Herr Stäheli, Schüchternheit ist eine Charaktereigenschaft, die häufig problematisiert wird. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Meine These ist, dass die Figur des oder der Schüchternen ein Nachdenken anstößt über die Zumutung, sich ständig mit anderen zu vernetzen. Denn für den Schüchternen ist es nicht möglich, ständig neue Kontakte auf- und auch wieder abzubauen. Schüchternheit wird nicht als Problem einer gesellschaftlichen Organisationsform verstanden, sondern als Problem eines Individuums, das…
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nicht als Problem einer gesellschaftlichen Organisationsform verstanden, sondern als Problem eines Individuums, das entsprechend behandelt werden sollte.
Ist ein schüchterner Mensch eher unsozial?
Auch wenn er sich aus sozialen Situationen herausnimmt, ist er nicht unsozial. Er zieht sich ja nicht immer zurück. Typischerweise tut er das nur, wenn es um Kontakt mit Fremden geht – und zwar in Situationen, die nicht formalisiert sind. Mit Vertrauten oder auch beim Einkaufen, das nach klaren Regeln abläuft, ist er meist nicht schüchtern.
Sie beschreiben jemand Schüchternen als eine Art Mahnfigur, die uns daran erinnert, Momente des Nichtkommunizierens auszuhalten. Haben wir verlernt, allein zu sein?
Ich denke, es ist kein Verlernen, sondern ein Abwerten von Verhaltensformen, die nicht zu dem Persönlichkeitsideal des Extravertierten passen. Darunter verstehe ich hier nicht die psychologische Definition des Begriffs, sondern eine gesellige Person, die viel auf andere zugeht. In Unternehmen, Schulen und Universitäten sind diejenigen erfolgreich, die mühelos in einem Team kommunizieren können. Schüchterne hingegen sind die Verkörperung der Inkommunikabilität – und darin steckt eine Qualität. Für die vorherrschenden Wertvorstellungen der mühelosen Kommunikation sind Schüchterne deshalb auch eine Provokation.
Inwiefern?
Studien zeigen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Gesprächsrunde in der Gegenwart einer Schüchternen, die sich nicht beteiligt, verunsichert sind. Sie schwanken dazwischen, sie entweder gar nicht mehr oder als Provokation wahrzunehmen. Deshalb werden Schüchterne oft als arrogante Personen angesehen, die es nicht für nötig halten, sich einzubringen. Wir kennen aus Alltagssituationen, dass man Schüchterne auffordert: „Jetzt sag auch mal was!“ Dass wir versuchen, diese Personen zu aktivieren, also den für die Gesprächssituation störenden Faktor wieder zu reparieren.
Der Schüchterne entzieht sich den sozialen Anforderungen und stellt sie damit infrage. Könnte man ihn gar als Widerstandsfigur bezeichnen?
Der französische Soziologe Gabriel Tarde hat um 1900 eine ganze Lehre auf dem Gedanken aufgebaut, dass Gesellschaft primär über Nachahmung funktioniert. Für ihn war die Schüchterne eine Person, die zu wenig sozialisiert und damit zu individuell ist, um reibungslos an dieser Nachahmung teilnehmen zu können. Sie leistet also Widerstand, allerdings einen, der sich nicht zu sichtbar machen möchte.
Hier können Sie mehr über „Schüchternheit“ lesen:
Selbstdarstellung, Smalltalk, Teamwork scheinen notwendig, um erfolgreich zu sein. Wie können Schüchterne da mithalten?
Schüchterne entwickeln individuelle Taktiken, in Situationen anwesend zu sein und gleichzeitig zu verschwinden. Es ist der Versuch, sich unsichtbar zu machen aus Angst vor der übergroßen Sichtbarkeit eines möglichen Fehlverhaltens – etwas Falsches zu sagen, zu erröten, falsch gekleidet zu sein. Solange wir das Ideal des Extravertierten in Unternehmen, aber auch in Freundschaften und Liebesbeziehungen haben, kann die Schüchterne nicht nachkommen. Ermutigend finde ich aber, dass es in den letzten 15 Jahren zunehmend ein neues Verständnis von Schüchternheit gibt.
Eine hoffnungsvolle Entwicklung also?
Es ist schon so, dass Teamwork und Open Office, wo jeder mit jedem in einem großen Raum kommunizieren soll, von vielen Unternehmen und Mitarbeitern hinterfragt werden. Das heißt noch nicht, dass eine Umkehr stattfindet. Ich sehe auch die Gefahr der Ökonomisierung von Schüchternheit, wenn der wirtschaftliche Nutzen schüchterner Mitarbeiterinnen entdeckt wird.
Für die gesellschaftlich verbreiteten Bilder von Schüchternheit geht mit der Entwicklung aber eine Neubewertung einher. Da geschieht etwas, das sich seit Corona verstärkt hat. Zum ersten Mal waren in einer gesellschaftlichen Situation die Techniken gefragt, die Schüchterne erlernt haben, um einigermaßen erfolgreich überleben zu können.
Welches Potenzial steckt in Schüchternheit?
Implizit kritisieren die Schüchternen das Übermaß an sozialen Verbindungen. Das kann Ideen für andere Arten des Zusammenlebens anstoßen, wie etwa ein wertschätzendes Nebeneinander, das nicht notwendigerweise mit aktiven Interaktionen einhergeht.
Es geht um Formen des Zusammenseins, die ohne den Druck der Selbstdarstellung funktionieren, zum Beispiel in der Bibliothek oder im Café nebeneinander zu arbeiten. Die Schüchterne kann das aushalten und sogar genießen. Sie muss keine einsame Person sein. Vielmehr stellt sie die Frage: Gibt es nicht andere Arten, Gemeinschaftlichkeit zu leben?
Urs Stäheli ist Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg. In seinem Buch Soziologie der Entnetzung (Suhrkamp 2021) beschäftigt er sich mit der Kehrseite der vernetzten Gesellschaft und analysiert unter anderem, welche Rolle Schüchterne dabei spielen.
Zum Weiterlesen
Margarete Eisner: Über Schüchternheit. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte. V&Runipress, Göttingen 2012
Bernardo J. Carducci: Erfolgreich schüchtern. Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Wolfgang Krüger, Frankfurt 2000
Jürgen Hoyer, Samia Härtling: Soziale Angst verstehen und verändern. Springer, Berlin 2016 (2. Auflage)