Das Gefühl für meinen Wert

Unser Selbstbild basiert auf dem Selbstwertgefühl. Neue Forschungsergebnisse zeigen Wege, um uns nicht länger „wertlos“ zu fühlen.

Eine junge Frau, mit einem Nasenpiercing und einem großen, bunten Tattoo auf dem Arm, lächelt zufrieden und selbstbewusst.
Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl können sich entsprechend Selbstliebe entgegenbringen – ohne diese an Leistung zu knüpfen. © Willie B. Thomas/Getty Images

In den späten 1980er Jahren, als Mitbewohnerin eines Zweibettzimmers in einem Studentenwohnheim, hatte Anneli Rufus ein Schlüsselerlebnis: Sie sah, wie ihre Zimmergenossin jeden Morgen in den Spiegel sah, ohne dass ihr selbstkritische oder abwertende Urteile über die Lippen kamen: Weder bemängelte sie ihr Aussehen, noch kritisierte sie den schlechten Sitz der Kleidung, ihr Körpergewicht oder ihre Haltung. Sie strich sich höchstens kurz über die Haare, zog den Pullover zurecht und ging dann ohne besorgte…

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Tür hinaus. „Ich habe plötzlich begriffen, dass es Menschen gibt, die mit sich im Reinen sind und nicht ständig etwas an sich selbst auszusetzen haben!“

Kurz darauf traf Rufus ihre große Liebe, ihren späteren Ehemann. Er überschüttete sie mit Komplimenten, sagte ihr immer wieder, wie gut sie aussähe und wie wunderbar sie sich bewege. „Ich dachte, das sagt er nur, weil er halt mein Freund ist oder weil er vielleicht Mitleid hat oder mich beruhigen will oder weil es einfach die Sprüche sind, die ein Mann sagt, wenn er verliebt ist. Oder – noch schlimmer – vielleicht macht er mir Komplimente, weil er mich für psychisch labil hält und mich nicht unsicher oder traurig sehen will. Ich habe seinen Worten nie geglaubt. Jede Information, die ich erhalte, wird von mir ganz anders verarbeitet, als es andere, normale Menschen tun.“ Was Anneli Rufus beschreibt, ist ein Leben ohne Selbstwertgefühl.

Heute kann sie auf ihre Studienjahre zurückblicken und erkennen, dass sie ein intelligentes, nettes, interessantes, humorvolles und gutaussehendes Mädchen war und dass es alles andere als ungewöhnlich war, sich in sie zu verlieben. Aber damals konnte sie das überhaupt nicht so sehen. Zwar schrieb sie schon als Studentin viel und gerne, und ihre belletristischen und journalistischen Texte wurden allgemein gelobt.

Aber nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Studien an einer Eliteuniversität hat sie nie versucht, ihre Arbeiten einem Verlag anzubieten. Sie fühlte sich damals wie eine graue Maus und hätte es nie gewagt, andere Leute mit ihren literarischen Hervorbringungen zu belästigen. Sie blieb noch viele Jahre eine Gefangene ihres sehr geringen Selbstwertgefühls.

„Ich war froh, wenn ich nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand“

Und doch wurde ihr Talent entdeckt, ihre Begabung blieb, obwohl sie sie versteckte, nicht unbemerkt. Rufus hat inzwischen mehrere erfolgreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für angesehene Zeitschriften und Websites. Ihre Ehe ist stabil und glücklich geblieben.

Und trotz dieser Erfolgsgeschichte blickt sie auf diese Jahre so zurück: „Ich habe viele Dinge erreicht, aber ich habe diesen Erfolg die ganze Zeit nicht genießen können. Selbst wenn ich einen Preis bekam, hab ich ihn nicht gefeiert, habe mich nicht toll gefühlt. Als Mensch mit sehr geringem Selbstwertgefühl war ich immer froh, wenn ich nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und ich wieder in mein Mauseloch zurückkriechen konnte.“

Seit Jahrzehnten haben Psychologinnen und Psychologen versucht, Menschen wie Anneli Rufus Wege aufzuzeigen, wie sie ihr Selbstwertgefühl vergrößern und stabilisieren können. Unzählige Bücher und Artikel sind erschienen, in denen die Betroffenen aufgefordert werden, positiv zu denken, ihre Erfolge und Leistungen aufzulisten, ihre starken Eigenschaften herauszustellen, sich nicht mehr klein zu machen und falsche Scham und extreme Bescheidenheit energisch zurückzudrängen.

Eine ganze Legion von Selbsthilfegurus, aber auch ernsthafte Wissenschaftler sahen das Hauptproblem der Selbstunsicheren darin, dass sie sich selbst nicht genug lieben oder sich wenigstens etwas mehr gernhaben könnten und dass ein ausreichendes Maß an Selbstliebe ihr Leben glücklicher und erfolgreicher machen würde.

Zettel am Spiegel reichen nicht aus

Die Betroffenen haben diese Rezepte befolgt: Sie klebten Zettel an ihren Badezimmerspiegel, auf denen ihre tollen Eigenschaften standen. Sie murmelten selbstaffirmative Formeln vor sich hin: „Du bist toll, du bist stark, du bist etwas Besonderes!“ Und um ihre eigenen Kinder vor dem gleichen Schicksal zu bewahren, sagten sie ihnen täglich, wie extrasupertoll sie seien.

Heute wissen Persönlichkeits- und Sozialpsychologen, warum alle direkten Versuche, das Selbstwertgefühl aufzupäppeln, fast nie funktionieren. Die Psychologieprofessorin Joanne Wood von der University of Waterloo in Kanada hat zum Beispiel den therapeutischen Wert von Selbstbekräftigungen und Selbstgesprächen untersucht.

In ihren Untersuchungen verglich sie Menschen mit einem gut entwickelten, stabilen Selbstwertgefühl mit solchen, die unter ihrem geringen Selbstwertgefühl litten. Die Selbstsicheren fühlten sich nach positiven Selbstgesprächen noch besser, während die Selbstwertschwachen sich danach noch schlechter fühlten.

Selbstwertsteigerung von außen ist kontraproduktiv

Wood erklärt das Scheitern dieser Methode so: Weil die Selbstbekräftigungen so extrem vom eigenen negativen Selbstbild abweichen, verdeutlichen sie die Kluft zwischen dem, wie sich die Person fühlt und wie sie gerne wäre, noch mehr. Wer unter einem geringen Selbstwertgefühl leidet, kommt sich nach solchen Übungen erst recht als Versager vor.

Auch eine andere Strategie der Selbstwertsteigerung hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Die Psychologin Jennifer Crocker von der University of Michigan hat untersucht, welche Rolle äußere Einflüsse für das Selbstwertgefühl eines Menschen spielen – also Anerkennung, Lob, Komplimente, Erfolge. Das sogenannte „kontingente Selbstwertgefühl“ hängt von Bestätigung und Bekräftigung ab, die ein Mensch von anderen erhält, und zwar in den Bereichen, die für das Selbstbewusstsein bedeutsam sind.

Zwar können Erfolge aller Art kurzfristig das Selbstwertgefühl erhöhen, aber die Wirkung hält nicht an. Crocker hat in ihren Untersuchungen gefragt, wie sich Menschen nach einer erfolgreichen Prüfung oder einer anderen besonderen Leistung fühlten, und die Selbstwertschwachen meinten in der Regel: „Es fühlt sich für einen Tag ganz gut an, aber dann bin ich wieder dort, wo ich vorher war.“

Je stärker das Selbstwertgefühl eines Menschen von seinen Leistungen oder Erfolgen abhängt, also „kontingent“ ist, desto größer ist auch der Rückschlag, wenn solche Leistungen nicht gelingen. Und im wirklichen Leben können wir ja nicht permanent erfolgreich sein. Für Selbstwertschwache ist ein Scheitern besonders bitter, und einen Erfolg können sie kaum genießen.

Das „kontingente Selbstwertgefühl“ ist eigentlich eine Chimäre, ein begriffliches Fabelwesen. Selbst die erfolgreichsten, schönsten und tollsten Menschen werden nicht permanent mit Komplimenten und positivem Feedback überschüttet. Wer dennoch der Chimäre nachjagt und das Unmögliche erzwingen möchte, endet nicht selten in der Selbstsabotage: Um sein Selbstwertgefühl zu schützen, das durch einen Misserfolg schwer erschüttert werden könnte, flüchtet er sich oft in Strategien, die ihn völlig vom Kurs abbringen und seine Bemühungen unterminieren (mehr dazu im Heft 7/13: Selbstsabotage. Warum wir uns manchmal selbst im Weg stehen).

Junge Generation: Auf der Suche nach Bestätigung

Die Untersuchungen Crockers zeigen, dass Menschen mit „kontingentem Selbstwert“ Situationen vermeiden, in denen sie auch nur einen kleinen Einbruch in ihrer Selbsteinschätzung befürchten müssten. Und dieses Ausweichen bringt sie noch stärker in die Bredouille – man stelle sich beispielsweise einen Chirurgen vor, der eine neue Operationstechnik nicht erproben will oder kann, aus Angst, beim ersten Mal nicht perfekt zu operieren. Langfristig wird sich diese Einstellung als fatal für seine Karriere erweisen.

Obwohl also wissenschaftlich bestätigt ist, dass weder Selbstbekräftigung noch das Streben nach Erfolg und Anerkennung wirklich gegen geringes Selbstwertgefühl helfen, hat sich in den modernen Gesellschaften die Jagd nach dem kontingenten Selbstwertgefühl noch verschärft: Crocker hat festgestellt, dass Schüler und Studierende intensiv nach Erfolgserlebnissen streben, die ihr Selbstwertgefühl vergrößern – also nach guten Noten, nach Komplimenten, nach Lob und Anerkennung. Dieser Kampf um Anerkennung überlagert häufig sogar die Suche nach anderen angenehmen Aktivitäten oder Erlebnissen wie Sex, gutem Essen, Feiern.

Eine Generation, der man ungebremsten Hedonismus nachsagt, hat sich auf die mühsame Suche nach Selbstwertstabilisatoren gemacht. Crocker und ihre Kollegen interpretieren das intensive Streben nach kontingenten Selbstwerterfahrungen als Beweis dafür, dass es den Schülern und Studenten vor allem um die Kicks im Selbstwert geht, auch wenn sie die Dinge, die ihr Ego aufpolstern, gar nicht mögen. Sie verzichten auf vieles, was ihnen eigentlich Spaß macht, um sich wertvoll und anerkannt zu fühlen.

Übertriebener Selbstwert ebenfalls ungesund

Das Scheitern der bisherigen Versuche, ein geringes Selbstwertgefühl aufzupäppeln – sei es durch eine unablässige Jagd nach Leistung oder durch Mantras wie „Ich bin gut, ich bin schön, ich bin stark, ich bin toll!“ –, war im Grunde ein Segen. Warum? Weil es uns vor einer Gesellschaft der Ichlinge bewahrt. Vor einigen Jahren wurde von Forschern wie Jean Twenge noch die Alarmglocke geschlagen: Die Autorin des Buches Generation me entwarf das Schreckensbild einer Generation von allzu selbstbewussten, verwöhnten und ichzentrierten Menschen.

Twenge und viele andere Forschende sowie Autorinnen und Autoren glaubten, dass die Generation 20+ von Eltern erzogen wurde, die ihnen bei jedem Pups versichert haben: „Das hast du ganz toll gemacht!“ Es drohe also eine Generation von allzu selbstsicheren und verwöhnten Narzissten. Die permanente Suche nach Aufmerksamkeit sei ein Symptom dafür, und der übertriebene Fokus auf Aussehen und Status beeinträchtigten womöglich die Fähigkeit, echte soziale Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Auch wenn man Twenges Schlussfolgerungen nicht folgen will, steht fest: Man kann sich auch zu wertvoll fühlen, und das ist mindestens so ungesund, wie sich minderwertig zu fühlen.

Selbstkontrolle statt Selbstwert

Welchen Wandel die Einstellung der Psychologie zum Problem des Selbstwertgefühls und zu den Möglichkeiten, es zu verbessern, in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, verdeutlicht niemand besser als Roy Baumeister, Sozialpsychologe an der Florida State University. Baumeister war in den 1970er Jahren ein Pionier der Selbstwertforschung. Damals war er noch überzeugt davon, dass ein Mangel an Selbstwertgefühl dringend behoben werde müsse. Individuell und gesellschaftlich müssten wir daran arbeiten, das Defizit zu korrigieren. Denn wie viele andere Psychologinnen und Psychologen glaubte er, dass ein Mangel an Selbstwertgefühl die Wurzel vieler persönlicher Probleme und gesellschaftlicher Übel sei. 

Diese Auffassung hat er mittlerweile gründlich revidiert, ja er vollzog eine Kehrtwende um 180 Grad – nachdem er die früheren Forschungen einem harten Realitätstest unterzogen hatte. In einer Metaanalyse über die Beziehung zwischen einem guten Selbstwertgefühl und äußeren Indikatoren für Erfolg in Schule, Arbeit und Beziehungen fand er heraus, dass es keinerlei Beweise dafür gibt, dass ein gutes Selbstwertgefühl auch gute Studierende erzeugt. Auch wirke es sich kaum auf die Arbeit oder die Gesundheit aus. 

„Nach all den Jahren lautet meine Empfehlung so: Vergesst das Selbstwertgefühl – und konzentriert euch auf Selbstkontrolle und Selbstdisziplin! Die neuere Forschung zeigt eindeutig, dass dies gut ist für den Einzelnen und gut für die Gesellschaft. Und vielleicht lassen sich einige Versprechen erfüllen, die der Selbstwert-Hype einmal gemacht hat, aber nicht halten konnte“, schreibt Baumeister auf der Website seiner Universität.

Wenn sich also ein geringes Selbstwertgefühl nicht durch pure Willenskraft beseitigen lässt und andererseits ein starkes Selbstwertgefühl nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen im Leben führt – wie sollten wir mit dem Problem, das ja viele selbstunsichere Menschen nach wie vor plagt, umgehen? Jonathan D. Brown, Sozialpsychologe an der University of Washington, hat diese Frage seit vielen Jahren umgetrieben. Er glaubt, dass jeder Mensch eine bestimmte Baseline des Selbstwertgefühls hat, die im Laufe der Kindheit in der Interaktion mit den Eltern festgelegt wird. Für ihn ist Selbstwert weniger ein Ergebnis von Bewunderung, Lob oder Respekt, er sieht darin vielmehr die fundamentale Fähigkeit, sich selbst zu mögen, so wie man ist.

Selbstliebe auch bei Scheitern

Das Sicherheitsnetz eines stabilen Selbstwerts erwächst aus einer sicheren Bindung zu Mutter, Vater oder beiden Eltern, und es kann sich nicht entwickeln, wenn sie das Kind nicht konsistent unterstützen und ihm unbedingte (also nichtkontingente) Empathie und Zuwendung entgegenbringen. Brown fasst es so zusammen: „Wenn man jemanden liebt und er erfüllt die Erwartungen nicht, dann sollte es nicht die Gefühle verändern, die man für diesen Menschen hegt. Man liebt jemanden nicht für seine Leistungen oder seine Eigenschaften. Man liebt einen anderen Menschen, ein Kind, auf eine Art, die unbedingt ist.“

Dasselbe gelte auch für die Selbstliebe – besser: Selbstakzeptanz. Man kann und sollte sich selbst lieben, auch wenn man nicht immer alle Erwartungen oder Anforderungen erfüllt. Gesunde Selbstliebe ist nicht abhängig von dem, was man leistet. Menschen mit einem gesunden, stabilen Selbstwertgefühl verfügen über eine tief verankerte Selbstakzeptanz. Das heißt nicht, dass sie sich angesichts von Ablehnung, Versagen oder Scheitern nicht auch schlecht fühlen können. Aber das wirft sie nicht aus der Bahn; die Selbstakzeptanz ist eine verfestigte, belastbare Eigenschaft geworden – eben nicht abhängig von äußeren (kontingenten) Bekräftigungen oder Schwächungen.

Dieses psychische Sicherheitsnetz fehlt Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl. Deshalb stürzen sie tiefer ab als andere, wenn sie Nackenschläge oder Niederlagen erleiden. Sie sehen Zurückweisung durch andere selbst dort, wo sie gar nicht existiert, und sie empfinden sich als Versager, wo andere höchstens mit den Achseln zucken.

Selbstwert in der Kindheit geprägt

Anneli Rufus’ Kindheit war ein Lehrbuchfall dafür, wie ein Selbstwertgefühl im Keim erstickt wird: „Ob ich gut oder böse war, das hing nicht von mir ab, nicht davon, ob ich wirklich etwas bewusst Böses getan hatte, sondern ganz von den Urteilen meiner Eltern.“ Zwar fanden ihre Eltern es toll, dass sie schon sehr früh zeichnen und schreiben konnte, und sie sahen darin etwas Außergewöhnliches, weil sie selbst keinerlei künstlerische Neigungen hatten.

Gleichzeitig waren sie aber überzeugt, dass ihre Tochter ein Taugenichts, ein faules Stück sei, denn sie selbst waren Ordnungsfanatiker. Ein unaufgeräumtes Zimmer reichte aus, dass sie Anneli aufs Heftigste beschimpften und bestraften: „Sie stürmten in mein Zimmer und schrien: Du bist eine verdammte Schlampe, hier sieht es aus wie in einem Schweinestall! Warum tust du uns das an? Machst du das, weil du uns hasst? Ich habe niemals etwas absichtlich zerstört oder etwas Böses getan, manche anderen Kinder haben bewusst Dinge zerbrochen oder eine Wand beschmiert, das habe ich mich nie getraut, ich lebte immer in der Furcht, und trotzdem wurde ich bestraft.“

Kindheitserfahrungen drücken Selbstachtung nach unten

Ein geringes Selbstwertgefühl entsteht, wenn ein Kind alles infrage stellen muss, was es tut. Wenn es immer damit rechnen muss, dass jemand sauer oder böse wird, und zwar nicht, weil es selbst etwas aus böser Absicht getan hätte, sondern weil es einfach im Kern böse, undankbar oder sonst irgendwie defizitär sein muss. Manchmal können Gleichaltrige helfen, ein solches Familienleben leichter zu ertragen.

Aber Rufus erinnert sich, dass sich ihr Martyrium auch in der Schule fortsetzte: Sie wurde dort gehänselt, weil sie orthopädische Schuhe tragen musste und weil sie auf die anderen wie ein früher Nerd, eine Streberin wirkte. Diese Hänseleien trugen natürlich noch weiter dazu bei, dass sie sich wertlos fühlte.

Jonathan Brown glaubt, dass Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl oft für den Rest ihres Lebens benachteiligt bleiben, weil ihre Kindheitserfahrungen den Standardwert ihrer Selbstachtung so weit nach unten gedrückt haben, dass er in späteren Jahren kaum noch nach oben korrigiert werden kann. Diese Nachricht mag deprimierend sein, aber sie ist wenigstens ehrlich. Und sie enthält einen Hinweis darauf, wie man den Schaden begrenzen kann: Wer unter einem geringen Selbstwertgefühl leidet, kämpft wahrscheinlich vergeblich dagegen an, aber wenn er sein Problem und dessen „Mechanik“ erkennt, kann er lernen, besser mit den negativen Gedanken umzugehen.

Nach dem Sprung ins Wasser schneller trocken werden

Oft hilft es schon, seine Lage reflektieren und einordnen zu können, und so lassen sich dann Strategien entwickeln und bessere Entscheidungen treffen. Brown fasst diese Einstellung in einem Bild zusammen: „Es ist wie der Unterschied zwischen einem Hund und einer Ente, die Ente springt ins Wasser und wird nicht nass. Das hat die Ente einfach mitbekommen. Der Hund springt ins Wasser, und er muss sich danach lange schütteln, um wieder trocken zu werden. Manche Menschen werden nie eine Ente sein, aber sie können lernen, sich richtig zu schütteln – sie müssen nicht ,nass‘ durchs Leben gehen.“

Statt sich falsche Hoffnungen auf große Selbstwertsprünge zu machen, sollte man lernen, die Auswirkungen dieses Persönlichkeitsmerkmals besser zu bekämpfen: Less hoping, more coping – weniger hoffen, mehr bewältigen.

Abwärtsspirale der negativen Gedanken

Zwar wirkt sich ein geringes Selbstwertgefühl nicht so negativ auf den Lebenserfolg aus, wie noch vor Jahrzehnten gedacht wurde. Trotzdem bleibt der Mangel an Selbstwertgefühl eine Belastung für den, der davon geplagt wird. Es kommt also darauf an, dieses Gefühl wenigstens so gut in den Griff zu bekommen, dass man die Zeit, in der man sich überflüssige Sorgen macht und sich in Grübeleien verliert, sich minderwertig oder zurückgewiesen fühlt, möglichst verringert.

Das ist keine leichte Aufgabe. In ihren Forschungsprojekten hat Joanne Wood herausgefunden, dass Menschen mit hohem Selbstwertgefühl Glücksmomente besser genießen können und sich leichter aus trüben Stimmungen herausarbeiten. Wenig Selbstbewusste tun sich damit wesentlich schwerer, und in ohnehin trüben Stimmungen zieht sie jede Kleinigkeit noch mehr runter.

Anneli Rufus schildert ein Beispiel dafür: „Wenn ich nicht innerhalb einer gewissen Zeit eine Antwort auf eine E-Mail oder einen Anruf bekomme, nehme ich sofort an, dass der andere sauer auf mich ist. Oder: Nach jedem Gespräch, das einigermaßen wichtig war, habe ich hinterher eine Art Reueanfall. Dann denke ich: Du Idiotin! Warum hast du dich nicht so oder so verhalten, warum hast du das oder jenes nicht gesagt, warum hast du dieses oder das vergessen? Ich kann die Unterhaltung nicht einfach abhaken und mir sagen, dass ich mein Bestes gegeben habe.“

Tatsächlich bringt ein geringes Selbstwertgefühl Menschen dazu, nach immer weiteren Beweisen für ihren geringen Selbstwert zu suchen. Es fällt ihnen schwer, gelungene Begegnungen, glückliche Augenblicke oder schöne Zeiten zu genießen. Dabei sind die der Stoff, der helfen könnte, die Abwärtsspirale der negativen Gedanken zu unterbrechen. Es erfordert allerdings einige Übung und Disziplin, negative Gedanken auszublenden, die Aufmerksamkeit auf das Positive zu lenken, Selbstabwertungen im Ansatz zu ersticken.

Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie (etwa Gedankenstopp oder gezielte Visualisierungen) können helfen, die inneren Muster des Selbstzweifels, der Selbstkritik und des Grübelns zu verändern.

Gegenseitige Unterstützung verbessert Selbstwertgefühl

Jennifer Crocker hat solche Techniken ausgearbeitet: Sie zeigt Selbstwertzweiflern, wie sie ihr „Ich aus einer Gleichung herausnehmen“ können oder wie sie mit der Technik des „Reframings“ (ein Problem aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten) an Aufgaben so herangehen, dass Selbstwertsensoren ausgelöst werden. In einer noch unveröffentlichten Studie hat sie Studienanfänger beobachtet, die sich eine Wohnung oder ein Zimmer mit einem anderen Studierenden teilten.

In einem Zeitraum von zehn Wochen hat Crocker folgende Entwicklung protokolliert: Einer der beiden Zimmergenossen sollte sich ganz bewusst vornehmen, den Kommilitonen zu unterstützen, ihn immer wieder zu ermutigen, ihm zu helfen. Sehr bald entwickelt sich aus dieser einseitigen guten Absicht ein reziprokes Verhältnis der gegenseitigen Unterstützung und der Hilfe. Und, ganz entscheidend: Das Selbstwertgefühl beider Studierenden (die vorher als selbstwertschwach getestet worden waren) verbesserte sich dramatisch zum Besseren. Und dafür ist vor allem das Geben verantwortlich, nicht das Erhalten von Unterstützung.

Die Psychologin sieht diese unmittelbare Wirkung des aktiven Helfens auf das Selbstwertgefühl des Helfers als Beweis dafür, dass es die Lebensqualität und den Lebenssinn deutlich verbessert, wenn man sich konstruktive und vor allem soziale Ziele setzt. Anderen etwas Gutes zu tun ist eine sehr starke Medizin gegen Selbstzweifel. 

Jennifer Crocker fasst ihre Studie so zusammen: „Du hast ein geringes Selbstwertgefühl? Na und! Du kannst trotzdem einen wichtigen Beitrag leisten, du kannst andere Menschen unterstützen, du kannst etwas erreichen, was dir wichtig und wertvoll ist. Und indem du das tust, lenkst du die Aufmerksamkeit weg von dir selbst, auf ein Ziel hin. Der Schmerz, den ein geringes Selbstwertgefühl verursacht, stammt daher, dass man sich mit dem Gedanken beschäftigt, nicht gut genug zu sein. Sich durch Aktivität und lohnende Ziele von diesen Gedanken abzulenken verschafft Erleichterung.“

Kristin Neff, Professorin für pädagogische Psychologie an der University of Texas in Austin, hat die Rolle der Selbstkritik für Motivation und Selbstwertgefühl erforscht. Sie ging ursprünglich davon aus, dass Selbstkritik etwas Gutes sei, weil sie uns zu noch besseren Leistungen und zur Selbstverbesserung antreibe. Dann lernte Neff in einem Meditationskurs das Konzept der Selbstnachsicht kennen. Je mehr sie darüber erfuhr, desto überzeugter wurde sie, dass der Schlüssel zu den Selbstwertproblemen nicht darin liegt, noch mehr Anstrengung und Aufmerksamkeit auf eine Nachbesserung dieses Gefühls der eigenen Wertlosigkeit zu richten, sondern es eher ruhen zu lassen.

Soziale Vergleiche sind schlecht für das Selbstwertgefühl

Neff geht davon aus, dass die meisten Menschen in den westlichen Kulturen ihren Selbstwert daraus beziehen, etwas Besonderes zu sein, eine besondere Leistung zu erbringen, für einige Menschen wichtig zu sein. Und damit beginnen alle Probleme, meint sie: Aufgrund dieses bedingten, kontingenten Selbstwertgefühls fühlt sich etwa eine Musikerin gut, wenn sie sich mit einer Amateurin vergleicht.

Ein vorübergehendes Überlegenheitsempfinden mag ihren Selbstwertgefühl für Momente aufhelfen. Aber wenn sie sich mit einer talentierteren Musikerin vergleicht, wird sie sich sofort sehr viel schlechter fühlen. Ihre Leistung ist immer noch dieselbe wie beim vorherigen Vergleich. 

Wir wollen uns immer wieder neu im sozialen Universum verorten und wissen, „wo wir stehen“. Doch obwohl soziale Vergleiche in unserer Gesellschaft unvermeidlich sind und ständig und fast automatisch stattfinden, sind sie dennoch höchst problematisch. Denn es gibt immer Menschen, die all das, was wir können, noch besser können, und es gibt natürlich auch Menschen, die es schlechter tun. Aber wir vergleichen uns öfter „aufwärts“ und empfinden immer wieder den Schmerz, wenn wir dabei schlecht abschneiden. Das ist schlecht für das Selbstwertgefühl – besonders dann, wenn es ohnehin schon schwach entwickelt ist.

„Es sind gerade die Defizite, die uns mit anderen verbinden“

Neff plädiert deshalb für Selbstmitgefühl und Selbstnachsicht (siehe auch Heft 9/11: Sei nachsichtig! Mit dir selbst!) anstelle der permanenten Vergleiche – gefolgt von Selbstkritik. Selbstmitgefühl soll uns daran erinnern, dass wir menschlich sind, dass jeder Mensch, auch der scheinbar perfekte, Mängel hat und Fehler macht. Selbstnachsicht bedeutet, dass wir erkennen: Es sind gerade die Defizite, die uns mit anderen verbinden. Statt uns ständig mit anderen zu vergleichen, sollten wir uns immer wieder daran erinnern, dass Probleme, Fehler, Niederlagen zum Menschsein gehören.

Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die sich diese selbstmitfühlende Haltung aneignen können, weniger anfällig sind für Zweifel, Ängste und Depressionen – und dass ihr Selbstwertgefühl sehr viel stabiler ist als das anderer Menschen. Denn sie machen die Achterbahnfahrt des kontingenten Selbstwertgefühls nicht mehr mit.

Mit sich selbst sprechen wie mit einem Freund

Selbstmitgefühl lässt sich durch Achtsamkeit kultivieren, eine Haltung des Nichtwertens und der Distanzierung von den Gedanken und Gefühlen, die einem durch den Kopf ziehen. Die inneren Selbstgespräche, die jeder von uns täglich und unablässig führt, sollten nicht im kritischen, selbstabwertenden Ton geführt werden, wir sollten mit uns selbst sprechen wie mit einem Freund: ehrlich, aber unterstützend, hilfreich, nachsichtig.

Anneli Rufus hat in ihrem lange andauernden Kampf gegen ihr geringes Selbstwertgefühl ein erlösendes Aha-Erlebnis im Alter von 24 Jahren gehabt: „Ich habe plötzlich erkannt, dass ich gar nicht fähig war, einen bösen oder schlechten Gedanken über meinen Vater oder meine Mutter zu hegen. Ich habe einfach alles geglaubt, was sie mir sagten. Und dann plötzlich wurde mir klar: All dieses Kritisieren und Herumschreien war schlicht und einfach unangemessen. Ich mag nicht perfekt gewesen sein, aber ich war kein schreckliches Kind, ich war auch kein böses Kind. Meine Eltern waren schlicht und einfach Schwarz-Weiß-Denker, und sie pendelten in ihrem Urteil über mich immer zwischen der begabten kleinen Schriftstellerin und dem fürchterlichen schlampigen Kind hin und her.“

Das konstruktive Ziel, das Anneli Rufus von ihrem immer noch geringen Selbstwertgefühl ablenkt, ist die Arbeit. Wenn sie schreibt, dann ist es, als ob sie auf der Leiter zu den Sternen aufwärts steigt. Während des Schreibens fühlt sie sich gut, ganz normal, manchmal sogar glücklich.

„Das Aussehen ist nur ein geringer Teil meiner Identität“

Die amerikanische Soziologin Kjerstin Gruys verzichtete ein Jahr lang auf Spiegel – und stärkte auf diese Weise ihr Selbstwertgefühl.

Der Spiegel ist ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags. Wir nehmen ihn kaum noch wahr. Was bewirkt das Spiegelbild?

Als die Spiegel in unseren Alltag Einzug hielten – in den USA war das Ende des 19. Jahrhunderts – wurden wir fortan täglich mit unseren Makeln und Schwachstellen konfrontiert: mit unserer merkwürdigen Frisur, den dicken Oberschenkeln oder Hautunreinheiten. Zuvor waren wir uns dieser Schönheitsfehler weniger oder gar nicht bewusst gewesen. Sie machten uns dementsprechend wenig aus. Heute wiederum schauen wir laut amerikanischen Umfragen bis zu 71-mal pro Tag in den Spiegel. Das führt zu einer erhöhten Selbstobjektifizierung, das heißt: Wir nehmen uns weniger als individuelle Persönlichkeiten und stärker als Objekte wahr. Studien haben gezeigt, dass unsere kognitive Leistungsfähigkeit darunter leidet.

Eine interessante Untersuchung zur Selbstobjektifizierung wurde Ende der 1990er Jahre durchgeführt. Damals sollten Probanden entweder einen neuen Badeanzug oder einen Pulli anprobieren. Anschließend lösten sie mathematische Aufgaben. Dabei trugen sie noch immer das jeweilige Kleidungsstück. Die Matheleistungen der Badeanzuggruppe waren deutlich niedriger als die des anderen Teams. Wissen Sie, grundsätzlich ist an einem Spiegel nichts auszusetzen. Allerdings kann die Art und Weise, wie wir ihn nutzen, negativ sein.

Wollten Sie deswegen ein Jahr lang auf Spiegel verzichten – weil Sie von ihnen zu oft Gebrauch machten?

Es war komplizierter. Als mein damaliger Freund mir den Heiratsantrag machte, drohte mir ein Rückfall in frühere Essstörungen. Ausgerechnet in einem Moment, in dem ich mich hätte schön fühlen können, war ich unglücklich mit meinem Aussehen. Ich fühlte mich von der westlichen Hochzeitskultur unter Druck gesetzt und verrannte mich in den Gedanken, am Tag meiner Hochzeit perfekt aussehen zu müssen.

In dem Buch The Birth of the Venus von Sarah Dunant las ich damals über Nonnen, die ihr Leben lang weder ihr Gesicht noch ihren Körper betrachten durften. Das Buch inspirierte mich, auf Spiegel zu verzichten. Darin sah ich die Möglichkeit, mich introspektiv mit meinen Unsicherheiten auseinanderzusetzen und die obsessive Sorge um mein Aussehen unter Kontrolle zu bekommen.

Reflektierende Flächen sind überall. Wie konnten Sie diese meiden?

Völlig richtig, mir war vor dem Projekt nicht bewusst, wie häufig wir ihnen im Alltag ausgesetzt sind. Darauf konnte ich mich nicht vorbereiten. Im Laufe des Jahres kam es mehrere Male vor, dass ich mit reflektierenden Fassaden nicht gerechnet hatte und meine Umrisse oder mein Gesicht verwaschen sah. Aber es ist ein Unterschied, sich in einer spiegelnden Fläche zu erkennen und sich tatsächlich darin zu betrachten. Ich habe mich hie und da gesehen, aber rasch gelernt, gleich wegzuschauen.

Wie war die anfängliche Zeit ohne Spiegel?

Ich muss gestehen, die ersten Wochen fielen mir sehr schwer. Ich war gehemmt und befangen. Sogar während meiner Arbeit. Dauernd machte ich mir Sorgen, dass die Leute hinter meinem Rücken darüber redeten, dass ich lächerlich aussah. Allerdings ging diese Phase relativ schnell vorbei. Ich realisierte, dass viele Leute mich darauf aufmerksam machten, wenn etwas nicht in Ordnung war.

Wenn ich beispielsweise etwas im Gesicht hatte, ohne es zu merken. Ich lernte auch: Wenn niemand etwas sagte, gab es eigentlich keinen Grund, mir Sorgen um mein Erscheinungsbild zu machen. Ab da fühlte ich mich ruhiger und konnte mich wieder intensiv auf meine Arbeit konzentrieren.

In welchen Momenten innerhalb Ihres spiegellosen Jahres hätten Sie besonders gerne in einen geschaut?

Sicherlich an dem Tag meiner Hochzeit. Damals war ich am stärksten versucht. Vor dem Projekt habe ich häufig in Spiegel geschaut, um eine stille Konversation mit mir selbst zu führen. Ich wollte das auch am Tag meiner Heirat machen. Stattdessen habe ich mich entschieden, meine Gedanken aufzuschreiben – und bin sehr froh darüber. Die Blicke in den Spiegel wären gleich wieder vorbei gewesen. Dagegen ist mir das Geschriebene geblieben und gibt mir die Möglichkeit, die Momente von damals immer wieder aufs Neue zu erleben.

Wie war es für Sie, sich nach zwölf Monaten wiederzusehen?

Ich war nervös und angespannt. Das Erste, was mir auffiel, als ich nach all der Zeit in den Spiegel schaute, war eine Menge Farbe. Meine blonden Haare wirkten gelb, mein Gesicht war rosa und meine Zähne weiß. Und dann waren da die Farben meines Kleides. Dann sah ich auch schon meine Familie und Freunde neben und hinter mir. Das war der glücklichste Moment.

Wie hat das Jahr ohne Spiegel Sie verändert?

Ein unvollkommenes Erscheinungsbild beschäftigt mich heute nicht mehr in dem Maße wie früher. Ich erkannte, dass etwa das Tragen von Make-up oder eine perfekte Frisur keinen Einfluss darauf haben, wie meine Freunde, Familie und Kollegen mich behandeln. Vor dem Projekt nahm ich unbewusst an, dass ich bestmöglich aussehen musste, um von den Menschen in meinem Umfeld gut behandelt zu werden. Ich weiß nun, dass dies nicht der Fall ist. Und bin heute zufriedener und ruhiger im Umgang mit meinem Aussehen. Ich fühle mich wohler in meinem Körper und mache mir weniger Druck.

Außerdem habe ich mir angeeignet, meinen Freunden und meiner Familie zu vertrauen, wenn sie mir Komplimente machen. Früher habe ich sie immer abgetan, weil ich mir eingeredet habe: Sie sind nur nett zu dir, sie meinen das nicht wirklich. Heute sage ich „Danke“ und genieße ihre Worte. Aber die wichtigste Lektion des Jahres war für mich sicherlich die Erkenntnis, dass mein Aussehen nur ein geringer Teil meiner Identität ist. Und je kleiner dieser Teil ist, desto glücklicher bin ich. Ich arbeite daran, dass es so bleibt.

Benutzen Sie Spiegel heute auf eine andere Weise als früher?

Ja, ich benutze sie deutlich weniger und flüchtiger, meistens nur für mein Gesicht. Ich besitze keinen Ganzkörperspiegel mehr. Und er fehlt mir nicht. Was ein großartiges Gefühl ist, angesichts meiner früheren Essstörungen.

Das Aussehen mag nur einen geringen Teil unserer Identität ausmachen – aber es prägt unser soziales und berufliches Leben.

In der Tat. Die Wirkung des Aussehens im Alltag ist mittlerweile vielfältig belegt. Von Forschern unterschiedlicher Disziplinen, etwa der evolutionären Psychologie und Soziologie. Unser Erscheinungsbild prägt unser Sozialleben – und zwar auf vorhersehbare Weise. In jedem Lebensalter und in fast allen sozialen Beziehungen und Interaktionen genießen attraktive Menschen Vorteile. Überdurchschnittlich gutaussehende Frauen verdienen zwölf Prozent mehr als durchschnittlich aussehende. Bei Männern ist der Effekt noch stärker: 17 Prozent. Gutaussehende Kriminelle bekommen weniger harte Strafen als andere.

Kann eine Spiegelabstinenz generell helfen, sich von dem gesellschaftlichen Druck auf unser Aussehen ein Stück weit zu befreien?

Grundsätzlich rate ich Menschen mit Essstörungen davon ab, auf den Spiegel zu verzichten. Sie sollten zumindest zuerst ihren Arzt oder Therapeutin konsultieren. Anderen, die unzufrieden mit ihrem Körper sind, würde ich tatsächlich empfehlen, ein paar Tage lang auf Spiegel zu verzichten, vielleicht sogar mehrere Wochen. Ich halte Spiegelfasten für einen großartigen Weg, um herauszufinden, wie stark unsere Identität und unser Selbstbewusstsein mit unserem Aussehen verknüpft sind, und das zu ändern. Das kann den kulturellen Druck zumindest mindern.

Hat das Jahr ohne Spiegel neue Forschungsfragen aufgeworfen, denen Sie in Zukunft nachgehen möchten?

Sicherlich. Ein Thema meiner Forschung ist die Rolle des Aussehens am Arbeitsplatz. Ich will unter anderem erforschen, wie Frauen sich durch die übermäßige Sorge um ihr Aussehen selbst zurückhalten. Ich möchte herausfinden, wie sich unser Körperschema auf unseren Arbeitserfolg auswirkt. Sind Frauen erfolgreicher im Beruf, wenn sie dazu ermuntert werden, sich weniger um ihr Aussehen zu sorgen? Meine Vermutung lautet: ja.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2013: Selbstbewusst!