Er hieß Herr Abendschein. Jedenfalls dachte ich das, als ich mit sechs oder sieben Jahren auf der Wiese meines Großvaters dem älteren Mann mit schlohweißem Haar zuschaute, wie er auf einer Leiter Vögel beringte. Ich stand da, Kopf im Nacken, und hätte auch gern in das Nest geschaut. Herr Abendschein stieg herunter mit einem Vögelchen in den Händen und fragte: Willst du auch mal? Ich habe das Gefühl nie vergessen, wie sich ein Vogelfuß anfühlt. So hart und zart zugleich. Auch meine Furcht ist mir noch…
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nie vergessen, wie sich ein Vogelfuß anfühlt. So hart und zart zugleich. Auch meine Furcht ist mir noch präsent, dem kleinen Vogel in seinem weichen Daunenkleid mit meinen Fingern wehzutun.
Habe ich damals wirklich gespürt, dass sein Herz wild pochte? Vielleicht hat mir mein Gedächtnis ein Schnippchen geschlagen. Genau wie beim Namen des netten Mannes. In Wahrheit hieß er Hans Sonnabend, wie mir meine Mutter beim Abendessen erklärte, und war lange Jahre Mitarbeiter der Vogelwarte Radolfzell, genauer: der Beringungszentrale. Er wusste alles über Vögel und ließ sie in großangelegten Zählungen rund um den Mindelsee und am Bodensee erfassen, wo hunderttausende Wasservögel, Sumpf- und Schilfbewohner brüten, Station machen oder überwintern. Er brauste auf dem Motorrad mit seinen Vogellisten von Ort zu Ort, um selbst mitzuzählen.
Amseln singen am schönsten für sich allein
Wenn Hans Sonnabend an unserem Haus vorbeispazierte, plauderte er oft mit meiner Mutter. In meiner Erinnerung ging es immer um Amseln, andere Arten interessierten meine Mutter wenig. Dafür fehlte ihr die Geduld. Nur für Amseln nahm sie sich Zeit, sie mochte diese schwarzen Vögel wegen des unermüdlichen Gesangs, der ihr zu Herzen ging. Hans Sonnabend war mit ihr übereingekommen, dass die Schwarzdrossel, wie sie auch genannt wird, eine hochbegabte Tonkünstlerin sei, vielleicht sogar noch talentierter als die Nachtigall. Vor allem beim Komponieren!
Er berichtete meiner Mutter, dass die Amseln am schönsten für sich allein singen, nicht wenn es darum geht, einen Konkurrenten auszustechen. Im Gegenzug gab sie ihre Erkenntnisse preis, welche Apfelsorten den Amseln besonders gut schmeckten. In den Herbst- und Wintermonaten legte sie Boskop, Berlepsch, Glockenäpfel und Cox Orange unter unsere Forsythienbüsche. Dann beobachtete sie vom Küchenfenster aus, welchen Apfel sie als Erstes anpickten.
Es kam vor, dass Hans Sonnabend auf der Straßenseite unserer Hecke über das Flöten, Schlagen und Pfeifen der Amseln referierte und meine Mutter auf der Gartenseite Blumen goss, während er sie fragte, ob ihr schon aufgefallen sei, dass der Herbstgesang der älteren Amselmännchen anders klinge als der im Frühling, da die Männchen im Herbst beim Singen den Schnabel geschlossen halten.
Vielleicht hätte Hans Sonnabend seinen Schmerz ohne Vogelgesang nicht ausgehalten. Er war ein Heimatvertriebener aus Schlesien. Als er 1946 in Süddeutschland strandete, hatte er alles verloren, vor allem seine Frau und seine Kinder. Auch „seine“ Vogelwarte Rossitten an der Ostsee, in deren Auftrag er schon vor dem Krieg Vögel beringt hatte. In der paradiesischen Natur rund um den Mindelsee, ganz nah bei den Vögeln, fand er sein Gleichgewicht wieder und kam zur Ruhe.
Vogelzwitschern gegen Hibbeligkeit
So hat er am eigenen Leib erfahren, was Psychologen uns seit längerem berichten: Vogelgezwitscher hat auf unsere seelische Gesundheit messbar positive Effekte. Wer Vögeln lauscht, kann ängstliche Stimmungen mildern. Offenbar assoziiert das menschliche Gehirn mit singenden Vögeln, dass in seiner Umgebung alles okay ist. Man fühlt sich sicher und geborgen und mit der Natur verbunden. Mit Vogelkoloraturen im Ohr kehrt innerer Friede ein, Stresshormone werden abgebaut, die Herzfrequenz sinkt.
Von derartigem Geschehen in meinem Körper hatte ich natürlich keine Ahnung, obwohl ich spürte, dass ich mich auf der Wiese bei den Vögeln wohler fühlte als in vielen anderen Situationen, denn ich neigte zur ängstlichen Hibbeligkeit. Nicht erst in der Schule. Schon im Kindergarten wollte ich nicht beim Krippenspiel mitmachen, da ich mich vor Auftritten fürchtete. Nicht einmal als die Kindergärtnerin mir die Rolle eines stummen Engels anbot, war ich bereit, auf die kleine Bühne zu gehen. Mit Engelszungen hatte meine große Schwester versucht, mich zu ermutigen. Doch ich traute mich nicht und saß schließlich mit goldenen Flügeln unter den Zuschauern.
Nach Afrika und zurück
Als ich Hans Sonnabend ein wenig später beichtete, dass ich immer dachte, er heiße Abendschein, und mir seinen richtigen Namen nicht recht merken konnte, fand er es in Ordnung, gab mir feierlich die Hand, machte eine Verbeugung und sagte: Gestatten, Abendschein, amtlicher Vogelberinger! Mit gebotenem Ernst antwortete ich: Gestatten, Fräulein Jerger, ich will auch mal Vogelberinger werden. Damals ist mir Gendern noch nicht in den Sinn gekommen.
Ich sehe den silbrigen Aluminiumring, den er aus der Tasche holte, noch vor mir, während ich das Vögelchen hielt. Der Ring trug eine eingravierte Nummer und daneben stand: „Radolfzell Germania“. Wir legten ihn gemeinsam um den Fuß, „Herr Abendschein“ schloss den Ring mit einer Zange und erklärte mir, dass der Vogel nun einen Reisepass habe, mit dem er auf der ganzen Welt als dieses eine individuelle Exemplar zu erkennen sei. Übrigens handle es sich um eine Gartengrasmücke. Einen Singvogel! Er machte einen Laut, der in meinen Ohren ungefähr wie tscharrr klang, und ich war erstaunt, dass man mit einer solchen Stimme und derartigen Tönen zu den Singvögeln gehört.
Hans Sonnabend lachte, räusperte sich, versuchte es ein zweites Mal und ergänzte, dass die Grasmücken vor ihrem Gesang schnarren und trommeln. Vor allem, so sagte er, seien Gartengrasmücken Zugvögel, ja sogar Langstreckenzieher! Durch den Ring an ihrem Fuß könne man herausfinden, welche Routen sie fliegen, wo sie rasten und ob sie aus Afrika wieder nach Hause finden. Mir verschlug es den Atem. Warum hatte mir das bislang niemand erzählt? Es gab also Vögel, die von unserem Garten aus nach Afrika und zurück fliegen?
Birder auf Vogelexkursion
In meiner Schulzeit in den 1960er und 70er Jahren war es völlig normal, dass es bei uns im Dorf neben dem örtlichen Stammtisch auch einen Vogelstammtisch gab. Da saßen sie alle: Professoren, Studentinnen, Praktikanten und Beringer. Längst schon, seit Ende der 50er Jahre, gehörte die Vogelwarte als ornithologische Forschungsstelle zum Max-Planck-Institut im bayrischen Seewiesen, das durch seinen Chef Konrad Lorenz berühmt war. So fiel auch ein wenig Glanz auf mein Zuhause und wir waren stolz darauf. Vor allem als er 1973 den Nobelpreis bekam. Auf der ganzen Welt kannte man „unseren“ Lorenz, der mit Enten schwamm und dem die Gänse hinterherliefen.
Am Vogelstammtisch waren auch private Vogelgucker immer willkommen. Heute würden sie sich birder oder birdwatcher nennen, sie hätten Vogelstimmen-Apps und würden life lists führen: Listen, auf denen sie ihre gesichteten Arten notierten. Je seltener eine Art, desto größer die Freude und der Stolz. Heute kommen die Birder oft aus der Stadt, machen geführte Vogelexkursionen und es sind viele Frauen darunter. Damals waren sowohl die Hobby- als auch die Profiornithologen vor allem ältere Männer in Kniebundhosen und mit Feldstechern.
Der Buntspecht trommelt die Wahrheit
Diese khakifarbene Spezies wusste noch nichts von „Ornitherapie“, obwohl dieses Heilverfahren nicht nur Hans Sonnabend, sondern vielen von ihnen geholfen hatte, mit ihren Kriegs- und Fluchterlebnissen fertigzuwerden. Der Begriff kam erst ein paar Jahre später in die Welt, nämlich 1979.
Ein Arzt aus London publizierte im British Medical Journal eine Arbeit, in der er beschrieb, dass Vogelbeobachten ängstlichen, traurigen und unruhigen Menschen hilft, die sonst Tranquilizer brauchen. Vögel statt Valium! Das war ein Paukenschlag, den die Pharmaindustrie nicht gern hörte. Mister Cox taufte seine neue Medizin ornitherapy. Heute gibt es Bücher darüber, die den Gehetzten, den Grüblern und Geängstigten das mindful birding näherbringen.
Wer Vögel beobachtet und ihnen beim Singen zuhört, befreit seine Gedanken aus zermürbenden Dauerschleifen, die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Natur. Während wir die Farben und Muster anschauen, Feder- und Körperformen studieren, Vögeln beim Fliegen und Rütteln zuschauen, vor allem ihrem Konzert lauschen, vergessen wir unsere Sorgen. Das hängt mit der menschlichen Evolution zusammen, denn unsere Psyche und unser Gehirn haben sich in ständiger Auseinandersetzung mit der Natur und den in ihr lebenden Tieren und Pflanzen entwickelt. Es geht uns gut, wenn wir im Wald spazieren gehen und einem Buntspecht beim Trommeln zuhören. Das ist keine romantische Schwärmerei, das ist die Wahrheit unserer Stammesgeschichte.
So ist es nicht verwunderlich, dass wir genetisch darauf gepolt sind, die Nähe zur Natur zu suchen. Der große amerikanische Verhaltens- und Evolutionsbiologe Edward O. Wilson sprach von „Biophilie“, also der im Menschen angelegten Liebe zur Natur. Umgekehrt bedeutet es, dass wir verkümmern, wenn wir uns von ihr lossagen. Ohne Natur sind wir nichts.
Amselzwitschern und Aalgeschlängel
Hans Sonnabend wusste das. Und unser Nachbar, der Fischer Haas, wusste es auch. Ich mochte den Fischer Haas, obwohl mir die Lederhand, die an seiner linken Seite herunterhing, nicht geheuer war. Zudem hatte er ein steifes Bein. Er war ein Kriegsversehrter. Manchmal sprach er von seinem Schmerz, als behinderter Mann von der Front heimgekommen zu sein.
Fischer Haas hatte einen Teich im Garten, in dem die frisch gefangenen Aale, Barsche oder Hechte ihre Runden drehten, bis ein Kunde kam, der auf ein Exemplar deutete. Dieser Fisch musste daraufhin durch einen herben Schlag sein Leben lassen. Es war die Vroni, die dem versehrten Haas beim Töten und auf dem Fischerboot zur Hand ging.
Ich stand öfter mit am Teich, wenn Hans Sonnabend mit einem Fisch, der in Zeitungspapier gewickelt war, herumwedelte. Etwa bei dem Versuch, zwischen dem Fischer und dem fischfressenden Kormoran Freundschaft zu stiften, wenigstens theoretisch. Oder, was einfacher war, ihn und mich gleich mit für den Kontergesang der Amselmännchen zu begeistern, die sich zunächst gegenseitig zuhören und dann antworten, indem sie Strophen des Konkurrenten in ihre Melodie aufnehmen.
Der Fischer wiederum berichtete dem Vogelfreund vom Schlängeln der Aale über feuchte Wiesen bis zum nächsten Bach oder ließ ihn an seinem Spezialwissen über Welse teilhaben. Letztere hatten ihn weit über unser Dorf hinaus bekanntgemacht, da er mehrfach mit bewundernswertem Geschick riesige Exemplare aus dem Mindelsee gefangen hatte. Waren die Welse über zwei Meter lang, kamen Presse, Funk und Fernsehen. Dann war auch mein Großvater im Bild, da er die „Weller“, wie sie bei uns heißen, mit Traktor und Anhänger vom See ins Dorf transportierte.
Die Biophilie in Person
Direkt hinter der Haustür im Flur beim Fischer Haas hing ein ausgestopfter Welskopf an der Wand. Das riesige Maul und die langen Bartfäden, die wie Antennen rechts und links des Oberkiefers in die Luft stachen, mochte ich nicht. Als kleines Mädchen bezweifelte ich zudem, dass dieser Kopf Teil eines Fisches war, meiner Meinung nach hatten Fische Schuppen. Für mich hing da der Kopf eines grün-braunen Seeungeheuers. Mit fürchterlichen, nach hinten gebogenen Zähnen.
Wenn er nicht mit seinen Reusen beschäftigt war, ließ sich Fischer Haas in seinem Ruderboot oft noch übers Wasser treiben. Immer hatte er ein Fernglas dabei. Auch er kam mit seinem Schicksal besser zurande, wenn er in aller Herrgottsfrühe den Vögeln lauschte. Besonders wenn er nachts wieder im Schützengraben war.
Alle, die ihn kannten, kannten auch die Geste mit seinem gesunden Arm. Im weiten Bogen ließ der wettergegerbte Mann mit dem weitkrempigen Hut und hohen Schaftstiefeln die ausgestreckte Hand über den Horizont wandern, während er sagte: „Alles meine Freunde“, und damit wirklich alle meinte. Nicht nur die Orchideen und Welse, Barsche und Aale, Moose und Farne, auch Stechmücken, Schlangen, Sumpfgräser. Kein Zweifel: Fischer Haas war die Biophilie in Person. Die Bootshütte im Mindelsee war sein Konzertsaal.
Weder Fischer Haas noch Hans Sonnabend hegten den geringsten Zweifel, dass Vögel Freude haben am Fliegen und Lust am Singen. Das ist mir heute klar, wenn ich an die beiden Naturfreunde denke und sie vor mir sehe, wie sie über „ihre“ Tiere gesprochen haben. Sie waren damit Darwin nahe und dem Darwinismus fern. Darwin wusste, dass Tiere spielen und Vögel Musik machen. Er gehörte nicht zu denen, die jedes Verhalten eines Tieres nur auf seine Zweckmäßigkeit im Kampf ums Überleben hin deuteten.
Kuss im Aquarium
Warum sollten die älteren Amselmännchen im Herbst weitersingen, wenn das Ehe- und Brutgeschäft längst erledigt ist? Warum sollten sie besonders schön singen, wenn sie es für sich allein tun und nicht, um einem Weibchen zu imponieren? Der Nutzen des Gesangs kann auch heißen: Es macht dem Vogel Spaß. Die Amsel mag ihr Selbstgespräch. Einfach nur tirilieren! Ein Konzert geben! Vielleicht macht der Gesang sie sogar glücklich, so wie er uns glücklich macht. Nicht immer geht es um das Erkämpfen eines Territoriums oder die egoistische Weitergabe der Gene. Nicht immer geht es um Effizienz, Strategie, Wettstreit und Zweckdienlichkeit. Das Denken seiner Epigonen und Epigoninnen, die überall nur hören: alles meins, alles meins!, war Darwin fremd.
Wer nicht glauben mag, dass Vögel spielen, der kann auf YouTube nach der Krähe suchen, die Schlitten fährt: über ein schneebedecktes Dach, Füße auf dem Deckel eines Marmeladenglases, saust sie hinunter.
Als ich die Erzählungen von Konrad Lorenz zum ersten Mal las, war der Fischer Haas schon tot. Und ich ungefähr 16 Jahre alt. Wie gern hätte ich ihm von den Stichlingen erzählt, denen Lorenz im Aquarium beim Küssen zugeschaut hatte, wie er in seinem Bestseller Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen berichtet. Ich war hingerissen von der Art, wie Lorenz schreibt, voller Leidenschaft und Poesie. Wie er die heißblütigen Stichlingsmännchen beschreibt und ihre selbstverliebte Prahlerei, das hätte auch dem Fischer Haas gefallen.
Ich frage mich heute, warum ich nicht Biologie studiert habe. Offenbar war es mir unmöglich, das zu tun, was sich meine Mutter wünschte. Ihr Traum war, dass ich in Konstanz Biologie studiere und am Max-Planck-Institut forsche. Einen Steinwurf von unserem Haus entfernt.
Rostrote Schwänze in zerzausten Kronen
Als ich in der blauen Ente losfuhr, mit Bettzeug auf der Rückbank und einer kleinen Stereoanlage auf dem Beifahrersitz, samt Palme und Leonard-Cohen-Platten im Fußraum, sehe ich meine winkende Mutter im Rückspiegel. Ich fuhr die kleine Anhöhe hinauf, sie wurde kleiner und kleiner. Ich fuhr dem Studium entgegen. Politologie und Germanistik. Ich musste erst einen Umweg machen, bis ich mich Jahre später als Journalistin und Autorin wieder der Natur und den Vögeln zuwandte.
Unlängst habe ich an meinem Schülerschreibtisch gesessen und einem Rotmilanpaar hinterhergeschaut. Ich hörte sein Pfeifen, das immer ein wenig nach Jammern und Klagen klingt. Wiiiieeeh. Wiiiieeeh. Während die beiden elegant über der Wiese am Bach kreisten, konnte ich ihre gegabelten rostroten Schwänze betrachten, bis sie sich in die zerzauste Krone eines alten Birnbaums setzten.
Es gelang mir, einem von ihnen durch das Fernglas meines Vaters ins Gesicht zu schauen. Etwas verwackelt zwar und doch: diese Hakennase! Dieses Greifvogelgesicht! Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Kurz dachte ich, dass wir uns anschauten. Das war natürlich Einbildung. Und doch gab es in meinen Augen diesen kurzen Moment der Kontaktaufnahme. Nicht nur mit diesem einen Vogel, sondern auch mit unserer Vergangenheit. Vögel waren lange vor uns auf der Welt. Wir schauen einem Urahn ins Gesicht.
Nach dem Sperberangriff
Wenn ich heute denselben Feldweg gehe wie damals zu der Wiese, auf der ich mit „Herrn Abendschein“ den Vogel beringt habe, komme ich an den Zwetschgen- und Mirabellenbäumen meines Großvaters vorbei, der Obstbauer war und Schnäpse brannte. Kurz dahinter sieht man ein modernes Institutsgebäude und das Wasserschloss Möggingen, in dem die Vogelwarte nach dem Krieg untergekommen war. Märchenhaft spitzen seine Türme zwischen den Bäumen hervor. Möglich, dass eine der Graugänse, die vom Schlossteich auffliegen, eine Nachfahrin jener Gans ist, die Konrad Lorenz dem vogelbegeisterten Baron geschenkt hatte.
Längst hat sich die Vogelwarte Radolfzell vom Seewiesen-Anhängsel zum eigenständigen Max-Planck-Institut gemausert. Hier findet weltweit beachtete Spitzenforschung zu Tierwanderungen statt. Es kann sein, dass man auf dem Schlossgelände von einem besenderten Monarchfalter umschwirrt wird oder ein Kuckuck mit Sender vorbeifliegt – auch wenn man diese winzigen Hightechrucksäcke so schnell gar nicht erkennen kann.
Ich gehe weiter Richtung Mindelsee, auf der Straße, die der Fischer Haas mit seinem VW Käfer gefahren ist, dessen Vordersitz ausgebaut war, um einer Blechwanne Platz zu machen. Auf dem Nachhauseweg schwammen darin die frisch gefangenen Fische. In jeder Kurve schwappte ein wenig Seewasser heraus. Da der Fischer Haas nur eine Hand hatte, musste er beim Schalten kurz das Lenkrad loslassen. Zur Not hob er sein heiles Knie und drückte es von unten gegen das Lenkrad oder er fuhr freihändig – ein wenig auf die Gegenfahrbahn. Kein Wunder, dass meine Mutter es nicht gern sah, wenn ich mitfuhr.
Auf dieser kleinen Straße muss ich unwillkürlich an die Geschichte mit Onkel Max denken, der von seinem Garten aus direkt auf den Mindelsee blicken konnte. Gegen Ende seines Lebens hatte er nur noch ein Bein. Oft saß er mit einer Decke über dem Knie auf der Terrasse und beobachtete Stare beim Landen, Amseln beim Sonnenbaden, Finken beim Hüpfen. Ein paar Wochen vor seinem Tod bekam Max Besuch von einer Kohlmeise. Sie landete auf dem nahen Zwetschgenbaum und blickte ihn an. Der Vogel schien an ihm interessiert und wiegte den schwarz-weißen Kopf hin und her. Schließlich hüpfte die Meise auf ihn zu – und als sie nah genug war, sah Max, dass auch sie nur ein Bein hatte. Hallo Kumpel, sagte Max. Hat dich ein jagender Sperber angegriffen?
Täglicher Gruß der Meise
Die versehrte Meise kam von da an jeden Tag. Schon bald wagte sie es, aus seiner Hand zu picken. Das staksige Bein trug den stattlichen Meisenkörper mit Grazie, emsig hüpfte der lädierte Vogel zwischen Sonnenblumenkernen umher. Ein paar Sommerwochen lang hielten Max und die Meise einen innigen Plausch. Sie hatten eine Sprache gefunden, die über das Zizzibäh hinausging. Nach seinem Tod kam die Meise nicht wieder.
So wie Darwin, Lorenz, „Herr Abendschein“ und Fischer Haas es wussten, spürte auch Max in seinem Rollstuhl, dass Vögel Freude, Trauer und Schmerz empfinden. Und dass einen die unbändige Lust am Fliegen befallen kann, wenn man ihnen zuschaut, wie sie schwerelos in der Luft schweben, sich fallen lassen und wenden oder sich auf den Rücken drehen.
Mit dem Älterwerden bin ich schrittweise zu den Vögeln zurückgekehrt. Lesend, schreibend, beobachtend. Während ich die Hecke schneide, über die hinweg „Herr Abendschein“ mit meiner Mutter geplaudert hat, lege ich immer wieder die Schere aus der Hand und konsultiere meine Vogelstimmen-App. Wenn ich zurück in der Großstadt bin, schickt mir meine Schwester manchmal Aufnahmen vom frühmorgendlichen Vogelkonzert am Bodensee, wo alles mit dem Fuß eines Nestlings in meiner Hand begonnen hat.
Längst ist Hans Sonnabend tot, wie viele andere des Vogelstammtischs. Wenn ich zum Grab von Max gehe und zum Grab meiner Mutter, hoffe ich jedes Mal, bei Max eine Meise und bei meiner Mutter eine Amsel anzutreffen.
DER ESSAY
In unserer Serie schrieben zuletzt:
Theresa Pleitner über die übergriffige Seite der Wohltätigkeit: Über die Widersprüche des Helfens, Heft 10/2023
Karoline Klemke über ihre Lehrjahre im Studium und im Leben: Psychologie, meine Liebe, Heft 6/2023
Anna Felnhofer über die Demütigung, ausgeschlossen zu werden: Das Scherbengericht, Heft 2/2023
Fritz Breithaupt über die Endgültigkeit des Erzählten: Wer nicht handeln kann, muss fühlen, Heft 10/2022
Christian Haller über die entbehrungsreiche Suche nach dem eigenen Stil: Ein weitreichender Verzicht, Heft 7/2022
…und viele mehr. Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte
Zwei Romane von Ilona Jerger
Und Marx stand still in Darwins Garten
Charles Darwin ist ein schlechter Schläfer. Allzu oft erwacht er mitten in der Nacht und findet keine Ruhe mehr. Dann geht er hinunter ins Arbeitszimmer seines Landhauses, vorbei an den Regalen mit den in Spiritus eingelegten Fischen, Taubenembryos, Fliegen- und Hummelaugen, und schaut nach seinen Regenwürmern, auch sie nachtaktive Wesen. Zwanzig Meilen entfernt hustet und fiebert währenddessen Karl Marx in seiner Londoner Wohnung und wartet auf Post von Jenny oder einen Scheck von Engels. Bei einer Dinnerparty im Hause Darwin kommt es 1881 zu einer – fiktiven – Begegnung der beiden Männer, deren Theorien die Welt verändern. Zwischen ihnen und den Gästen entspinnt sich ein Streitgespräch. Ullstein 2018
Der Protagonist auch hier ein berühmter Tierforscher, Konrad Lorenz, Mitbegründer der vergleichenden Verhaltensforschung, Nobelpreisträger, „der Darwin des 20. Jahrhunderts“. Die Ich-Erzählerin ist eine Biologin der Enkelgeneration, die seine Lebensgeschichte mit Szenen anderer Figuren wie Heidegger, Celan, Arendt oder Grzimek montiert. Sie blickt auf diesen Mann in einer Mischung aus tiefer Sympathie und Empörung, stellenweise Verachtung. Verschwiegen wird nichts, nicht Lorenz’ „Festtagsstimmung“ bei Hitlers Einzug in Österreich, nicht sein mehr als nur opportunistisches Hantieren mit Begriffen wie Volkskörper, Degeneration, Ausmerzung, Aufartung, die ihm unter den Nazis zum Kant-Lehrstuhl in Königsberg verhelfen, während sein jüdischer Jugendfreund Bernhard Hellmann im Vernichtungslager Sobibor ermordet wird. Sie erzählt aber auch von einem gütigen Tier- und Menschenfreund, dessen sämtliche Manuskripte die Flecken der Dohlen, Stare und Ohrenlerchen zieren, die ihm in seinem Arbeitszimmer Gesellschaft leisten. Der Widerspruch ist nicht auflösbar. Piper 2023
von Thomas Saum-Aldehoff
Ilona Jerger ist am Bodensee aufgewachsen und studierte Politologie und Germanistik in Freiburg. Von 2001 bis 2011 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift natur in München. Seither arbeitet sie als freie Wissenschaftsjournalistin. Ihr erster Roman Und Marx stand still in Darwins Garten wurde ein internationaler Bestseller. Gerade ist ihr zweiter Roman Lorenz erschienen.