zu fliegen“.

Nicht nur das Individuum, sondern auch unsere Gesellschaft neigt zur Grenzenlosigkeit. Das ist sicher ein Grund, weshalb ihre Gegenspielerin, die Demut, derzeit wiederentdeckt wird. Ähnlich wie wir die Natur rücksichtslos ausbeuten, respektieren wir auch unsere persönlichen Limits nicht. Ich ignoriere sie zum Beispiel im Kleinen, wenn ich müde bin und noch eine Tasse Kaffee trinke, statt mich auszuruhen und auf genügend Schlaf zu achten. Im großen Stil betrieben, kann diese Missachtung eigener Grenzen in eine Erschöpfungsdepression führen: Übergehen wir die Signale zu lange, weist uns der Körper auf rigorosere Weise in unsere Schranken.

Menschen, die sich – in Kesebirs Verständnis von Demut – so sehen und so annehmen können, wie sie sind, haben weniger Schwierigkeiten damit, die Zeichen der Überlastung wahrzunehmen und sich Erholung zu erlauben. Allerdings dürfte das selbst ihnen noch schwerfallen, geht es doch darum, etwas zu akzeptieren, das in der Leistungsgesellschaft tatsächlich von Nachteil ist: Schwäche. Das Negieren von Belastungsgrenzen ist jedoch nur eine besonders offensichtliche und weitverbreitete Gewohnheit.

Es gibt viele weitere Beispiele, in denen Menschen bestimmte eigene Verhaltensmuster, Eigenschaften oder ihr Unvermögen nicht bemerken, weil sie das nicht wollen. Es könnte sein, dass man bereits als Schüler schlecht in Naturwissenschaften war, sich angesichts der Berufsaussichten aber einredete, dass man mit ausreichendem Fleiß schon zurechtkommen werde. Erst später, in einem entsprechenden Studiengang, ist es dann nicht mehr zu leugnen. Ein anderes Feld der Selbstüberschätzung ist das Beziehungsleben: Man ist fest davon überzeugt, dass man seinem Partner stets liebevoll und aufmerksam begegnet – und übersieht dabei all die egozentrischen Momente und Phasen, in denen man bevorzugt um sich selbst kreist.

Die menschliche Psyche ist grundsätzlich demütig

Eine Denkschule, die hilft, die eigenen ungeliebten Anteile zu sehen, ist die analytische Psychologie. Sie ist eine spezielle Art der Psychoanalyse, die der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung entwickelt hat. Es ist fast egal, mit welcher Beschwerde jemand Hilfe sucht. Anders als beispielsweise in der Verhaltenstherapie, in der man sich auf das konkrete Symptom konzentriert, geht es hier erst einmal darum, sich selbst vollständig zu sehen. Das Ziel ist, um seine Stärken und Schwächen zu wissen.

Die Therapeutin hilft ihrem Patienten also, jene Persönlichkeitsanteile zu erkunden, die dieser allein nicht wahrnehmen würde. Diese Anteile können noch viel weiter von unserem bewussten Ich entfernt sein als in der klassischen Psychoanalyse Sigmund Freuds: Freud nimmt eine persönliche Sphäre des Unbewussten an, sie enthält verdrängte Wünsche, etwa aus den Erfahrungen der Kindheit.

Jung, ein Schüler Freuds, fügte dem eine weitere Ebene hinzu, das sogenannte kollektive Unbewusste. Dabei handelt es sich um eine Art innere Welt, die wir mit allen anderen Menschen teilen und die unser Erleben, Wahrnehmen und Handeln ganz wesentlich leitet. Jungs Vorstellung der menschlichen Psyche beinhaltet also grundsätzlich eine Haltung der Demut. Der Mensch wird von etwas Größerem gelenkt, das er nur erahnen kann. Allerdings wird er auch von seinen ganz persönlichen Dämonen getrieben.

Den eigenen Schatten erkennen

Jung nennt die unbewussten inneren Anteile „Schatten“. Um sie kennenzulernen brauchen wir nicht zwangsläufig eine Therapie. Oft erhalten wir Fingerzeige, wenn wir auf unsere Projektionen achten. „Die Dinge, die uns an nahestehenden Menschen aufregen, verweisen oft auf unsere Schatten“, erklärt Eckhard Frick, der auch jungianischer Analytiker ist. Wenn ich mich zum Beispiel empöre, dass meine Freundin „schon wieder vergessen hat, Geld abzuheben“, weil ich ihr unterstelle, dass sie will, dass ich zahle – dann bin ich vielleicht einfach selbst geizig.

Konstantin Rößler, Therapeut aus Wörth am Rhein, ist ebenfalls Jungianer. Er empfiehlt ein originelles Vorgehen, um seine Projektionen aufzuspüren, eine Art Test beim Lesen der Zeitung: „Ich kann schauen, welche Themen mich besonders aufregen, etwa Sex oder Kriminalität.“ Im Schimpfen über „die Sozial­schmarotzer“ könnte sich demnach zeigen, dass ich ein Problem mit Schwäche habe.

Wer um seine Fehlbarkeiten weiß, ist ganz allgemein demütiger, weniger stolz und anmaßend. Zugleich helfen ihm die Einsichten konkret, denn er hat die Quellen immer wiederkehrender Konflikte gefunden und ist in der Lage, sich dazu zu verhalten. Statt von ihnen getrieben zu werden, kann er ihnen auf eine Weise Raum geben, die möglichst wenig Schaden anrichtet – in der jungianischen Therapie geschieht das oft mit Kunst, es wird viel gemalt. Rößler hat auch noch eine weniger direkte, eher poetische Antwort darauf, warum es sich lohnt, sich ganz zu sehen, also auch mit den dunklen, ungeliebten Seiten: „Man erkennt dann erst mal eine Wahrheit, eine innere Wahrheit. Und das hat etwas sehr Befreiendes.“

Demut schafft Verbundenheit

Wenn wir uns selbst akzeptieren, brauchen wir nicht so viel Energie dafür, ein bestimmtes Bild von uns aufrechtzuerhalten. Normalerweise sind Menschen viel mit dieser fragwürdigen Aufgabe beschäftigt. Kesebir zitiert den amerikanischen Psychologen Anthony G. Greenwald, dieser hat die Kontrollstrategien des Egos einmal mit denen einer Diktatur verglichen:

Das Ego habe eine Vorliebe dafür, die Verantwortung für geliebte Ergebnisse zu übernehmen (und nicht für die unerwünschten), außerdem neige es dazu, die Geschichte so umzuschreiben, dass sie ihm nutze und es weniger schwach erscheinen lasse. Ich war in der Schule zum Beispiel überzeugt, mathematisch begabt zu sein. Hatte ich keine gute Note, dachte ich, dass der Lehrer ein bisschen engstirnig sei. Wenn ich seine Rückmeldung hingegen ernst genommen hätte, hätte ich etwas gelernt. Dafür hätte es jedoch das Eingeständnis gebraucht, dass er mehr übers Rechnen wissen könnte als ich.

Demut zerstört also so manche Illusion, sie nimmt uns den Stolz und Hochmut. Das ist erst mal ernüchternd. Doch anders als die Bescheidenheit, die hierbei stehenbleibt, gibt uns die Demut auch etwas zurück. Zum einen Wahrheiten, denen wir ohnehin nicht entkommen: dass nicht alles möglich ist, dass wir nicht auf alles Anspruch haben, dass wir nicht alles beherrschen. Zum anderen Verbundenheit: Indem wir anerkennen, dass es etwas Größeres als unser bewusstes, kleines Ich gibt, werden wir ein Teil davon. Wir sind nicht allein.

Wo sind die Gemeinsamkeiten?

Die Demut verbindet uns mit den anderen. „Es tut gut, daran zu erinnern, dass das ganze Universum mit einer unbedeutenden Ausnahme aus anderen besteht“, bemerkte der amerikanische Autor John Andrew Holmes (1904–1962). Diese Weisheit hätten demütige Menschen verinnerlicht, schreibt Kesebir. Auch nähmen sie den Unterschied zwischen sich und anderen als nicht so groß wahr, schreibt sie. Verständlich, denn wenn wir uns Menschen in Perspektive zu einem Gott oder der Natur setzen, sind wir uns alle sehr ähnlich.

Eckhard Frick, der Professor aus München, unterstreicht das ebenfalls. Eine Haltung der Demut bedeute, sich zu fragen: „Wo ist unsere gemeinsame menschliche Basis? Wo sind die Gemeinsamkeiten?“ Oft versteckten wir uns hinter unseren professionellen Rollen, sagt Frick. Mit einem selbstironischen Lächeln verweist er darauf, dass auch er das natürlich eben gerade mache: Während unseres Zoom-Gesprächs ist im Hintergrund seine Institution eingeblendet, die Technische Universität.

Verschiedene Studien zeigen, dass demütige Menschen tiefere Beziehungen haben. Andere legen nahe, sie seien hilfsbereiter, großzügiger, könnten ihren Mitmenschen besser vergeben. Auch Mitgefühl und Empathie sollen ihnen leichter fallen. Wer mit sich im Reinen ist, schreibt Kesebir, könne auf andere offener, gutmütiger und mit mehr Leichtigkeit zugehen. Er sei unbelastet und sensibler für ihre ­Bedürfnisse. Diese sozialen Aspekte der Demut seien sogar der Hauptgrund für ihre wohltuende Wirkung.

"Mal sind wir mehr, mal weniger demütig."

Doch woran liegt es, wie viel von dieser vorteilhaften Eigenschaft wir mitbekommen haben? Eine Rolle spielt die Kultur. Es gibt Hinweise darauf, dass die Demut in den USA in den letzten Jahrzehnten immer weniger Anerkennung gefunden hat, zugleich haben ihr widersprechende Einstellungen zugenommen, etwa Narzissmus, Anspruchsdenken oder Wettbewerbsorientierung.

Als Kinder lernen wir einen Wert wie Demut durch Vorbilder, also durch Menschen, die ihn leben. Zum Teil lässt sich die Demut aber auch als Persönlichkeitseigenschaft auffassen. Andere Persönlichkeitseigenschaften wie die Verträglichkeit seien zu 40 Prozent angeboren, meint Kesebir. Sie vermutet daher einen ähnlich hohen Wert für die Demut. Daneben scheint es auch Einflüsse der Situation zu geben: Mal sind wir mehr, mal weniger demütig.

Erste empirische Untersuchungen haben sogar Anhaltspunkte dafür ergeben, wie sich die Demut fördern lässt: durch Übungen der Dankbarkeit etwa, also Methoden, wie wir sie in manchen therapeutischen Verfahren haben oder auch in Ritualen wie dem Erntedankfest. Außerdem durch Achtsamkeitspraktiken: Wer achtsam ist, ganz in seiner Wahrnehmung, nimmt sein „Ich“, seine Deutungen und Bewertungen zurück und sieht, was real ist.

Ehrfurcht vor Schönheit

Ein spannendes Laborexperiment zeigte darüber hinaus, dass das Empfinden von Ehrfurcht Menschen in einen Zustand der Demut heben kann. Psychologen rund um Peter M. Ruberton haben an der Pennsylvania State University Probandinnen und Probanden in virtuelle Realitäten versetzt. Diejenigen, die der Kontrollgruppe zugeteilt worden waren, landeten in einer gewöhnlichen Büroumgebung und bekamen einen Vortrag über den Zwergplaneten Pluto zu hören. Die anderen fanden sich in einem virtuellen Raumschiff wieder, das sich immer weiter von der Erde entfernte. Dabei hörten sie eine Passage aus Pale Blue Dot, einem Buch, in dem ein Astronom über die Rolle des Menschen im Universum reflektiert. Wie erwartet zeigte diese Gruppe danach mehr Demut.

Was die an der Studie Teilnehmenden angesichts der Größe des Universums verspürt haben mochten, erleben Gläubige in der Begegnung mit Gott. Betrete ich einen Dom, fühle ich mich klein. Viele religiöse Praktiken vermitteln denselben Eindruck. Zum Beispiel die Erinnerung daran, dass wir eines Tages Staub sein werden (was schließlich nicht nur im religiösen Kontext, sondern auch naturwissenschaftlich korrekt ist), oder Formeln im Gottesdienst wie: „Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Eine ganz andere, säkulare Quelle der Ehrfurcht ist Schönheit. In den Uffizien, der berühmten Kunstsammlung in Florenz, brechen Touristinnen bisweilen in Tränen aus, wenn sie vor den Werken großer Künstler stehen. Andere erleiden einen Ohnmachtsanfall. Das sogenannte Stendhal-Syndrom (siehe Definition unten), das psychosomatische Reaktionen in derartigen Situationen beschreibt, mag außergewöhnlich sensible Seelen treffen und anderen theatralisch anmuten.

Doch selbst sie sollten Momente der Entrückung kennen, wenn auch in leichteren Ausprägungen. Wir würden ganz automatisch ergriffen, wenn wir etwas Großes sehen, meint die Münchner Ärztin und Gestalttherapeutin Elisabeth Schlageter. „Im Kreißsaal, bei einer Geburt, da weinen alle.“ Und auch der Anblick des Meeres, der Berge oder eines Sonnenuntergangs bewegt uns oft tief. „Ich glaube, um demütig zu sein, bedarf es weniger eines Übens als eines Sichöffnens.“ Das Sicheinlassen beschreibt sie mit einer Metapher: „Es geht darum, dass man keine Stellwand zwischen sich und die Natur stellt.“

Verneigung vor dem Leben

Elisabeth Schlageter verwendet viele solcher Vokabeln, die mit dem Körper und der Raumwahrnehmung zu tun haben. Sie spricht etwa von „einer Verstellung“, wenn wir nicht das an- und wahrnehmen, was ist, sondern uns weigern, es zu sehen. In ihrer Logik müssen wir uns dafür verstellen. In der Unterwürfigkeit liege eine „Verkrampfung“, meint sie, im Unterschied zum demütigen erkenne der unterwürfige Mensch nicht, was an Größe in ihm stecke. Die Demut hingegen sei „eine Verneigung vor dem Leben“, ein Annehmen dessen, was das Schicksal, unser Körper, unsere Psyche uns sagen.

Das Leben zu achten bedeute, seine Annahmen und Wünsche zurückzunehmen und aufmerksam zu sein: „Zu hören statt zu wissen.“ Auch in der Haltung, die man in solchen Momenten typischerweise einnehme, zeige sich Demut: „Wenn Menschen in sich hineinhören, senken sie oft den Kopf.“

Als wir telefonieren, nehme ich mich also zurück und merke sofort, wie wertvoll das ist. Ihrem Redefluss zuhörend, bekomme ich interessantere Einsichten, als wenn ich das Gespräch führe und viel frage. Darauf kommen eher Antworten, die ich schon erahnte. Als sie sagt, man könne keinen Krieg gegen das Leben führen, denke ich an einen Freund. Er hat ein chronisches Fatiguesyndrom, will viel, ist begabt, doch wenn er sich anstrengt, holt ihn die Erschöpfung ein. Lange wollte er das nicht annehmen, ging über seine Grenzen und war ständig krank. Irgendwann, erzählt er, habe er begriffen, welch Wunder es doch sei, dass er überhaupt existiere. Nun fragt er sich, wie er nur je darauf gekommen sei, seinen Körper zu kritisieren.

Die Demut hilft uns besonders bei den unerwünschten Ereignissen im Leben. Gerade mit den größeren und kleineren Schlägen des Schicksals pflegen wir in unserer Zeit keinen guten Umgang, sondern eher gar keinen. Treten sie dann ein, treffen sie uns unvorbereitet. Doch nicht zuletzt das Coronavirus ließ uns kollektiv erfahren, dass die Dinge nicht immer so laufen, wie wir es wollen. Eine euphorisierende Tugend ist die Demut nicht. Sie kommt, wie das ihr Wesen ist, unauffällig daher. Doch sie vermag uns einen Platz in der Welt zu geben und festen Boden unter den Füßen. Sie schenkt uns innere Ruhe, indem sie uns einbettet in die Realität.

Stendhal-Syndrom

Mit dem Stendhal-Syndrom beschrieb die Psychiaterin Graziella Magherini verschiedene psychosomatische Beschwerden, die Touristen und Touristinnen in Florenz erleiden. Auslöser sei die Kunst. Das bezieht sich freilich auf extreme Einzelfälle. Wenn diese überhaupt erklärbar sind, so wohl nicht nur durch Ehrfurcht, sondern auch Reizüberflutung oder einen Jetlag. Namensgebend war der französische Schriftsteller Stendhal, er ­entwickelte einen Wahn, als er nach Florenz kam.

Quellen

Anthony G. Greenwald: The totalitarian ego: Fabrication and revision of personal history. American psychologist, 35/7, 1980, 603

Pelin Kesebir: A quiet ego quiets death anxiety: Humility as an existential anxiety buffer. Journal of Personality and Social Psychology, 106/4, 2014, 610

Pelin Kesebir: The soil in which happiness grows. Humility, 2019, 177-200

Jadranka Milovanovic: Humility and its role for healing in the work of CG Jung and Kurt Schwitters: Demut und ihre Bedeutung für Heilung in den Arbeiten von CG Jung und Kurt Schwitters. Spiritual Care, 10/3, 2021, 218-227

Ralf T. Vogel: Das Dunkle im Menschen. Das Schattenkonzept der Analytischen Psychologie. Kohlhammer 2015

Everett L. Worthington Jr., Don E. Davis, Joshua N. Hook (Hg.): Handbook of humility: Theory, research, and applications. Taylor & Francis 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung