In meiner Praxis dürfen Klientinnen und Klienten jedes Mal wählen, ob sie die Sitzung lieber im Raum oder in der Natur verbringen möchten. Ich beziehe Naturerfahrungen in die Psychotherapie mit ein, weil Menschen draußen in Kontakt mit dem natürlichen Lebensprozess kommen – und somit auch mit den lebendigen und gesunden Anteilen in sich selbst.
An einem sonnigen Novembermorgen machte meine neue Klientin Frau B. von dieser Möglichkeit Gebrauch. Gut gelaunt wünschte sie sich, ihre zweite Therapiesitzung in der…
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neue Klientin Frau B. von dieser Möglichkeit Gebrauch. Gut gelaunt wünschte sie sich, ihre zweite Therapiesitzung in der Natur zu verbringen. Ich willigte ein und machte mich mit Frau B. auf den Weg. Den kurzen Gang bis zum Feldweg legten wir schweigend zurück. Für meine Klientinnen und Klienten ist das immer eine Gelegenheit, ihre momentane Verfassung wahrzunehmen und ihr Anliegen für die Sitzung zu klären.
In der letzten Stunde hatte Frau B. von ihren Gründen erzählt, die sie zur Therapie geführt hatten: Das schlechte Verhältnis zu ihrer dominanten Mutter mache ihr sehr zu schaffen. Lange habe sie ihre Mutter gemieden und nur die „Pflichtbesuche“ an Weihnachten oder zum Geburtstag über sich ergehen lassen. Aber mittlerweile sei die Mutter hilfebedürftiger, so dass Frau B. nun nach einem Weg suche, wie sie die Beziehung verbessern könne. Sie fürchte, sich nach dem Tod der Mutter schuldig zu fühlen, wenn sie sich jetzt nicht um sie kümmere.
Wunsch nach einem freien Leben
Trotz ihrer 56 Jahre und hochgewachsenen Statur wirkte Frau B. auf mich mädchenhaft und unsicher. Sie trug meistens zartgemusterte Blusen oder feine pastellfarbene Pullover, die sie selbst gestrickt hatte. „Auch die Arbeit überfordert mich so“, hatte sie in der ersten Sitzung geklagt. „Ich habe Angst, alles falsch zu machen, und denke die ganze Zeit darüber nach, was die Kolleginnen von mir halten. Mittlerweile bin ich so erschöpft, dass ich mich morgens kaum dazu überwinden kann, ins Büro zu gehen.“ In der Therapie wolle sie selbstbewusster werden – um es mit ihrer Mutter aufzunehmen und ein „freies, unbeschwertes Leben“ zu führen.
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Inzwischen waren wir am Feldweg angekommen. Ich fragte Frau B., was sie unterwegs an Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen wahrgenommen habe. Sie war flott unterwegs gewesen und hatte den Anschein gegeben, fröhlich und tatkräftig zu sein. Jetzt stellte sich heraus, dass ihr Lächeln nur Fassade gewesen war. In Wirklichkeit „schreie“ ihr Körper. Vor allem die Knochen in Armen und Beinen sowie ihre Schultern schmerzten. Sie fühle sich traurig und hilflos.
Ich lud sie ein, ihre Gefühle authentisch über Mimik und Körperhaltung auszudrücken. Augenblicklich verlangsamte sie das Tempo und ging mit traurigem Gesichtsausdruck und gebeugtem Kopf weiter. „Normalerweise zeige ich keinem, wie es mir wirklich geht. Schon als Kind habe ich gelernt, dass ich in Gegenwart von anderen immer fröhlich und freundlich sein muss.“ Ich erklärte, dass das hier nicht nötig sei. Im Gegenteil sei die Naturtherapie ein Freiraum, in dem sie sich selbst entdecken und frei ausdrücken könne.
Immer Richtung Bauchgefühl
Um Frau B. zu ermöglichen, diesen Freiraum zu erleben, schlug ich vor, dass sie entscheiden solle, welchen Weg sie nun einschlagen wolle: „Folgen Sie dabei Ihrem Bauchgefühl und gehen Sie dorthin, wo es Sie hinzieht, was Ihr Interesse weckt. Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch, es geht nur um Ihre eigenen Impulse.“ Wir waren gerade in den Wald eingetreten und konnten keinen deutlichen Weg mehr erkennen. Bei jedem Schritt raschelte das braune Herbstlaub unter unseren Füßen und ließ würzigen Herbstduft aufsteigen. Ich blieb stehen, damit Frau B. möglichst ungestört auf ihre Wahrnehmung achten und ihren eigenen Weg finden konnte.
Zögerlich ging sie ein paar Schritte voraus. Dann blieb sie mit gesenktem Kopf stehen. An ihren bebenden Schultern sah ich, dass sie weinte. Nach einiger Zeit hob Frau B. den Kopf und begann, langsam im Zickzack durch den Wald zu gehen. Schließlich blieb sie zwischen zwei alten Eichen stehen und gab mir ein Zeichen, dass ich wieder zu ihr kommen könne. „An diesem Ort spüre ich viel Ruhe und Kraft“, sagte sie. „Zwischen den Eichen könnte ich eine Hängematte aufspannen und darin die Seele baumeln lassen.“ Da ich keine Hängematte dabei hatte, fragte ich, was unter den gegebenen Umständen jetzt das Allerbeste für sie sei. Stehen, sitzen, liegen, an welchem Ort genau?
Die Sitzunterlage, die ich ihr anbot, lehnte sie erst reflexhaft ab: „Danke, nicht nötig.“ Ich blieb beharrlich: „Damit könnten Sie es bequemer haben und bekommen keinen nassen Po.“ Daraufhin nahm sie die Unterlage doch und setzte sich damit zwischen die Eichen auf die Erde. Ich entfernte mich und ließ Frau B. die Natur und sich selbst erleben.
Welcher Weg ist der richtige?
Als wir uns dann schließlich auf den Rückweg machten, erzählte sie, was in ihr vorgegangen war: „Als ich den Weg bestimmen sollte, war ich völlig überfordert. Wie sollte ich das entscheiden? Woher soll ich wissen, welcher Weg der richtige ist? Mir ist schlagartig klargeworden, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wie es sich anfühlt, selbst etwas zu wollen!“ Ich fragte, wie sich das im Alltag zeige. „Normalerweise frage ich mich nie, was ich will, sondern versuche immer, die Wünsche der anderen zu erahnen und dann zu erfüllen. Wenn jemand etwas von mir fordert, dann muss ich das machen. Ich kann nicht nein sagen.“
Auf meine Frage, woher dieses Muster komme, erzählte Frau B., dass sie seit der Kindheit viel Abwertung durch die Mutter erfahren habe. Wie sehr sie sich auch bemüht habe, deren Erwartungen und Bedürfnisse zu erfüllen – nie habe sie es ihrer Mutter recht machen können. Auch heute noch kreise die Mutter nur um sich selbst und lasse keine bösartige Bemerkung aus, um ihre Tochter zu beschuldigen und zu beschämen.
Ich zeigte mein Verständnis: „Bei so einer Mutter war die Überanpassung das Beste, was Sie als Kind tun konnten. Einen eigenen Willen zu haben war unter diesen Umständen ja gar nicht möglich. Zum Glück sind Sie heute erwachsen und nicht mehr von Ihrer Mutter abhängig.“
Frau B. erwiderte, dass sie trotzdem nicht frei wählen könne, wann sie sich anpassen und wann abgrenzen wolle. Als sie jetzt über den Weg entscheiden sollte, habe sie zunächst nur darüber nachgedacht, was ich jetzt erwartete und wie sie es mir recht machen könnte! Als ihr klargeworden sei, wie wenig sie mit sich selbst in Kontakt sei, seien ihr die Tränen gekommen. Schließlich sei sie aber doch irgendwie weitergegangen und habe die Eichen gefunden.
„Da zwischen den Bäumen zu sitzen und in die Kronen zu schauen war wunderbar. Der Wind rauschte durch den Wald und bewegte sanft die Äste. Das Rauschen war schön, aber noch mehr habe ich die Stille zwischen den Windböen genossen. Das brachte mich auf den Gedanken, dass man sich auch im Alltag mal Pausen gönnen muss.“
Wollen statt müssen
Ich fragte, wen sie mit „man“ meine. „Ja, eigentlich meine ich mich. Es ist nur so ungewohnt, mich so in den Mittelpunkt zu stellen.“ Auch bei dem Wort „muss“ hakte ich nach: „Müssen Sie das wirklich? Oder wollen Sie es vielleicht eher? Probieren Sie doch mal diese beiden Sätze aus und spüren, wie sie sich für Sie anfühlen.“ Frau B. sprach beide Sätze mehrmals leise aus. Nachdenklich stellte sie fest: „Ich muss mir im Alltag Pausen gönnen klingt nach Zwang und macht mir eher Druck. Ich will mir im Alltag Pausen gönnen fühlt sich irgendwie selbstbewusster und freier an.“
An diesem Tag machte die Klientin die ersten Schritte auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Insgesamt begleitete ich Frau B. eineinhalb Jahre dabei, sich von ihrer narzisstischen Mutter zu befreien und immer mehr die Person zu werden, die sie eigentlich ist.
Sandra Knümann ist Therapeutin für achtsamkeitsbasierte Naturtherapie. An der von ihr gegründeten Psychologischen Akademie für Naturtherapie ist sie unter anderem in der Ausbildung von Naturcoaches und Naturtherapeutinnen tätig. Weitere Fallgeschichten lesen Sie in dem Buch Naturtherapie. Mit Naturerfahrungen Beratung und Psychotherapie bereichern (Beltz 2019).