Als Donald Trump im Jahr 2016 die Präsidentschaftswahl gewann, hatte die Psychologin Agnieszka Golec de Zavala eine Vermutung: Sie glaubte, dass es zwei Wahlversprechen waren, mit denen Trump seine Anhänger gewinnen konnte: Make America great again und America first. Ob das stimmte, untersuchte Golec de Zavala im Jahr 2018 anhand von Daten von 1730 US-amerikanischen Probanden, die zu Trump und ihrer Wahlentscheidung befragt worden waren. Die Forscherin wollte herausfinden, welche Überzeugungen bei der Wahlentscheidung die wichtigste Rolle gespielt hatten. Wählermerkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, eine rassistische Einstellung oder sozioökonomischer Status spielten wie erwartet zwar eine Rolle. Aber ausschlaggebend war offenbar bei vielen etwas anderes: eine Kränkung. Diese bestand darin, dass es die Trumpwähler schmerzte, wie sehr das Ansehen der USA als große Nation weltweit gelitten hatte.
„Kollektive Narzissten“
Golec de Zavala nennt Menschen, die so großen Wert auf die Reputation ihres Landes legen, „kollektive Narzissten“. Die Psychologin, die an der Goldsmiths, University of London sowie in Polen und Portugal forscht, stellte das Konzept sowie die Ergebnisse einer ersten Studie im Jahr 2009 vor. Seitdem fand sie kollektiven Narzissmus nicht nur bei Trumpanhängern, sondern auch bei anderen Befragten in Polen, Mexiko, Großbritannien und Ungarn – beispielsweise auch überdurchschnittlich oft unter Brexitbefürwortern: Sie lehnten die Europäische Union ab, weil diese die besondere Größe und Position Großbritanniens nicht anerkenne und illegitimen Einfluss auf die britische Politik nehme. Außerdem sahen sie in den Migranten eine Bedrohung. Darüber hinaus konnte die Forscherin kollektiven Narzissmus auch bei Fußballfans oder Mitgliedern einer religiösen Gemeinschaft nachweisen – es geht offenbar nicht nur um die Nation, sondern um die Art der Identifikation mit einer Gruppierung.
Notorisch unterschätzt
Was Golec de Zavala fand, ist in den Augen der Psychologin keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern eher eine hartnäckige Überzeugung: Kollektive Narzissten halten ihre Gruppe für etwas ganz Außergewöhnliches, das auch eine besondere Behandlung und permanente Wertschätzung verdiene. Untrennbar dazu gehört der zweite Teil: Die Gruppe werde von anderen systematisch unterschätzt, ignoriert und ungerechtfertigt kritisiert – unabhängig davon, wie Land oder Gemeinschaft tatsächlich gesehen werden. Was das Land, das Fußballteam, die religiöse Gemeinschaft für kollektive Narzissten so besonders macht, kann alles Mögliche sein: militärische Stärke, wirtschaftliche Macht, die Demokratie, Frömmigkeit, Erfolg. Entscheidend sei, dass diese Besonderheit aus Sicht kollektiver Narzissten von anderen nicht gesehen, ignoriert und zu Unrecht kritisiert werde. Das werde persönlich genommen, weil die Gruppe als Teil der eigenen Identität betrachtet wird.
Im Unterschied zu Patrioten oder Nationalisten leiden sie unter einer Dauerkränkung
Das Gefühl, dass es an Wertschätzung gegenüber ihrer Gruppe mangelt, unterscheidet die kollektiven Narzissten auch von Nationalisten oder Patrioten, die ihr Land für überlegen halten oder sich sehr damit verbunden fühlen, aber nicht beleidigt sind wegen vermeintlich fehlender Anerkennung. Kollektive Narzissten leiden unter einer Art Dauerkränkung: Sie lehnen nicht nur Kritik ab oder sehen Ignoranz, wo keine ist, sondern vermeiden es auch, sich mit tatsächlichem Fehlverhalten ihres Landes oder der Gemeinschaft zu beschäftigen, der sie angehören, so Golec de Zavala.
Das Kränkungsgefühl hat unerfreuliche Folgen: Es zieht den Wunsch nach sich, sich zu verteidigen und Rache zu nehmen. Deshalb unterstützen kollektive Narzissten oft Politiker, die sich bereit zeigen, zu militärischen Mitteln zu greifen (um das vermeintlich unterschätzte Land zu verteidigen), und die versprechen, den vermeintlichen Gegnern im eigenen Land – etwa Migranten – das Leben schwerzumachen. Kollektive Narzissten hätten zudem eine sehr enge Definition davon, wer ein „echtes“ Mitglied eines Landes sei. Paradoxerweise fühlen sich jedoch viele von ihnen der Gemeinschaft, die sie idealisieren, gar nicht persönlich verbunden. Es scheint, als schlössen sich Verbundenheit oder Zugehörigkeit und Idealisierung oder Überschätzung gegenseitig aus. Populistische Rhetoriker können diese Kränkungsgefühle sehr leicht antriggern und ausnutzen.
Die Forscherin betont, wie wichtig es ist, dass Menschen in und mit ihren Gemeinschaften oder Teams zufrieden sind, sich zugehörig fühlen und auch etwas für die anderen Mitglieder tun können. Das kann Kränkungsgefühle lindern oder gar nicht erst aufkommen lassen. Konkret könnte das heißen, dass in Vereinen, Firmen und anderen Einrichtungen – überall dort, wo es Mannschaften, Gemeinschaften oder Teams gibt – darauf geachtet wird, dass alle eingebunden werden.