Frau Professorin Kessler, ich stelle mir gerade vor: Ich bin über 80 und soll noch eine Psychotherapie beginnen. Allein der Gedanke ist anstrengend. Warum sollten Menschen das noch machen?
Weil der psychische Leidensdruck selbst im sehr hohen Alter noch immens sein kann. Deshalb stehen ältere Menschen einer Psychotherapie positiver gegenüber, als oft angenommen wird. Nach den Befunden des Depressionsbarometers, einer jährlichen repräsentativen Befragung in Deutschland, wären 64 Prozent der älteren Befragten…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
rometers, einer jährlichen repräsentativen Befragung in Deutschland, wären 64 Prozent der älteren Befragten über 70 bereit, im Fall einer depressiven Erkrankung eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen.
Wir haben im letzten Jahr die bisher weltweit erste große Psychotherapiestudie mit zu Hause lebenden pflegebedürftigen älteren Menschen beendet – die sogenannte PSY-CARE-Studie. Da haben Ärztinnen und andere Behandler diese Personengruppe auf das Angebot der Therapie aktiv aufmerksam gemacht, und wir konnten diejenigen, die interessiert waren und depressive Symptome aufwiesen, in eine ambulante Kurzzeittherapie vermitteln. Wir haben eine hohe Therapiemotivation selbst innerhalb dieser Gruppe körperlich sehr beeinträchtigter und meist sehr alter Menschen gesehen. Das ist wirklich bemerkenswert.
Wussten diese Menschen, worauf sie sich einlassen?
Absolut. Viele der Frauen und Männer hatten klare Vorstellungen von ihren persönlichen Therapiezielen. Zum Beispiel: wieder mehr Interesse und Freude zu erleben; kräftezehrende Konflikte mit den Kindern klären zu können; oder aber schmerzhafte Erinnerungen aus der ersten Lebenshälfte besser zu bewältigen, die sich während der Pflegebedürftigkeit wieder aufdrängten.
Wie viele Menschen jenseits der 60 Jahre sind denn therapiebedürftig?
Zunächst ist festzuhalten, dass die psychische Gesundheit für die allermeisten Menschen in diesem Alter deutlich besser ist als die körperliche Gesundheit. Das heißt, dass es den meisten subjektiv gutgeht trotz körperlicher, geistiger und sozialer Verluste. Dennoch leiden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation 15 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre an krankheitswertigen psychischen Erkrankungen. In vielen Fällen könnte psychotherapeutische Behandlung dazu beitragen, die Erkrankung zu überwinden. Einzige Ausnahme: Menschen mit bereits fortgeschrittener Demenz. Und natürlich hat Psychotherapie auch keinen Sinn, wenn jemand zwar vielleicht zu Therapiesitzungen kommt, aber nicht an einer Veränderung seines Verhaltens und Erlebens interessiert ist.
Welche psychischen Erkrankungen treten im Alter auf?
Nicht selten Angststörungen, vor allem aber Depressionen oder häufig auch beides zusammen. Ältere Menschen sind ungefähr genauso häufig von einer depressiven Episode betroffen wie jüngere. Doch leichtere depressive Beschwerden kommen im Alter deutlich häufiger vor. Außerdem erkranken vor allem ältere Menschen mit körperlichen Einschränkungen häufiger an Depressionen. Ist jemand pflegebedürftig, steigt das Erkrankungsrisiko sogar auf 25 bis 35 Prozent. Aber auch soziale Faktoren wie der Verlust sozialer Bezugspersonen spielen eine große Rolle.
Mit welchen Symptomen haben depressive ältere Menschen zu kämpfen?
Die wichtigsten Symptome sind sozialer Rückzug und der Verlust von Antrieb und Interesse. Betroffene verfolgen beispielsweise die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft nicht mehr, sie gehen morgens nicht mehr einkaufen. Manchmal haben sie nicht einmal mehr Lust, die Dinge zu tun, die ihnen immer Spaß gemacht haben, wie Polit-Talkshows schauen oder mit den Enkelinnen und Enkeln spielen. Auch erhebliche Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen können auftreten.
Man hört jemandem zu, aber kann sich nicht darauf einlassen und erinnert sich entsprechend später nicht mehr richtig an die Inhalte. Oder vergisst den Geburtstag des Freundes, an den man bisher immer gedacht hatte. Solche Symptome gehören auch in jüngeren Jahren zu Depressionen dazu. Aber im Alter fallen sie mehr auf, weil man insgesamt weniger kognitive Ressourcen hat. Betroffene und ihre sozialen Bezugspersonen befürchten daher manchmal eine Demenz, doch tatsächlich ist es eine Depression.
Können dann auch angstlösende oder antidepressiv wirkende Medikamente hilfreich sein?
Das ist eine Therapieoption im Fall einer depressiven Erkankung, ja. Dagegen kann aber sprechen, dass fast alle alten Menschen bereits mehrere Arzneien gegen ihre körperlichen Erkrankungen nehmen. Die Einnahme antidepressiver Medikamente würde dann das Risiko negativer Wechselwirkungen zwischen den Präparaten weiter erhöhen. Und: Bei gebrechlichen älteren Menschen zeigt sich in Studien immer wieder, dass Antidepressiva zu sehr wenig Behandlungserfolgen führen. Leider wird diese Tatsache in der Praxis selten zur Kenntnis genommen. Wir haben es folglich mit einer erheblichen Fehlversorgung dieser Patientengruppe zu tun.
Aber schon bei jüngeren Menschen fehlt es an Psychotherapieplätzen. Die Wartezeiten sind lang. Wie sieht es bei den Älteren aus?
Noch weitaus schlechter, obwohl in der medizinischen Leitlinie aufgrund gesicherter Erkenntnisse aus der Psychotherapieforschung ausdrücklich steht, dass Menschen über 65 Jahren im Fall einer depressiven Erkrankung eine Psychotherapie angeboten werden soll. Laut den Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung machen 20 bis 25 Prozent aller jüngeren Erwachsenen mit Depression eine ambulante Psychotherapie. Bei den 65- bis 80-Jährigen sind es gerade mal fünf Prozent. Im noch höheren Alter kann man von einer Nichtversorgung sprechen. Bei den depressiven Menschen über 80 sind weniger als ein Prozent in einer psychotherapeutischen Behandlung.
Wieso erhalten so unfassbar wenige ältere Menschen Psychotherapie? Das kann ja nicht nur am Therapeutinnenmangel liegen.
Zunächst einmal geistern beharrlich stereotype Ansichten herum. So wie: „In meinem Alter ändert man sich nicht mehr!“ Oder: „Ich muss allein mit meinen Problemen zurechtkommen.“ Das sind innere Barrieren, die manche ältere Menschen davon abhalten, den Schritt hin zu einer Psychotherapie zu machen.
Und die Behandler, welche Rolle spielen die?
Sie tragen häufig zur Unterversorgung bei, ohne dass sie sich darüber bewusst sind. Meine Arbeitsgruppe hat Ärztinnen und Psychotherapeuten in mehreren Experimenten Fallbeschreibungen von Menschen mit Depressionen gegeben. Darin stand, in welcher Lebenssituation sich diese befänden und welche Beschwerden sie hätten. Dann haben wir die Behandlerinnen gefragt, welche Einstellung sie gegenüber diesen depressiven Menschen haben und wie sie sie behandeln würden.
Und jetzt kommt der Clou des Experimentes: Der einen Hälfte der Gruppe haben wir gesagt, die im Fallbeispiel beschriebene Person sei 78 Jahre alt, und der anderen, sie sei 50. Gingen die Behandler davon aus, dass die Person älter ist, hatten sie ihr gegenüber mehr negative Gefühle und gaben ihr eine schlechtere Prognose. Sie hielten diesen Menschen für weniger psychotherapiefähig, hatten weniger Interesse daran, ihn zu behandeln, und hielten sich selbst auch für weniger qualifiziert für die Behandlung.
Das zeigt, dass selbst professionelle Behandlerinnen das negative Altersbild des unflexiblen und nicht mehr zur Veränderung fähigen alten Menschen verinnerlicht haben. Diese Einstellung ist keine böse Absicht. Es werden vielmehr unbewusste und in unserer Kultur tiefverankerte Altersstereotype aktiviert. Und ein weiteres typisches und fatales Vorurteil ist: Wenn jemand nicht mehr so mobil ist, das soziale Netzwerk immer kleiner wird und die Lebenszeit ausläuft – da müsse man ja depressiv werden, und deshalb bringe auch eine Psychotherapie nichts mehr, sondern es blieben nur noch Medikamente.
Welche psychotherapeutischen Ansätze für Ältere sind in ihrer Wirksamkeit belegt und werden angewendet?
Dazu gibt es inzwischen viele Studien. Bei Depression haben sich die kognitive Verhaltenstherapie, die Problemlösetherapie sowie die Lebensrückblicktherapie als am wirksamsten erwiesen. Bei der Lebensrückblicktherapie leiten wir die Patientinnen dazu an, die eigene Biografie strukturiert entlang der verschiedenen Lebensabschnitte durchzugehen, um eine positivere, sinnhaftere Perspektive auf ihren Lebensweg und ihr Selbst zu entwickeln.
Bei der Problemlösetherapie geht es darum, gezielt Strategien und Handlungsmöglichkeiten zur schnelleren und effektiveren Lösung eines Problems zu trainieren. Und die kognitive Verhaltenstherapie ist ein Verfahren, bei dem es darum geht, positive Alltagsroutinen aufzubauen, zuversichtlichere innere Grundüberzeugungen zu entwickeln und die sozialen Fähigkeiten zu verbessern.
Wie zeigt sich die Wirksamkeit?
Eine gute Wirksamkeit kann sich im Einzelfall darin zeigen, dass Patientinnen wieder mehr an Kontakten mit anderen Menschen interessiert sind, im Alltag aktiver sind, sich nicht mehr so wertlos oder körperlichen Einschränkungen ausgeliefert fühlen. Ein Therapieerfolg kann aber auch darin bestehen, dass ein älterer Mensch mit mehr Selbstakzeptanz auf sein gelebtes Leben schaut, oder auch, dass er oder sie mit mehr Hoffnung, Schwung und in Einklang mit den eigenen persönlichen Werten die Zukunft plant.
Was ist das Besondere an einer Therapie mit Menschen im hohen und sehr hohen Lebensalter?
Dass mit den Jahren der psychische Zustand immer komplexer wird. Nehmen Sie folgendes Beispiel: eine Patientin, die in ihrer Kindheit ein Kriegstrauma erlitten hat, als junge Frau ihr Kind verloren hat, seit einigen Jahren aufgrund einer Augenerkrankung zunehmend sehbeeinträchtigt ist und aktuell den Umzug in ein Pflegeheim bewältigen muss. So viele lang-, mittel- und kurzfristige Faktoren kommen hier zum Tragen, auf körperlicher, sozialer und psychologischer Ebene. Für die psychotherapeutische Behandlung bedeutet dies, dass der Therapeut einen Behandlungsfokus setzt, der der aktuellen Situation der älteren Person besonders gerecht wird.
Welche Themen werden angesprochen?
Generell kann man sagen, dass wir unseren alten Patientinnen in jeder Therapie einen unterstützenden Rahmen bieten, in dem sie sich für sie gewinnbringend mit drei großen Fragen auseinandersetzen können. Erstens: Wie bin ich zu der Person geworden, die ich heute bin? Das ist der Blick zurück. Zweitens: Wie möchte ich mein derzeitiges Leben gestalten? Über welche Ressourcen verfüge ich? Das ist der Blick auf das Hier und Jetzt. Und drittens: Wie möchte ich in Zukunft leben? Meine Ängste, Wünsche und Hoffnungen. Das ist der Blick in die Zukunft.
Was ist für die Therapeutin hinsichtlich ihrer Haltung, ihres Vorgehens anders als bei Therapien mit Jüngeren?
Psychotherapeutinnen brauchen eine innere Bereitschaft, sich darauf einzulassen, dass Patienten sich in einer Lebensphase befinden, die man selbst noch nicht erlebt hat, mit all ihren Besonderheiten – etwa Rente, Großelternschaft oder auslaufende Lebenszeit. Wenn man Kinder und Jugendliche oder jüngere Erwachsene behandelt, dann haben die meisten Psychotherapeutinnen diese Lebensphasen bereits durchlaufen, das hohe Alter jedoch noch nicht.
Psychotherapeuten müssen außerdem auch zeitgeschichtlich denken können, um bestimmte Erlebens- und Verhaltensweisen ihrer Patientinnen einordnen zu können. Dazu gehört Wissen über historische Ereignisse und die gesellschaftlichen Umstände, innerhalb derer frühere Generationen aufwuchsen, insbesondere andere Erziehungsstile und Werte. Das kann manchmal herausfordernd sein, aber diese entwicklungs- und sozialisationsbezogenen Unterschiede machen die Therapien gleichzeitig besonders lebendig, vorausgesetzt, man hat eine innere Bereitschaft, sich auf eine Reise in die Landschaft des Alters und gleichzeitig auf eine Reise in eine vergangene Zeit zu begeben.
Was sind typische Therapiesituationen?
Typisch gibt es mit diesen Patientinnen nicht. Jede Therapie ist einzigartig, weil wir über den Lebenslauf immer einzigartiger werden.
Aber bekommt die Therapie durch die körperlichen Beschwerden nicht einen anderen Charakter?
Ja, das sehen wir nicht selten. In unserer PSY-CARE-Studie wurden die Psychotherapeuten schnell mit den Grenzen eines auf Heilung ausgerichteten Ansatzes konfrontiert. So mussten sie ihr professionelles Selbstverständnis erweitern mit einem praktisch orientierten ganzheitlichen Ansatz, der auf zweierlei zielt: die Lebensqualität zu erhalten und das Fortschreiten der psychischen Symptome zumindest zu verhindern.
In den Therapien ging es oft darum, der sozialen und emotionalen Einsamkeit entgegenzuwirken, Unsicherheiten aufzulösen, das Alltagsleben zu normalisieren und praktische Probleme zu lösen, hinausgehend über die klassische Rolle von Psychotherapeuten. Das spricht dafür, dass psychotherapeutisches Arbeiten mit multimorbid erkrankten, in ihrer selbständigen Lebensführung eingeschränkten Patientinnen mit so vielen Besonderheiten einhergeht, dass dafür „Spezialistinnen“ benötigt werden. Diese sollten am besten schon im Studium dafür ausgebildet werden.
Wie umgehen mit den körperlichen Einschränkungen – sollte man sie in der Therapie zum Thema machen?
Die zunehmende Verletzlichkeit des Körpers beeinflusst die Entwicklung der Psyche im Alter sehr stark. Als Therapeutin lasse ich mir zu Beginn der Therapie immer einen umfangreichen Bericht der Hausärztin geben, damit ich Wechselwirkungen zwischen der psychischen Erkrankung und den körperlichen Erkrankungen berücksichtigen kann. Aber inwiefern Krankheiten Raum in der Therapie bekommen, ist von Patientin zu Patient sehr unterschiedlich.
Erkrankungen des Bewegungsapparates wie Verschleißerscheinungen des Knies und des Hüftgelenks oder Rückenschmerzen sind tatsächlich häufig Thema. Sie führen nämlich neben Schmerzen zu Beeinträchtigungen in der Mobilität, Selbständigkeit und damit letztlich auch der sozialen Beziehungen. Wie man mit diesen Beeinträchtigungen positiv umgehen kann, so dass man immer noch selbstbestimmt, wenn auch nicht selbständig leben kann, darum geht es oft in den Therapien. Wie man also im Einklang mit seinen persönlichen Vorlieben und Werten leben kann, auch wenn man auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist.
Die meisten älteren Menschen sind ja noch so mobil, dass sie in eine psychotherapeutische Praxis kommen können. Aber was ist mit Heimbewohnern und Älteren, die nicht mehr wirklich beweglich sind?
Das ist ein wichtiger Punkt. Für einen großen Teil körperlich eingeschränkter, immobiler alter Patientinnen wären Hausbesuche von Psychotherapeuten dringend erforderlich. Dem steht bisher entgegen, dass Psychotherapeutinnen die Rolle als „Gast“ in der Häuslichkeit des Patienten nicht gewohnt sind. Vor allem aber braucht es klar geregelte Versorgungsstrukturen, die solche Hausbesuche ermöglichen.
Eva-Marie Kessler ist Professorin für Gerontopsychologie an der Medical School Berlin und leitet in der dortigen Hochschulambulanz den Spezialbereich Psychotherapie-im-Alter. Sie ist seit 2022 Mitglied der Altersberichtskommission der Bundesregierung. Sie finden hier eine Fallgeschichte von Frau Kessler.