Im Fokus: Stressfaktor Wohnen

Der Stadtsoziologe Andrej Holm über die Furcht vor dem Wohnungsverlust und das Gefühl, sich im eigenen Kiez fremd zu fühlen.

Eine Frau sitzt einsam in einer Stadtwohnung an ihrem Laptop am Fenster in einem Erker
Steigende Mieten nicht mehr bezahlen zu können empfinden Betroffene oft als eigenes Versagen und schämen sich dafür. © Rene Zieger/OSTKREUZ

Herr Holm, 2020 mussten die Studie­renden in Hamburg für ein WG-Zimmer fast 600 Euro im Monat bezahlen – das sind 100 Euro mehr als im Vorjahr. Die Wohnungs- und Hauspreise werden laut einer Immowelt-Prognose bis 2030 im deutschlandweiten Schnitt um die Hälfte steigen. Für viele Menschen scheint Wohnen zunehmend unerschwinglich zu werden. Stimmt dieser Eindruck?

Auf dem Land sicher nicht, das Problem betrifft vor allem die Metropolen und Regionen, deren Einwohnerzahl gerade stark wächst. Beispielsweise…

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betrifft vor allem die Metropolen und Regionen, deren Einwohnerzahl gerade stark wächst. Beispielsweise zahlen in Deutschland inzwischen fast die Hälfte der Haushalte in den Großstädten mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete. Wenn ich nur 1500 Euro monatlich zur Verfügung habe, dann bleibt nach dem Abzug von einem Drittel nicht mehr viel zum Leben. In Berlin bezeichnen die Bürgerinnen und Bürger die Wohnfrage regelmäßig als eines der drängendsten Probleme.

Studien zeigen, dass teurer Wohnraum psychisch belasten kann. Dafür gibt es in der Forschung inzwischen sogar einen Fachbegriff: housing affordability stress – also Stress, der dadurch entsteht, sich das Wohnen nicht leisten zu können. Betroffene sollen sogar häufiger psychisch erkranken.

Ich weiß, dass es in den USA Untersuchungen gab, die diesen Schluss nahelegen. Für mich sind oft Ursache und Wirkung nicht geklärt. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Unterkunft zu bezahlen, eine Reihe von Problemen haben. Aber liegt das tatsächlich daran, dass die Betroffenen sich das Wohnen nicht leisten können? Oder sind die psychischen Erkrankungen, die man in solchen Studien findet, allgemein Folge der Armut?

Ungeachtet dessen glaube ich schon, dass die steigenden Wohnpreise ein Stressfaktor sind. Zum einen ist da die Angst vor dem Wohnungsverlust. Eine Ursache dafür ist die sogenannte Neuvermietungslücke: In Deutschland dürfen die Mieten bei bestehenden Mietverhältnissen nur sehr eingeschränkt erhöht werden. Bei neuen Mietverträgen können dagegen oft erheblich höhere Preise aufgerufen werden – für dieselbe Wohnung. In Berlin beträgt diese Lücke inzwischen über 4 Euro pro Quadratmeter. Und je größer die Lücke ist, desto häufiger werden gezielte Strategien eingesetzt, um die Altmieter zum Auszug zu bewegen.

Welche sind das?

Zum Beispiel Kündigungsklagen wegen Kleinigkeiten. Oder indem der Vermieter eine Modernisierung ankündigt, was aber eigentlich nur signalisieren soll: Es wird hier teurer, such dir besser eine neue Bleibe, lieber Mieter. An dem Geographischen Institut der Humboldt-Universität wurde 2019 eine repräsentative Studie unter Menschen durchgeführt, die aus Innenstadtbezirken umgezogen waren. 25 Prozent der Befragten gaben an, verdrängt worden zu sein – für viele Menschen ist das also eine reale Gefahr.

Mit welchen Folgen?

Das setzt gerade dort, wo der Mietmarkt besonders angespannt ist, die Betroffenen unter einen enormen Druck. Auch deshalb, weil ihnen relativ klar ist: Hier vor Ort – wo meine Freunde leben, wo meine Schule ist, mein Verein, meine Lieblingskneipe – werde ich keine neue Wohnung mehr bekommen. Das heißt, den Menschen droht ein Verlust ihrer sozialen Netzwerke.

Diese Sorge spiegelt sich zum Beispiel in einer erhöhten Mietzahlungsdisziplin: Die Betroffenen stellen Ausgaben in anderen Lebensbereichen zurück, um nicht mit ihrer Miete in Rückstand zu geraten und dann als Folge womöglich auf der Straße zu landen. Gerade in Städten mit engen Wohnungsmärkten gibt es daher inzwischen kaum noch Mietschulden – auch weil es dort kaum möglich ist, etwas Neues zu finden.

Interessant ist in diesem Zusammen­hang noch eine andere Beobachtung: Einerseits sehen wir bundesweit den Trend, dass die, die es sich leisten können, in immer größeren Wohnungen wohnen, pro Kopf also mehr Fläche verbrauchen. Am anderen Ende der Einkommensskala nimmt dagegen die Überbelegung zu. Die Kinder müssen sich ein Zimmer teilen, damit ein Raum frei wird, der untervermietet werden kann. Denn nur so lassen sich die steigenden Wohnkosten kompensieren.

Und das sorgt dann sicher für zusätz­lichen Stress…

Richtig. Gerade unter Coronabedingungen wird dieser Verlust der Privatsphäre noch spürbarer. Ein weiterer Stressfaktor ist natürlich, dass bei hohen Wohnpreisen weniger Geld für gesellschaftliche Aktivitäten bleibt. Wer früher dreimal in der Woche mit Freun­dinnen und Freunden ausgegangen ist, kann sich jetzt vielleicht nur noch am Wochenende treffen. Wer gerne Filme im Kino geschaut hat, muss nun seine Leidenschaft einschränken. Dabei geht es auch um den Verlust von Souveränität, der Hoheit über die eigene Lebensführung.

Was empfinden die Betroffenen dann?

Wir haben Interviews mit Menschen geführt, die befürchten müssen, aus ihren vier Wänden gedrängt zu werden. Da kam ganz häufig: „Es kann doch nicht sein, dass die das mit uns machen. Wir wohnen hier seit 20 Jahren – und jetzt müssen wir raus.“ In Studien zum Wohnungsverlust zeigt sich, dass in solchen Momenten auch der Begriff der Würde eine große Rolle spielt: Es wird als würdelos empfunden, wenn andere darüber entscheiden, wo und wie ich wohne.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt, den wir als „neoliberalen Bias der Eigenverantwortung“ bezeichnen: Die Be­troffenen empfinden die Situation als eigenes Versagen und sie schämen sich dafür. Sie hegen Gedanken wie: „Ich habe etwas falsch gemacht, dass ich jetzt in diese Lage komme und meine Miete nicht mehr bezahlen kann.“ Das liegt sicher auch daran, dass der Verlust der Wohnung gesellschaftlich mit einer starken Stigmatisierung verbunden ist. Auch deshalb machen viele Menschen, die sich um ihre Wohnung sorgen, ihre Probleme eher mit sich selbst aus, als Freundinnen anzusprechen oder bei Institutionen Hilfe zu suchen. Das erhöht den psychischen Druck und führt zudem selten zum Erfolg.

Steigende Wohnpreise haben ja noch einen weiteren Effekt: Das Viertel zieht auf einmal ein ganz anderes Klientel an, als dort vorher gewohnt hat. – Welche Folgen hat das?

In der Forschung dachte man lange, dass diejenigen, die nicht verdrängt werden, von dieser Aufwertung sogar profitieren: Es strömt mehr Geld in die Nachbarschaft, neue Geschäfte siedeln sich an, das Viertel wird attraktiver; der Stadtteil wird plötzlich viel stärker von der Politik wahrgenommen; neue Spielplätze werden gebaut und die Investitionen in Schulen steigen.

Dem gegenüber stehen Studien aus Stadtvierteln in London, die solch einen Prozess durchlaufen haben. Sie belegen, dass dort nun zwei getrennte Welten wohnen. Wenn es zum Beispiel darum geht, wer wessen Kinder zu Geburtstagsfeiern einlädt, bleiben Alteingesessene wie auch Zugezogene unter sich. In Berlin zeigt sich noch ein anderes Problem, hier haben uns die Menschen bei Interviews zum Teil gesagt: Wir schicken unsere Kinder schon gar nicht mehr zu den Geburtstagen, weil wir uns die erwarteten Geschenke nicht leisten können.

Ist das auch ein Problem für die Identität?

In meinem Forschungsgebiet, der Stadt­soziologie, spricht man von belonging, – von dem Zugehörigkeitsgefühl zur Nachbarschaft. Belonging basiert auf einer weitestgehenden Übereinstimmung der eigenen Werte und Vorstellungen mit denen der anderen, die in der Nachbarschaft leben. Wenn viele Alteingesessene wegziehen und die Orte, an denen man seine Nachbarn getroffen hat, dichtmachen, dann bricht da etwas weg. Im Berliner Stadtviertel Prenzlauer Berg hat vor einiger Zeit einmal eine ältere Dame bei einer Umfrage gesagt: „Es ändert sich plötzlich alles um mich herum, und ich fühle mich fremd im eigenen Kiez.“ Sie wohnte dort schon seit ihrer Kindheit.

Welche Auswirkungen hat das noch auf die bisherigen Bewohner?

Normalerweise verfügen die Alteingesessenen über spezifisches Ortswissen, das sie sich über viele Jahrzehnte angeeignet haben. Sie wissen, wo es die besten Brötchen gibt, sie kennen die Geschichte der Läden und der Nachbarn. Das sorgt für ein Gefühl der Sicherheit. Wenn sich das Viertel nun rasch verändert, wird dieses Ortswissen völlig entwertet. Das knabbert am Selbst­wertgefühl. Und es führt dazu, dass die Betroffenen dort nicht mehr so gerne wohnen.

In der Forschung diskutieren wir denn auch drei Verdrängungsmechanismen: ökonomische – weil der Wohnraum zu teuer wird. Physische – weil zum Beispiel Häuser abgerissen werden. Und kulturelle – die Nachbarinnen und Nachbarn grüßen einen nicht mehr, man fühlt sich in seinem Viertel nicht mehr wohl.

Welche Personen sind von unsicheren oder auch unzureichenden Wohnverhältnissen besonders betroffen?

Neben dem Einkommen spielt dabei eine Rolle, wie sich der Haushalt zusammensetzt. Wir sehen das bei Alleinerziehenden, die im Schnitt einen viel größeren Anteil ihres Monatsverdiensts für die Miete aufwenden müssen – einfach deshalb, weil sie Wohnraum für zwei oder drei Personen benötigen, aber nur ein Einkommen zur Verfügung haben.

Eine zweite Gruppe sind Menschen mit anderer Hautfarbe oder fremdländisch klingenden Namen. Sie haben eine deutlich niedrigere Chance, zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden. Sie sind dann oft froh, überhaupt ein Angebot zu bekommen, und nehmen dafür Abstriche in Kauf, was die Größe der Wohnung und die Höhe der Miete anbelangt. Daten aus dem Mikrozensus belegen, dass Haushalte mit Migrationshintergrund tendenziell höhere Quadratmeterpreise zahlen.

Ein besonderes Problem gibt es bei Älteren: Wenn die Partnerin oder der Partner stirbt, dann lebt plötzlich eine Person in der viel zu großen Familienwohnung. Selbst wenn die Quadratmeterpreise aufgrund des alten Mietvertrags noch bei 5,50 Euro liegen, ist das bei 120 Quadratmetern immer noch zu teuer. Paradoxerweise können die Betroffenen nicht in eine kleinere Wohnung umziehen. Denn die Wohnkosten sind bei neu vermieteten Wohnungen inzwischen selbst bei halber Größe genauso hoch oder höher.

Das ist ein Problem, das vor allem Mieterinnen und Mieter betrifft. Haben wir in Deutschland eine zu geringe Eigentumsquote?

Nun ja, während der Finanzkrise haben etwa in Spanien viele Eigentümerinnen und Eigentümer ihre Kredite nicht mehr bedienen können, da hat es sogar Zwangsräumungen gegeben. Mich persönlich ärgern die Studien, die behaupten, dass Eigentum vor Altersarmut schützt. Diejenigen, die die ökonomischen Voraussetzungen zum Eigentumserwerb erfüllen, laufen ohnehin selten in Gefahr, in Altersarmut zu geraten.

Was für Lösungsansätze sehen Sie?

Der Staat hat im Prinzip drei Instrumente: Erstens kann er mit Gesetzen und Auflagen reagieren. Ein Beispiel dafür ist ein stärkerer Kündigungsschutz bei Eigenbedarf, ein anderes eine gesetzliche Beschränkung von Miet­erhöhungen bei der Mietpreisbremse. Oft wird die Durchsetzung dieser Rechte aber dem Einzelnen überlassen. Die Möglichkeiten dazu – etwa weil man Anwälte kennt und bezahlen kann – sind jedoch sehr ungleich verteilt. Ein Lösungsansatz wäre etwa eine Ombudsstelle, wie es sie in Wien gibt. An sie kann sich jeder mit Problemen in Mietfragen kostenfrei wenden, egal ob es dabei um eine Nebenkostennachzahlung geht oder um eine Kündigung.

Zweitens kann der Staat selbst Geld in die Hand nehmen. Zum Beispiel indem er Wohngeld auszahlt oder den sozialen Wohnungsbau fördert. Momentan haben wir aber das Problem, dass die Preisbindung nach zwanzig oder dreißig Jahren ausläuft. Gerade dann, wenn das Haus abbezahlt ist, darf die Eigentümerin oder der Eigentümer also die Miete auf marktgerechte Preise erhöhen.

Das dritte Instrument ist ein öffentlicher Wohnungssektor. Der Staat wird dabei selbst zum Eigentümer. Ihm gehören die Grundstücke und die Wohnungsunternehmen, und er kann daher bestimmen, wie die Wohnungen bewirtschaftet und zu welchen Konditionen sie vermietet werden.

In Deutschland waren die steigenden Wohnkosten für die Politik lange kein Thema. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Liegt das daran, dass diese sozialen Probleme inzwischen auch die Mittelschicht erreicht haben?

Ich glaube schon, dass das zu der gestiegenen Aufmerksamkeit beiträgt. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit Wohnungskrisen und hatte früher oft das Gefühl, in einem Nischenthema mit geringem öffentlichem Interesse zu arbeiten. Der Umbruch kam vor zehn Jahren; da schrieben plötzlich Journalistinnen und Journalisten über ihre Bekannten und deren Schwierigkeiten bei der Wohnungs­suche. Dadurch ist in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen, dass das wirklich ein Problem ist.

Ich finde es gut, dass dem jetzt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auf der anderen Seite fällt mir der Zynismus öffentlicher Debatten auf: Das Problem ist heute sichtbarer, weil es zunehmend auch die Mittelschichten betrifft und nicht wie früher vor allem Hartz-IV-Empfänger oder Alleinerziehende mit geringem Einkommen. Das heißt aber nicht, dass es vorher kein Problem gab.

Andrej Holm erforscht in der Abteilung Stadt- und Regio­nalsoziologie der Humboldt-Universität zu Berlin unter ­anderem die Folgen von Gentrifizierungsprozessen. 2014 erschien sein Buch Mietenwahnsinn

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2021: Sich von Schuldgefühlen befreien