Das Tor zum Alter

Der Ruhestand ist keineswegs eine Lebensphase des passiven Ausklingenlassens. Er stellt uns vor neue Entwicklungsaufgaben, an denen wir wachsen sollen.

Die Illustration zeigt einen älteren Mann, der auf Bäume, Berge, Palmen, Meer, Sonnenschirm und eine Eule schaut
Nach langer Zeit der Arbeit treten wir durch das Tor zum Alter – in den Ruhestand. Doch auch in dieser Landschaft lauern Hürden. © Ralf Nietmann für Psychologie Heute

Manche Übergänge im Leben sind schleichend. Der Übergang ins Alter hingegen ist gesellschaftlich in vielen Ländern klar und deutlich definiert, und zwar mit Mitte sechzig, je nach staatlich festgesetztem Rentenbeginn oder Pensionierungszeitpunkt mit 64, 65, 66 oder 67 Jahren.

Interessant ist, dass über verschiedene Jahrhunderte hinweg – unabhängig von der jeweiligen Lebenserwartung und vom kulturellen Hintergrund – Mitte 60 in recht übereinstimmender Weise als der Beginn des Alters angesehen wurde. So…

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Hintergrund – Mitte 60 in recht übereinstimmender Weise als der Beginn des Alters angesehen wurde. So vertrat Hippokrates in der Antike die Meinung, dass die Lebenskräfte des Menschen mit 42 nachzulassen beginnen und das Alter mit 63 einsetzt. Ähnliche Angaben finden wir bei dem griechischen Arzt Galen von Pergamon oder bei dem persischen Arzt und Philosophen Avicenna. Im alten Rom waren Männer ab 60 von der Wehrpflicht und von den Steuern befreit. Wie sieht es heute aus? Was erwartet uns?

Der amerikanische Karikaturist Saul Steinberg hat 1954 die typische Lebenstreppe eines Mannes gezeichnet: links ganz klassisch in Etappen aufsteigend, dann nach dem Gipfel senkrecht bis ganz nach unten abfallend, wo der Protagonist in Badehose und mit Sonnenbrille unter einer Palme steht. Ein Bild, das in vielen Köpfen noch heute fest verankert ist: Mit dem Rentenbeginn bricht die Kurve ab, man hat keine gesellschaftliche Funktion mehr, die Leute genießen nur noch ihre Freiheit – oder sind plötzlich dazu degradiert. Sie haben keine Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten mehr, keine Ambitionen – sie sind im Ruhestand und somit zum Stillstand verdammt.

Vier Muster des Übergangs

Dank der vermehrten Gestaltungsmöglichkeiten der Lebensläufe hat sich hier manches verändert. Und dennoch: Dieser Moment bedeutet für die meisten nach wie vor eine einschneidende Zäsur, einen Wendepunkt im Leben. Ab dieser Grenze fängt ein neuer, langer Lebensabschnitt an. Die Zukunftsaussicht ist ein Ruhestand mit rund zwanzig Jahren neuer Freiheit. Der Wechsel vom Berufsleben in die Zeit danach gestaltet sich heute vielfältiger als in früheren Zeiten. Dabei lassen sich grundsätzlich vier Muster des Übergangs identifizieren:

  • Weiterarbeiten: Ein gutes Fünftel der 64- bis 75-Jährigen in der Schweiz ging 2021 immer noch einer Erwerbstätigkeit nach. In Deutschland waren es 15 Prozent, wobei die Zahl ständig steigt. Es sind dies zum einen selbständig Erwerbstätige und Menschen mit einer höheren Bildung. Zum anderen sind es Rentner und insbesondere Rentnerinnen, die eine prekäre finanzielle Lage als Begründung geltend machen. Mit der Arbeit versuchen sie, ihre Rente aufzubessern.

  • Nachberufliches soziales Engagement: Bei dieser Gestaltungsform geht es vor allem um bürgerschaftliche und ehrenamtliche Arbeit (Fahrdienste, Besuchsdienste, Engagement in sozialen Institutionen). So stellen die 65- bis 75-Jährigen im Altersgruppenvergleich in Deutschland und der Schweiz die größte Gruppe der Freiwilligen.

  • Nachholen: Betroffen sind meist Pensionierte, die aufgrund ihres beruflichen Engagements vieles zurückstellen mussten, das sie nun nachzuholen versuchen – beispielsweise Familienengagement, Reisen, Bildung, Kultur.

  • Befreiung: Hier treffen wir Menschen an, die die Pensionierung als Befreiung sehen. Sie wollen ihre Freiheit in Ruhe genießen. Zumeist sind es Leute, die während ihres Berufslebens hart arbeiten mussten (vor allem auch körperlich) oder frustrierende Jobs hatten.

Vom Pathologisieren des Alters

Unabhängig von den jeweils gelebten Gestaltungsmustern scheint der Ruhestand heute für die große Mehrheit eine Phase größerer Lebenszufriedenheit zu eröffnen, ein Effekt, der sich in den letzten Jahren sogar verstärkt hat.

Auch wenn Menschen ab dem Rentenalter in unserer Gesellschaft als alt bezeichnet werden, sieht die Sache aus subjektiver Sicht der Betroffenen ganz anders aus. Denn selbst wenn viele von ihnen das Rentenalter herbeigesehnt haben, heißt das noch lange nicht, dass sie sich ab diesem Zeitpunkt alt fühlen oder sich als alt bezeichnen lassen wollen. In der Tat schätzen sich ältere Menschen, werden sie nach ihrem gefühlten Alter gefragt, mehrheitlich als weit jünger ein, als sie tatsächlich sind (siehe auch: Gefühlt werden wir immer jünger, Heft 3/2024). Das trifft vor allem auf Frauen zu.

Das bekannte Motto „Lange leben, aber nicht alt sein wollen“ ist nicht neu, sondern spiegelt eine uralte menschliche Ambivalenz wider. Seit jeher und allerorts hat das Alter als letzte Phase des menschlichen Lebens beunruhigt und gleichzeitig fasziniert. Die körperlichen und kognitiven Veränderungen haben die Menschen schon immer mit Furcht erfüllt, selbst in Gesellschaften, in denen das Alter nicht mit einem Verlust an sozialem Status verbunden war. Die weitverbreitete Meinung, dass früher das Alter geachtet wurde und dass negative Vorurteile dem Alter gegenüber ein Phänomen der heutigen Gesellschaft sind, ist falsch.

Über Jahrhunderte hinweg wurde das Alter zumeist als eine Krankheit angesehen, als ein pathologischer Prozess, der hinausgezögert und verkürzt werden sollte. In diese Richtung äußerten sich etwa Martin Luther oder Erasmus von Rotterdam.

Eine pessimistische Haltung findet man in der neueren Literatur etwa in Simone de Beauvoirs Buch Das Alter. Dort beschreibt sie das Alter als eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt. Genauso wenig ermutigend ist die Quintessenz des italienischen Philosophen Norberto Bobbio: „Wer das Alter preist, hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen.“

Vom Schönreden des Alters

Es gibt aber auch das Schönreden des Alters. Das Alter wird etwa mit Weisheit assoziiert und als soziokulturelle Bereicherung gepriesen, wobei zumeist herausragende ältere Menschen als Beispiele herangezogen werden.

Große mediale Beachtung fand etwa das amerikanische Model Carmen dell’Orefice, die mit 90 Jahren noch blendend aussehend auf dem Laufsteg defiliert. Oder die kubanische Malerin Carmen Herrera, die ebenfalls mit 90 Jahren den Durchbruch als Künstlerin mit einer Ausstellung im Whitney Museum in New York schaffte. Oder auch Johanna Quaas aus Halle, die 2012 als älteste Wettkampfteilnehmerin der Welt ins Guinnessbuch der Rekorde Eingang fand. Die damals 87-Jährige konnte sich am Barren aus dem Schwung in den Handstand drücken, geschmeidig und kraftvoll auf dem Schwebebalken turnen und am Boden elegant das Rad schlagen.

Arthur Schopenhauer hingegen beschrieb gerade das Nachlassen von Elan und Leidenschaft als Vorteil des Alters. „Man pflegt die Jugend die glücklichste Zeit des Lebens zu nennen und das Alter die traurige“, notierte er im Alter von 63 Jahren. „Das wäre wahr, wenn die Leidenschaften glücklich machten. Von diesen wird die Jugend hin und her gerissen, mit wenig Freude und viel Pein. Dem kühlen Alter lassen sie Ruhe.“

Pauschaler geistiger Abbau

Ist das Zweckoptimismus? Obwohl Glück und Wohlbefinden in unserer Gesellschaft omnipräsente Begriffe sind, werden sie kaum mit dem Alter assoziiert. Ganz im Gegenteil: Trotz jahrzehntelanger Bemühungen seitens der Gerontologie, negative Altersbilder zu korrigieren, wird das Alter nach wie vor und ganz pauschal mit körperlichem wie geistigem Abbau, mit Verlusten, Krankheiten und Depression in Verbindung gebracht.

Aber ist das nicht nachvollziehbar? Es ist doch erwiesen, dass die hauptsächlichen Herausforderungen des Älterwerdens zum einen die nachlassenden körperlichen und kognitiven Ressourcen sind, zum anderen aber auch die vermehrten negativen Lebensereignisse (Erkrankungen, Tod lieber Menschen), welche das Leben in erheblichem Maße erschweren können.

In der Lebenslaufforschung spricht man hier bezeichnenderweise von der mit dem Alter immer negativer werdenden Gewinn-Verlust-Bilanz. Entsprechend sind auch die Erwartungen, was das Alter angeht, nicht gerade optimistisch. Es gibt eine breit abgestützte empirische Evidenz, dass gerade jüngere Menschen die Befindlichkeit im Alter generell negativ einschätzen.

Aber es gibt genauso viel empirische Evidenz, dass dies eine absolute Fehleinschätzung ist. Eine Vielzahl von Studien hat nachgewiesen, dass unabhängig von sozialem Status, Bildung und weitgehend auch von der Geschlechtszugehörigkeit das psychische Wohlbefinden ab 60 keine nennenswerten Einbußen erfährt, sondern dass es im Gegenteil zu einer Stabilisierung auf einem höheren Niveau kommt.

Erst ab 80 Jahren beginnt die Kurve wieder zu sinken, aber mit einer großen Streuung, dass heißt mit sehr großen individuellen Unterschieden. Jüngste Erhebungen wiesen nach, dass Personen im Alter von 65 plus die Coronapandemie psychisch besser gemeistert hatten als alle jüngeren und entsprechend die höchste Lebenszufriedenheit Erwachsener aufwiesen.

Paradoxon des Wohlbefindens

Dieses Phänomen wird in der wissenschaftlichen Literatur als das „Paradoxon des Wohlbefindens im Alter“ bezeichnet. Wie lässt sich dieses wissenschaftlich so gut belegte und gesellschaftlich doch so verkannte Phänomen erklären?

Es spricht vieles dafür, dass dabei psychische Anpassungsprozesse und optimierte Bewältigungsstrategien eine entscheidende Rolle spielen. Diese Strategien bestehen vor allem darin, mit fortschreitendem Alter ganz bewusst das Anspruchsniveau und die Vergleichsstandards an die veränderten Umstände anzupassen. So werden von den Betroffenen etwa Ziele, die nicht mehr erreicht werden können, in ihrer Bedeutung relativiert, die Menschen geben sich mit weniger zufrieden.

Die große Kreuzfahrt etwa, die geplant, aber aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht angetreten werden kann, wird vor dem Hintergrund der Klimakrise als nicht mehr vertretbar abgetan. Man setzt neue Prioritäten im Leben oder man vergleicht sich mit jenen, denen es noch schlechter geht.

Attraktive und vitale 80

Ganz wesentlich ist zudem, dass anstelle externer Normen immer mehr persönliche Maßstäbe gesetzt werden. Schließlich weiß man ja aus Erfahrung selbst am besten, was einem guttut und was nicht. Oder wie eine überaus attraktive und vitale 80-Jährige mir letzthin sagte: „Der beste Arzt für mich bin ich selbst.“

Im Alter wird das Wohlbefinden in der Tat neu definiert. Das hedonistische Wohlbefinden, das sich aus Vergnügen und Lust speist, ist zwar nach wie vor wichtig, hat aber nicht mehr die zentrale Bedeutung wie in jüngeren Jahren. Dafür kommt dem psychischen Wohlbefinden eine dominierende Rolle zu. Psychisches Wohlbefinden stellt sich ein, wenn man das Leben autonom gestalten und Umweltanforderungen bewältigen kann, wenn persönliches Wachstum erlebt wird, positive Beziehungen zu anderen gepflegt werden können, man einen Sinn im Leben erkennt und sich selbst akzeptieren kann.

Die Regulation des Wohlbefindens ist zu weiten Teilen ein bewusster, willentlicher Prozess, eine Frage der Selbsterkenntnis und der Einstellung zum Leben. Hierbei kommt den Älteren ihre Lebenserfahrung zu Hilfe. Mit zunehmendem Alter wissen Menschen immer besser Bescheid über den Umgang mit Widrigkeiten und Schicksalsschlägen. Auch sind sie in der Regel immer besser befähigt, dieses Wissen anzuwenden – sie kennen ihre Möglichkeiten und Grenzen bei der Gestaltung ihrer eigenen Entwicklung.

Ein bunter Mix an Charakterstärken

Man darf und muss sich neu erfinden: individuell und gesellschaftlich mit einem neuen Selbstverständnis als ältere Frau oder älterer Mann, aber auch in der Partnerschaft und in der Familie – als älteres Paar, als ältere Eltern, als Großmutter oder Großvater. Das Schöne daran ist, dass es heute für die Gestaltung dieser Rollen so viele Freiheiten gibt wie nie zuvor. Aber die Freiheiten müssen auch gut genutzt werden.

Ein bunter Mix aus Charakterstärken ist in jedem Alter gefragt. Beim Übergang ins Alter gewinnen aber manche von ihnen eine besondere Bedeutung. Es sind dies zum einen kognitive Stärken wie Wissbegierde und Kreativität, zum anderen die interpersonale Eigenschaft der Generativität, also Liebe und Fürsorge für sich und die anderen, vor allem für die nachfolgenden Generationen.

1. Wissen und Weisheit

„Wenn du meinst, dass im Alter die Weisheit dich nähren soll, dann eigne sie dir in deiner Jugend an, so dass dir im Alter die Nahrung nicht fehle.“ Diese Lebensweisheit aus dem Munde eines großen Genies, Leonardo da Vincis, bringt die Sache auf den Punkt und wird von der Gedächtnisforschung untermauert. Eine reiche kognitive Basis (Wissen und Erfahrung) ist im Alter eine willkommene kompensierende Reserve. Wenn die kognitiven Funktionen abnehmen und die Informationsverarbeitung langsamer wird, erfahren Weltwissen und Lebenserfahrung immer noch steten Zuwachs und machen vieles wett.

Das bedeutet nicht, dass Weisheit ein ausschließliches Privileg des Alters ist. Weise Menschen gibt es in jedem Lebensalter. Allerdings steigt mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, als weise bezeichnet zu werden: Zusammenhänge werden besser erkannt, Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt, man kann gelassener mit vieldeutigen Informationen umgehen und auch die Intuition verbessert sich.

Allerdings trifft das nicht auf alle älteren Menschen gleichermaßen zu. Wer am Ball bleibt, sich weiterbildet, offen für Neues ist, neugierig und ständig im Austausch mit anderen bleibt, hat eine bedeutsam größere Chance, weise zu werden. Tatsächlich belegen die boomenden Besuchszahlen von Volkshochschulen, Seniorenuniversitäten und anderen Fortbildungsinstitutionen ein verstärktes Bildungsengagement der Älteren. Gut Bescheid zu wissen und über aktualisiertes Wissen zu verfügen sind für Menschen im Alter von 65 plus erwiesenermaßen die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und informierte gesellschaftliche Teilhabe.

2. Kreativität

Kreativität ist nicht nur in der Kunst hilfreich, sondern auch bei der Bewältigung des Alltags, zum Beispiel in festgefahrenen Situationen: Gewisse Dinge gehen nicht mehr, die bisherigen Regeln greifen nicht mehr. Häufig sind wir dann ratlos, man hat nur noch einen Tunnelblick. Kreatives Denken ist nun gefragt, ein Denken, das neue, ungewohnte Perspektiven eröffnet. Gut zu wissen, dass Kreativität keine Frage des Alters ist.

Was die künstlerische Kreativität anbelangt, gibt es etliche Beispiele berühmter Personen mit hoher Schaffenskraft bis ins hohe Alter. Es gibt „späte Genies“ wie Anton Bruckner, der seine erste Symphonie erst mit 42 Jahren komponierte, seine berühmteste mit 50, seine neunte, unvollendete schließlich bis kurz vor seinem Tod mit 72 Jahren. Bei Verdi wiederum sind die Meisterwerke über das ganze Leben verteilt, die Oper Nabucco wurde mit 28, Falstaff mit 79 Jahren komponiert. Goethe war bis ins hohe Alter produktiv, ebenso wie Joseph Haydn, Michelangelo, Galileo Galilei, Bertrand Russell, Pablo Picasso und viele andere.

Es gab sicher auch viele kreative Frauen, allerdings wurde wenig über sie berichtet. Doch sie gewinnen zunehmend an Präsenz und sind nicht mehr zu übersehen. Rita Levi-Montalcini etwa, Nobelpreisträgerin für Medizin, hat mit 89 Jahren ein beeindruckendes Buch über das Alter als Chance geschrieben: Ich bin ein Baum mit vielen Ästen.

Allen, die sich in Kunst und Alltag kreativ betätigen, ist eines gemeinsam: Sie beschreiben ihre kreative Tätigkeit in erster Linie als etwas Sinngebendes und Beglückendes. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat eine Reihe von Interviews mit besonders erfolgreichen älteren Menschen aus Wissenschaft und Kunst geführt. Typisch für sie war – neben der hohen Produktivität – die Ausrichtung ihrer Interessen auf die Zukunft. Sie sprachen weniger von ihren vergangenen Erfolgen, sondern mit großer Begeisterung über ihre aktuellen und zukünftigen Projekte.

Sehr schön wurde diese Dimension von dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, der über 100 Jahre alt wurde und bis an sein Lebensende kreativ blieb, in einem Interview beschrieben: „Wer kennt das nicht, dieses quälerische Gefühl bei der kreativen Arbeit. Aber wenn etwas zustande gekommen ist, dann haben wir wieder einen Halt in dem fremden Geschehen, das uns umgibt. Vielleicht ist das ein tiefes Gefühl der Gelassenheit, nach dem wir streben. Aber dieses Gefühl, nennen wir es Glück, kommt erst nach einer kreativen Anstrengung, der wir uns immer wieder ausliefern müssen.“

3. Generativität

Generativität bezieht sich sowohl auf die Vermittlung und Weitergabe von Erfahrungen an jüngere Generationen als auch auf Aktivitäten, die einen Beitrag zur Nachhaltigkeit des Gemeinwesens leisten. Auch wenn Generativität bereits im mittleren Lebensalter ein Thema ist, wird sie im Alter zu einer zwingenden Entwicklungsaufgabe.

Was ist Generativität? Die Lebensinteressen werden in zunehmendem Maße auf das Gedeihen der eigenen Nachkommen oder anderer Personen in der nachfolgenden Generation gerichtet. In der Entwicklungspsychologie wird Generativität auch als Wunsch nach symbolischer Unsterblichkeit beschrieben: Man versucht, etwas zu schaffen, das die eigene Existenz überdauert. Generativität drückt sich aber auch in dem Verlangen aus, gebraucht zu werden und von Bedeutung für andere Menschen zu sein. Es ist das Bedürfnis, etwas zu tun, was eine nachhaltige positive Wirkung hat, wenn man selbst nicht mehr existiert.

In vielen Studien wurde der hohe Stellenwert und der sinnstiftende Charakter von Generativität beschrieben. Je generativer sich Menschen im Alter verhalten, desto größer ist ihr Selbstwert und desto besser ihr physisches und psychisches Wohlbefinden.

Das Gegenteil von Generativität ist Stagnation, also das Stehenbleiben ohne Weiterentwicklung, das Sich-um-die-eigene-Achse-Drehen. Die Gefahr der Stagnation droht insbesondere Menschen, die sich nur um sich selbst kümmern, deren Interessen nur um sie selbst kreisen. Das führt schließlich dazu, dass sie von der Umwelt abgelehnt werden, was wiederum für die Betroffenen Grund genug ist, noch weniger in „die anderen“ zu investieren. Gefangen in diesem Teufelskreis, stellt sich für solche Leute zunehmend die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns: Für wen rackere ich mich eigentlich so ab? Wer braucht mich schon?

Generativität ist somit sinnstiftend und zudem eine Grundvoraussetzung, um mit der zunehmend negativen Gewinn-Verlust-Balance im Alter zurechtzukommen. Im Begriff der Generativität kommt aber auch die Erwartung zum Ausdruck, dass ältere Menschen sich in ihren sozialen Beziehungen als weise, kooperativ und kontaktfreudig erweisen.

Der römische Philosoph Seneca schrieb in seinem Werk Von der Kürze des Lebens, dass das Leben ein ganzes Leben lang erlernt werden müsse. Tatsächlich ist der Mensch dazu aufgefordert, sein Leben immer wieder aufs Neue auszurichten – entlang der Erfahrungen, die er gemacht hat und die er für die Zukunft antizipiert.

Dieser Text ist ein redaktionell bearbeiteter Auszug aus dem Buch Own your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte von Pasqualina Perrig-Chiello, das soeben bei Beltz erschienen ist.

Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Psychologieprofessorin an der Universität Bern. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Psychologie der Lebensspanne, insbesondere biografische Übergänge.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2024: Meine perfekt versteckte Depression