Gefühlt werden wir immer jünger

Gerade sechzig geworden, aber fühlt sich frische vierzig. Viele Menschen erleben sich jünger als sie sind. Wie wirkt sich das auf ihr Wohlbefinden aus?

Die Illustration zeigt einen Forstarbeiter mit Kettensäge, Helm und Maske auf einer Geburtstagstorte, der gerade die Kerzen auf der Torte nach und nach fällt
Jedes Jahr wird es eine Kerze mehr. "Aber halt! So alt fühle ich mich doch noch gar nicht." © Lea Berndorfer für Psychologie Heute

Der Volleyball rollte in die äußerste Ecke der Sporthalle, in den Geräteraum, noch hinter die Gymnastikkästen. Schwer zu erreichen. Weswegen Lars, der eigentlich am nächsten dazu stand, der Spielergruppe mitteilte: „Dafür bin ich zu alt. Das muss jemand anders machen.“ Also kletterte Manuela hinter die Kästen, um den Ball zu holen. Es fiel auch ihr nicht leicht, doch sie schaffte es. Trotz ihres Alters von 70 Jahren. Lars war nur knapp über 60. Einige der Mitspieler wussten das – und schüttelten den Kopf.

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von 70 Jahren. Lars war nur knapp über 60. Einige der Mitspieler wussten das – und schüttelten den Kopf.

Später in der Kneipe diskutierten sie den Vorfall. Einer erklärte die Verweigerung von Lars damit, dass er gesundheitlich vermutlich nicht so fit sei. Doch das wurde von einem anderen am Tisch gleich korrigiert. Lars habe seinen letzten Arztcheck bravourös bestanden, während Manuela schon seit längerem unter Rheuma leide. Trotzdem kletterte nicht etwa der Jüngere, sondern die Ältere dem Ball hinterher. „Vielleicht fühlt sie sich einfach jünger“, konstatierte schließlich jemand, „und er fühlt sich älter.“ Die Gruppe nickte wissend. Und bemerkenswerterweise würde diese These heute auch nicht mehr in den Wissenschaften als Kneipenpsychologie belächelt werden.

Ein jüngeres Gehirn

Lange Zeit allerdings wurde zum subjektiven Alter wenig geforscht – also zu dem Phänomen, dass sich Menschen oft älter oder jünger fühlen, als dies aus ihrem Personalausweis hervorgeht. Man hielt das für einen Spleen, so wie andere alltägliche Fehleinschätzungen: Halten wir uns nicht auch für klüger, schlanker oder attraktiver, als wir tatsächlich sind?

Doch die Einschätzung des Phänomens hat sich in den letzten Jahren gründlich gewandelt. Mittlerweile zählt das subjektive Alter zu den großen Themen in Psychologie, Soziologie und auch Medizin. Und das sei auch gerechtfertigt, findet der Sozialpsychologe Yannick Stephan von der Universi­tät Montpellier: „Das subjektive Alter ist ein guter Indikator für das psychische, körperliche und soziale Wohlbefinden eines Menschen.“

Yannick Stephan ermittelte in einer Studie an mehr als 6500 Probanden der Ü-50-Altersklasse, dass diejenigen, die sich um acht bis dreizehn Jahre älter fühlen, für die nächsten zwei Jahrzehnte ein bis zu 29 Prozent größeres Sterberisiko haben. In einer weiteren Untersuchung konnte er zeigen, dass sie kognitiv eher abbauen. Zehn Jahre, nachdem man ihre subjektive Alterseinschätzung abgefragt hatte, schnitten sie beim Konzentrieren, Erinnern und Schlussfolgern deutlich schlechter ab als diejenigen, die sich für jünger gehalten hatten.

Physiologisch erhärtet wird dieser Befund durch die Studie eines koreanischen Forscherteams, das per Magnetresonanz die Gehirne von 68 älteren Erwachsenen untersuchte. Dabei präsentierten diejenigen, die sich jünger als ihr biologisches Alter fühlten, eine dickere Gehirnsubstanz und weniger neurodegenerative Veränderungen als jene, die sich älter oder ihrer Biologie entsprechend wahrnahmen. Die Unterschiede zeigten sich vor allem im präfrontalen Kortex, der eine zentrale Rolle für die Handlungssteuerung und die Regulation emotionaler Prozesse spielt, sowie im Striatum, das dabei mitwirkt, motorische Absichten, etwa eine Greifbewegung, in eine situationsangemessene Handlung zu überführen.

Nat King Cole und Ben Hur

Ein Forschungsteam um Dilip V. Jeste von der University of California ermittelte an rund 1000 gesunden Män­nern und Frauen, dass diejenigen mit dem gefühlt jüngeren Alter erfolgreicher altern als die anderen: „Sie können sich besser beherrschen, sind widerstandsfähiger, sie haben mehr Sex, Hoffnung, Optimismus und Neugierde und erfahren aus ihrer Umgebung eine größere soziale Unterstützung.“ Die junggebliebenen Probandinnen und Probanden der Ü-60-Generation gaben überdies an, einen größeren Sinn in ihrem Leben zu sehen als früher.

Eine besonders eindrucksvolle Demonstration der vitalisierenden Kraft des Sich-jünger-Fühlens lieferte bereits Ende der 1970er Jahre das counterclockwise (gegen den Uhrzeigersinn) getaufte Experiment der amerikanischen Harvard-Psychologin Ellen Langer. Dazu wurden Männer zwischen Ende siebzig und Anfang achtzig in eine Umgebung gebracht, wie sie 20 Jahre zuvor, also Ende der 1950er existierte: mit Schwarz-Weiß-Fernsehen, Musik von Nat King Cole und Filmen wie Ben Hur. Die Hälfte der Probanden wurde zudem noch aufgefordert, alles auszublenden, was in ihrem Leben seitdem geschehen war, und sich exakt so zu verhalten, als wären sie immer noch in dieser Zeit. Die Kontrollgruppe erhielt hingegen nur die Aufgabe, sich rückblickend mit dieser Zeit zu beschäftigen und in Erinnerungen zu schwelgen.

Zwei Wochen später waren die Mitglieder beider Gruppen deutlich vitaler als vor dem Experiment. Sie waren beweglicher, körperlich belastbarer und motorisch geschickter geworden, schnitten in Hör-, Seh-, Gedächtnis- und IQ-Tests besser ab. Besonders groß waren die Fortschritte jedoch in der Gruppe, deren Mitglieder vollständig in ihr Damals eingetaucht und praktisch wieder zu ihrem Jugend-Ich geworden waren. Wer sich dagegen nur in der Erinnerung damit beschäftigt hatte, fühlte sich zwar auch besser, aber eben nicht in gleichem Maße.

Der Körper folge also dem Jugendtrip unserer Psyche umso mehr, so Langers Resümee, je tiefer diese darin eintauche. Die Psychologin hat 2019 noch einmal ein Counterclock­wise-Experiment publiziert, mit modernen Untersuchungsmethoden, verändertem Umfeld und natürlich auch anderen Probanden, die diesmal männlichen und weiblichen Geschlechts waren. Die Ergebnisse waren ähnlich wie 40 Jahre zuvor.

Der "Verjüngerungs-Bias" hat eine Grenze

Langers Arbeiten belegen, wie stark das Mindsetting sein kann, wie stark also Glaube, Überzeugungen und andere psychische Prozesse auf das komplette Wohlbefinden eines Menschen wirken können. Doch es ist fraglich, ob das Jüngerfühlen tatsächlich auch eine biologische Verjüngungskur einleitet. Denn beim subjektiven Alter geht es ja im Wesentlichen um Autosuggestion: Wir überzeugen uns selbst davon, dass wir jünger oder älter sind, und das geschieht wohlgemerkt im Rahmen unserer aktuellen körperlichen Verfassung.

So lassen naheliegenderweise chronische und schwere Krankheiten einen Menschen sich oft älter fühlen, weil sie ihm die Kräfte und Perspektiven rauben. Gerade diese Probandinnen und Probanden werden bei den Studien zum subjektiven Alter aber oft ausgeklammert, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Aber die körperliche Verfassung kann auch ohne Krankheiten eine große Wirkung darauf haben, wie alt wir uns fühlen. So berichten viele Menschen nach einer erfolgreichen Diät, dass sie sich nicht nur schlanker, sondern auch jünger fühlen. Umgekehrt empfinden nicht wenige ihre nachlassende Power in Sport und Beruf, ihre schwindende Sehkraft oder Libido als Symptome für einen beschleunigten Altersprozess.

Was die Frage aufwirft: Geht es uns besser, weil wir uns jünger fühlen, oder fühlen wir uns jünger, weil es uns besser geht? Eine abschließende Antwort darauf ist nicht möglich. Wahrscheinlich gibt es Bewegungen in beide Richtungen. „Wir besitzen intuitive Informationen über unsere körperlichen Fähigkeiten, geistige Schärfe und emotionale Stabilität, die in eine aussagekräftige Altersangabe übersetzt werden“, erläutert Stephan. Aber diese Einschätzung wirke sich auch wieder umgekehrt auf unsere psychischen und körperlichen Merkmale und Leistungsfähigkeiten aus: Wir sind fitter, fühlen uns daher jünger, und das wiederum fördert unsere Fitness.

Insgesamt scheint sich also das „Verjüngungs-Bias“, wie Wissenschaftler das Sich-jünger-Fühlen gerne nennen, positiv auf die Gesundheit und das Altern auszuwirken. Doch garantiert ist das nicht. „Es gibt eine Grenze, ab der es zum gesundheitlichen Nachteil wird“, erläutert Hans-Werner Wahl, Psychologe an der Universität Heidelberg. Denn wer sich um viele Jahre jünger fühlt, neigt dazu, größere Risiken in seinem Leben einzugehen. Nach dem Muster: Ich fühle mich fit und gesund und deswegen kann ich beispielsweise länger ungeschützt in der Sonne liegen oder acht Stunden am Stück am Steuer meines Wagens sitzen, ohne dabei müde zu werden.

Überschätzte Gesundheitsressourcen

Die russische Forscherin Tatiana Berezina und ihr Kollege Stanislav Rybtsov haben herausgefunden, dass sich während der Covid-19-Epidemie gerade diejenigen infizierten, die sich für besonders jung hielten. Der Grund: Sie schätzten sich als besonders immunstark und robust ein, weswegen sie es mit den Schutzmaßnahmen wie Masketragen und Isolation nicht so genau nahmen. Das Verjüngungs-Bias kann eben ab einem bestimmten Grad zur Selbstüberschätzung führen, was die eigenen Gesundheitsressourcen angeht – und dann verkehrt es sich zum gesundheitlichen Risiko.

Und dieses Risiko der Selbstüberschätzung trifft uns fast alle: Studien der letzten Jahre zeigen, dass rund 80 Prozent von uns nach ihrem 40. Lebensjahr dazu neigen, sich jünger zu fühlen, als sie sind. „Es gibt nur wenige, die sich älter oder ihrem biologischen Alter entsprechend einschätzen“, erläutert Wahl. Die Spanne des Verjüngungs-Bias liegt meistens bei acht bis zwölf Jahren. In einigen Fällen fühlen sich die Menschen zwar um stolze zwanzig Jahre jünger, doch das findet man allenfalls bei hochbetagten Seniorinnen und Senioren.

Denn wenn sich ein 80-Jähriger um zwanzig Jahre jünger fühlt, entspricht das nur einem Viertel seines Lebens. Bei einem 40-Jährigen wäre es hingegen die Hälfte – so weit geht das Verjüngungs-Bias in der Regel nicht. Aus diesem Grund wird in der entsprechenden Forschung häufig das subjektive Alter am chronologischen Alter relativiert. Demnach fühlen sich Menschen ab 40 Jahre um 15 bis 20 Prozent jünger.

Im subjektiven Jungbrunnen

Außerdem scheint der subjektive Jungbrunnen mit jeder neuen Generation tiefer zu werden. Wahl hat das zusammen mit dem Berliner Psychologen Markus Wettstein und anderen in einer Studie untersucht. Die 15000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zum ersten Untersuchungszeitpunkt 40 bis 85 Jahre alt. Wahl und Wettstein interessierte, wie sich die Einschätzung des Alters von den älteren zu den jüngeren Jahrgängen veränderte. Demnach fühlen sich die später Geborenen stetig jünger als die früher Geborenen im gleichen Lebensalter.

Dieser Generationenunterschied macht zwei Prozent pro Geburtsjahrzehnt aus: Eine 1950 geborene Person fühlte sich mit sechzig im Schnitt um zwei Prozent jünger als eine 1940 geborene Person im selben Alter. Es gibt also einen deutlichen Trend des subjektiven Alters in Richtung Jugendlichkeit. Und dies gilt für die Jüngeren um die fünfzig genauso wie für die Älteren um die achtzig.

Alter als Stigma

Eine mögliche Erklärung für diesen Trend wäre, dass es den Ü-40-Jahrgängen hierzulande immer besser geht, weil sie beispielsweise weniger arbeiten, mehr Freizeit haben, körperlich und geistig gesünder sind und medizinisch besser versorgt werden als früher. Eine andere Erklärung wäre, dass sich in Deutschland und anderen Industrienationen forever young als Lebensmotto entwickelt hat und ein fortgeschrittenes Alter mehr denn je als nicht erstrebenswert gilt.

Vor diesem Hintergrund könnte der Druck in Zukunft wachsen, sich immer jünger zu fühlen – was den gesundheitlichen Wert der vermeintlichen subjektiven Verjüngung stark relativieren würde. Denn sozialer Druck erhöht generell das Risiko für allerlei Krankheiten, und wenn er über das forever young aufgebaut wird, schadet er vor allem denen, die da nicht mithalten können. Wer als 75-jähriger Diabetespatient mit Rheuma und schweren Gehproblemen überall um sich herum beobachten muss, dass fast alle jünger wirken, wird sich einsam und gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen – und das ist bekanntlich ein großes Gesundheitsrisiko.

Ein interessantes Nebenergebnis der Studie: Frauen fühlen sich jünger als Männer. Dies entspricht dem Resultat einer Forschungsarbeit der George Mason University in Virginia, die sich explizit mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Demnach fühlen sich Männer durchschnittlich um neun, Frauen hingegen um zehn Jahre jünger als ihr biologisches Alter. Über die Ursachen dieser Differenz lässt sich viel spekulieren. Am Altersprozess kann es jedenfalls nicht liegen, denn mittlerweile ist bekannt, dass Frauen – obwohl sie eine höhere Lebenserwartung haben – sogar schneller altern als Männer. Zum Beispiel fühlen sich Frauen körperlich weniger fit als Männer im gleichen Alter. Ihre Reaktionsfähigkeit und ihr Gleichgewichtssinn lassen früher nach, und fünf von sechs altersbedingten Augenkrankheiten treten bei Frauen früher auf als bei Männern.

All das müsste ja eigentlich konterkarieren, dass Frauen sich jünger fühlen, als sie sind. Dass dies nicht so ist, könnte vielleicht damit zu tun haben, dass alternde Frauen gesellschaftlich stärker stigmatisiert werden als alternde Männer: Auf ihnen lastet also ein deutlich stärkerer Verjüngungsdruck, zumindest was die Selbstdarstellung nach außen angeht. Eine andere Erklärung: Frauen wenden sich mit zunehmendem Alter mehr der Welt zu – und Neugier und sozialen Beziehungen wird nachgesagt, dass sie gerade im Alter psychisch guttun. Männer hingegen ziehen sich mit den Jahren eher zurück.

Stress bleibt moderat

Dies würde auch zu einer Persönlichkeitsanalyse passen, die Yannick Stephan an 31000 Männern und Frauen durchgeführt hat. Demnach findet man ein jüngeres subjektives Alter insbesondere bei Menschen, die weltoffen, verträglich und extravertiert sind. Sich alt fühlen geht hingegen oft mit einem ausgeprägten Neurotizismus einher, also emotionaler Dünnhäutigkeit und geringer Belastbarkeit.

Und Stress macht – zumindest subjektiv – alt, wie eine von einem internationalen Forschungsteam um Anna Kornadt von der Universität Luxemburg durchgeführte Studie unterstreicht. Das Team befragte 116 ältere (im Durchschnitt 66 Jahre alte) und 36 sehr alte (im Durchschnitt 86 Jahre alte) Männer und Frauen nach ihrem subjektiv wahrgenommenen Alter und ihrem Stress. Um der Erhebung auch eine objektive Grundlage zu geben, nahm man mehrmals täglich eine Speichelprobe, um den Kortisolpegel der Teilnehmenden zu ermitteln. Das in den Nebennieren produzierte Hormon gilt als zuverlässiger Stressindikator.

Es zeigte sich, dass man vom Stress zuverlässig auf das subjektiv wahrgenommene Alter eines Menschen schließen kann. Wer unter Stress steht, hält sich selbst für deutlich älter. Ein weiteres Ergebnis: Es muss keine Scheidung, ein Todesfall in der Familie oder eine andere extreme Situation vorliegen, damit sich ein Mensch älter fühlt. Die Kortisolwerte und Selbsteinschätzungen zeigen vielmehr, dass dazu schon eine mäßige Stressmenge ausreicht. „Ältere Menschen wie die in unserer Studie sind in der Regel ohnehin ganz gut darin, ihren Stresslevel auf einem moderaten Niveau zu halten“, sagt Wahl, der an der Studie beteiligt war.

Bleibt die Frage, warum das subjektive Alter unter Stress nach oben geht. Das Argument, wonach dies vor allem die kranken und dadurch geschwächten Menschen betrifft, konnten die Forschenden durch den hand grip test entkräften, bei dem die Muskelkraft in der Hand gemessen wird. Dabei zeigte sich, dass auch gesunde Menschen sich subjektiv älter fühlen und auch tatsächlich kraftloser sind, sobald sie unter Stress stehen. Ein gestresster Mensch, so die Vermutung, fühlt sich generell überfordert, dem Alltag nicht mehr gewachsen – und dadurch älter.

Kontakte werden erfüllender

Eine andere Erklärung wäre, wie Wahl hervorhebt, „das soziale Feedback“. Demnach werden gestresste Menschen von den anderen als überfordert und deshalb möglicherweise als älter eingeschätzt. Und wenn einem das ständig signalisiert wird, glaubt man es irgendwann selbst.

Das soziale Feedback könnte aber auch aus einer anderen Richtung erklären, warum Menschen sich subjektiv älter fühlen. So spricht man schon seit längerem vom „Krankheitsgewinn“, wenn jemand aus seiner Erkrankung einen psychosozialen Nutzen zieht, sei es in Form von zwischenmenschlicher Zuwendung oder weil man von bestimmten Alltagspflichten befreit ist. Ähnliches gibt es auch beim Altern, das ebenfalls mit einer Befreiung von alltäglichen Mühen einhergeht – so wie im Eingangsbeispiel bei Lars, dem Volleyballer, der lieber andere den Ball holen lässt.

Doch das ist nicht der einzige Vorteil des Alters. Lange ging man in der Geriatrie davon aus, dass alte Menschen zwangsläufig in die soziale Isolation geraten, weil sie an Mobilität verlieren und ihnen Freundinnen und Familienmitglieder wegsterben. Doch seit den 1990er Jahren haben mehrere Studien gezeigt, dass sie oft ihre sozialen Kontakte, auch wenn sie weniger geworden sind, als erfüllender, mit mehr positiven Emotionen erleben.

„Ältere Menschen berichten seltener über negative Erfahrungen in ihren sozialen Interaktionen als jüngere“, so die amerikanische Gerontologin Karen Fingerman. Es gibt also durchaus einen „Altersgewinn“. Wer weiß, vielleicht könnte das ja eine Motivation in die umgekehrte Richtung sein, nämlich sein ­Alter nicht herunter-, sondern hochzuschrauben.

Eugeria

Das von Aristoteles geprägte Wort eugeria bezeichnet eine gute Art (eu) des Alterns (geria). Die Medizinforscher John Rowe und Robert Kahn griffen den Gedanken im Jahr 1997 auf und beschrieben drei Faktoren „erfolgreichen Alterns“, wie sie es nannten. Charakteristisch für Menschen, die über hohes Wohlbefinden im fortgeschrittenen Alter berichteten, war demnach eine geringe Belastung durch chronische Krankheiten, ein hohes Engagement in ihrer sozialen Gemeinschaft und ein nur langsamer Abbau physischer und kognitiver Kräfte

Quellen

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Anna Kornadt u.a.: Momentary subjective age is associated with perceived and physiological stress in the daily lives of old and very old adults. Psychology and Aging. 37(8), 2022, 863-875

Seyul Kwack u.a.: Feeling How Old I Am: Subjective Age Is Associated With Estimated Brain Age. Front Aging Neurosci. June 7, 2018, 10:168

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Gloria Luong u.a.: Better With Age: Social Relationships Across Adulthood. J Soc Pers Relat. 28(1), 2011, 9–23

Francesco Pagnini u.a.: Ageing as a mindset: a study protocol to rejuvenate older adults with a counterclockwise psychological Intervention. BMJ Open 2019;9:e030411. doi:10.1136/bmjopen-2019-030411

Yannick Stephan u.a.: Subjective Age and Mortality in Three Longitudinal Samples. Psychosom Med. 80(7), 2018, 659–664

Yannick Stephan u.a.: Subjective age and risk of incident dementia: Evidence from the National Health and Aging Trends survey. J Psychiatr Res. May, 2018, 1–4

Yannick Stephan u.a.: Personality and subjective age: Evidence from six samples. Psychology and Aging. 37(3), 2022, 401–41

D. Wagner u.a.: Gender Differences in subjective Age and Predictors of Satisfaction with aging. GSA 2016, 142-143

Markus Wettstein u.a.: Younger Than Ever?Subjective Age Is Becoming Younger and Remains More Stable in Middle-Age and Older Adults Today. 34(6), 2023, 647-656

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2024: Ich bin mehr als die Krisen, die hinter mir liegen