Im Fokus: Sportwetten

Sportwetten können süchtig machen. Zugleich gelten für Wettanbieter laxe Regeln. Mit welchen Folgen erklärt der Suchtpsychologe Tobias Hayer.

Ein Messestand mit Werbeplakaten des Sportwetten-Anbieters Cashpoint
2019 wurden über neun Millarden Euro für Sportwetten eingesetzt - besonders häufig von Freizeitkickern. Ein Spiel mit Risiken. © picture-alliance/Norbert Schmidt

Herr Hayer, Sie sind Glücksspiel- und Suchtforscher. Was haben Sie mit Sportwetten zu tun? Da geht es doch eher um Geschick und Fachwissen.

Seinen Sachverstand zu Geld machen, das kann auch beim Sportwetten funktionieren – aber nur wenn Sie Glück haben. Sportwetten zählen zu den Glücksspielen. Diese charakterisieren drei Merkmale: Jedes Glücksspiel beginnt mit einem Geldeinsatz und es werden Geldgewinne in Aussicht gestellt. Beides ist Teil von Sportwetten. Das dritte Merkmal: Der Spielausgang ist…

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Geldgewinne in Aussicht gestellt. Beides ist Teil von Sportwetten. Das dritte Merkmal: Der Spielausgang ist ausschließlich oder überwiegend vom Zufall abhängig. Auch das gilt für Sportwetten.

Aber wenn dieses Wochenende Bayern München auf Augsburg träfe, dann würden doch die meisten meinen, zu wissen, wie es ausgeht – ohne dass sie sich für den Sport interessieren. Das ist doch eine sichere Wette.

Sie hätten in der vergangenen Bundesligasaison wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit richtig gelegen, wenn Sie auf die Bayern gesetzt hätten. Dennoch: Internationale Tippstudien, in denen verschiedene Personengruppen gegeneinander wetten, zeigen, dass die Sportexpertinnen und -experten auf lange Sicht nicht besser abschneiden als Laien.

Wie kann das sein?

Ein Beispiel: Wir haben für eine Untersuchung wenig fußballinteressierte Frauen gegen Sportjournalisten auf Fußballspiele wetten lassen, drei Bundesliga-Spieltage mit insgesamt 27 Partien. Sie sollten vorhersagen: Sieg der Heimmannschaft, Unentschieden oder Niederlage. Wer hatte häufiger recht? Natürlich die Sportjournalisten. Aber: Wir haben mit echtem Geld wetten lassen und mit echten Wettquoten.

Die Quoten sind immer sehr niedrig, wenn ein Team als Favorit gilt. Damit können Sie höchstens wenige Euro gewinnen. Die Quote für den Sieg eines Außenseiters ist hingegen hoch, hier könnten sie also mit einem Tipp richtig viel Geld bekommen. Mit echten Quoten und echten Geldeinsätzen haben die Experten häufig nur kleinere Beträge gewonnen, weil sie zumeist auf die Favoriten gesetzt haben. Hin und wieder hat dann doch ein Außenseiter gewonnen und der Einsatz war weg.

Bei den Frauen war es genau umgekehrt. Oft lagen sie in ihrer Prognose daneben, aber wenn ein Außenseiter gewonnen hat und sie aus dem Bauch heraus darauf gesetzt hatten, fuhren sie einen größeren Gewinn ein. Nach 27 Spielen waren beide Gruppen finanziell auf Augenhöhe. Aber: Beide waren auch im Minus. Wirklich gewonnen hatte also nur der Wettanbieter.

Wie groß ist der Markt für Sportwetten?

Es gibt etwa 4000 bis 5000 Wettbüros privater Wettanbieter bundesweit und schätzungsweise 270 Websites mit deutschsprachigen Sportwettangeboten sowie die Lottoannahmestellen, wo ebenfalls Sportwetten möglich sind. Allein 2019 haben die Deutschen mehr als neun Milliarden Euro für Sportwetten eingesetzt. Ein erheblicher Anteil davon bleibt in den Kassen der Wettanbieter.

Es ist bekannt, dass Glücksspiel süchtig machen kann. Damit auch Sportwetten?

Zweifelsohne, so ist es.

Wer ist für exzessives Wetten anfällig?

Grundsätzlich ist die Glücksspielsucht in Deutschland eine männliche Domäne. Das ist bei Sportwetten besonders ausgeprägt, weil Sport immer noch in der Mehrheit Männer interessiert. Die Begeisterung für Sport ist ein wichtiger Faktor, der bei Sportwetten mit hineinspielt: Ohne großes Interesse dafür platziert niemand eine Wette. Glücksspielprobleme betreffen zudem eher jüngere Personen, oft auch schon Jugendliche, sowie Personen mit einem Migrationshintergrund. Speziell bei Sportwetten haben wir festgestellt, dass es besonders häufig Mitglieder der Sportvereine betrifft.

Wie kommt das?

Vor allem in Fußballvereinen beobachten wir das. Wenn Sie erwachsene Freizeitkicker zu ihren Glücksspielaktivitäten befragen, dann hat jeder zweite schon mal eine Sportwette platziert. In der Allgemeinbevölkerung sind es nur bis zu sechs Prozent. Klar, wenn alle aus dem eigenen Team eine Wette platzieren, dann möchte ich das natürlich auch machen.

Dazu kommt eben auch der hartnäckige Irrglaube: Ich spiele Fußball, also weiß ich natürlich genau Bescheid über diese Materie und kann mein Wissen in leichter und schneller Weise zu Geld machen. Wir verzeichnen in Studien, dass etwa zehn Prozent der Mitglieder deutscher Fußballvereine ein problematisches Glücksspielverhalten aufweisen. In der Allgemeinbevölkerung sind das nur etwa ein Prozent der Menschen.

Ist das eher ein Problem unter den Freizeitaktiven?

Nein, internationale Erhebungen haben gezeigt, dass auch bis zu zehn Prozent der Profisportlerinnen und Profisportler europaweit und aus unterschiedlichen Sportarten zumindest ein riskantes, wenn nicht sogar ein problematisches Glücksspielverhalten zeigen. Die Biografien von ehemaligen Profifußballern, die ihre Glücksspielsucht öffentlich gemacht haben, bestätigen die Befunde anekdotisch. Die Lebensläufe, die man kennt, zeichnen zudem ein interessantes Profil: Das sind alles relativ junge Leute, männlich, leistungs- und wettbewerbsorientiert, haben eine ­hohe Neigung zu Risikoverhalten generell.

Aber das sind auch Personen, bei denen Erfolgserlebnisse im Fußball weggebrochen sind – etwa aufgrund einer Verletzung oder weil der Trainer sie auf die Bank gesetzt hat. Meine These ist: Wenn Erfolgserlebnisse – also der Kick, in der 92. Minute das entscheidende Tor bei einem Fußballspiel zu erzielen – ausbleiben, holen sie sich diese Emotionen über das Zocken wieder herein. Denn genau das gibt den Kick: tausende Euro gewinnen zu können.

Trotzdem ist es ja ein weiter Weg von einer Sportwette unter Kumpels bis hin zu einer ausgeprägten Sucht.

Das stimmt, man wird nicht von heute auf morgen süchtig. Das Spielverhalten intensiviert sich mit der Zeit und eskaliert dann, zumeist über Jahre hinweg. Bei Sportwetten beginnt es oft mit einer Fanwette auf eine Mannschaft, die Sie mögen. Sie setzen also fünf Euro, vielleicht auf einen Außenseiter, und sind am nächsten Tag 40 Euro reicher. Stellen Sie sich einen Jugendlichen vor, für den ist das ein großer Geldbetrag, der ihn zusätzlich bestätigt: „Siehst du, ich weiß es ja.“ Und dann kommt sofort der Gedanke: „Hättest du 50 Euro gesetzt, hättest du 400 Euro gewonnen.“

Also versucht derjenige es noch mal?

Genau. Nach und nach steigert sich das Wettverhalten: Die Einsätze steigen, es wird riskanter getippt, vor allem häufiger. Auf lange Sicht sind aber Verluste wahrscheinlicher als Gewinne. Die Person versucht dann, den Verlust wieder auszugleichen – durch Weiterzocken. Mit der Zeit ist es der wettenden Person egal, auf welches Sportereignis er oder sie setzt. Da wird auf die dritte türkische Liga gesetzt, auf ein Rugby­spiel in Australien oder Sportarten, von denen die Personen keine Ahnung haben. Ein Betroffener hat mal zu mir gesagt: „Am Ende hätte ich auch auf ein Ameisenrennen in Timbuktu gesetzt, Hauptsache zocken.“

Sie sehen in Livewetten ein besonderes Problem. Warum?

Ja, zahlreiche Studien bestätigen, dass von Livewetten eine relativ hohe Suchtgefahr ausgeht. Sie garantieren einen sehr schnellen Spielablauf. Die Wettenden setzen quasi in Echtzeit darauf, wer das nächste Tor in einem Fußballspiel schießt oder wer den nächsten Satz beim Tennisturnier gewinnt. Das geht dann so: Wette platzieren, wenige Minuten warten, Ereignis, gewonnen oder verloren, nächste Wette platzieren. Das ist etwas anderes, als wenn jemand darauf wettet, dass Werder Bremen am Samstag gewinnt, dann darauf vier Tage wartet und fünf Euro gewonnen oder verloren hat.

Bei Fußballspielen blinken stetig die Werbetafeln von Wettanbietern. Spielt Werbung bei Sportwetten eine Rolle auf dem Weg zur Sucht?

Ja, eine bedeutsame. Vor allem weil sie eine gefährliche verharmlosende Botschaft vermittelt: Sportwetten befinden sich in der Nähe von Sport. Der ist gesundheitsförderlich, wir verbinden mit Sport, dynamisch und jung zu sein. Das sind Kernbotschaften, die die Werbung von Wettanbietern aufgreift. Oftmals wird sogar die typische Denkverzerrung, der Sportwettende oft aufsitzen, bewusst geschürt oder gefördert: dass sie mit ihrer Expertise auch langfristig Geld gewinnen können.

Dieses einseitige Bild hat den Effekt, dass Sportwetten normalisiert und glorifiziert werden. Wenn dann noch jemand wie der ehemalige Nationaltorwart Oliver Kahn das Zugpferd einer Werbekampagne verkörpert, dann erklären Sie mal Ihren Kindern, dass das ein Produkt ist, das potenziell gefährlich ist und Suchtrisiken birgt.

Für Casinos und Spielhallen wird kaum geworben, die Werbung für Alkohol und Zigaretten ist stark eingeschränkt. Was ist bei Sportwetten schiefgelaufen?

In den anderen Bereichen haben wir hart für Werberestriktionen gekämpft. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Erkenntnisse im Bereich Glücksspiel und Sportwetten ignoriert werden. Das steht einer effektiven Suchtprävention sowie dem Jugend- und Spielerschutz entgegen.

Die Politik scheint die fiskalischen oder ökonomischen Argumente hier höher zu bewerten als das Gemeinwohl. Staatliche Wettangebote gab es schon lange, auch genossen Pferdewetten eine Art Sonderstatus. Nun wurde der Sportwettmarkt aber Anfang 2020 für private Anbieter geöffnet. Die Argumentation der politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger dazu hat mich irritiert.

Wie lautet die?

„Wir müssen einen legalen Markt schaf­fen, also von den illegalen Sportwetten zu legalen Angeboten kanalisieren, um damit das Spielverhalten in überwachbare und geordnete Bahnen zu lenken.“ Aber in den 1970er und 1980er Jahren gab es diese Menge an Wettangeboten nicht – und auch nicht die entsprechende Nachfrage.

Hier werden Kausalitäten verdreht: Nicht die Nachfrage ist da und der Staat muss sie mit einem hinreichenden Angebot bedienen, sondern das Angebot schafft erst die Nachfrage. Dem voraus ging ein großes Versäumnis: Ich kann nicht verstehen, weshalb die Sportwettanbieter jahrzehntelang aus dem illegalen Bereich heraus operieren konnten, dadurch Fakten geschaffen haben und dann auch noch für ihr „erfolgreiches Geschäftsmodell“ mit einer staatlichen Lizenz belohnt werden.

Wenn ein Cannabisdealer 90 Prozent des Marktes beherrscht und dann zur Politik läuft und sagt: „Mein Laden läuft so gut, aber ich kann die Kundinnen und Kunden nur schützen, wenn ihr mir eine staatliche Lizenz gebt“, dann landet der im Gefängnis. Im Bereich Sportwetten und Glücksspiel scheint hingegen der Lobbyismus zu greifen.

Wie versucht der Staat, legale Sportwetten zu regulieren?

In dem neuen Glücksspielstaatsvertrag, der Mitte 2021 in Kraft trat, wurden Schutzmaßnahmen festgeschrieben, zu denen die Forschung auch relativ gute Befunde im Sinne der Suchtprävention vorgelegt hat. Hierzu zählt ein spielformübergreifendes Sperrsystem, also die Möglichkeit, dass ich mich für die meisten Glücksspielangebote sperren lassen und nicht mehr am Spiel teilnehmen kann.

Zudem gibt es bei Onlineglücksspielen einschließlich Onlinesportwetten eine Obergrenze von 1000 Euro, die man im Monat insgesamt bei Anbietern verzocken kann. Das wird technisch kontrolliert. Die Idee dieses Verlustlimits ist gut, aber die Grenze ist viel zu hoch angesetzt. Ich weiß nicht, ob Sie ein Hobby haben, bei dem Sie 1000 Euro monatlich ausgeben, zudem in einem Bereich, der mit potenziellen Suchtgefahren einhergeht.

Was würden Sie noch verbessern?

Wenn ein Anbieter gegen die staatlich gesetzten Spielregeln verstößt, sich also nicht an den Jugend- oder Spielerschutz hält, dann bedarf es einer konsequenten Sanktionierung. Das könnte mit einer Verwarnung anfangen, gefolgt von einer Geldbuße, und beim dritten Mal würde die Konzession entzogen. Das ist in Deutschland bislang so gut wie nicht erfolgt.

Ich erhoffe mir zudem, dass die Werbung bis auf ein Minimum zurückgedreht wird. In den 1970er Jahren tauchte auf den Trikots von Eintracht Braunschweig das Logo von Jägermeister auf. Auf diese Idee käme heute keiner mehr. Auf dem Spielfeld für alkoholische Getränke zu werben ist verboten. So sollte es auch mit Werbung für Sportwetten sein. Und ich würde Livewetten weitestgehend verbieten.

Wo sehen Sie außerdem Handlungsbedarf?

Ich halte das Multikonzessionsmodell, das nun existiert, grundsätzlich für keine gute Idee. Wir haben dadurch etwa 30 Sportwettanbieter mit staatlicher Lizenz, zwischen denen eine hohe Konkurrenz um den Wettmarkt herrscht. Das bedeutet: Werbung nach dem Prinzip „schneller, höher, weiter“, versehen mit unzähligen Spielanreizen. Das ist kontraproduktiv für die Suchtprävention – hier steht nicht der Schutz der Wettenden im Vordergrund, sondern die Maximierung des Umsatzes.

Tobias Hayer ist promovierter Psychologe an der Universität Bremen im Bereich Glücksspielforschung und Mitglied im Fachbeirat Glücksspielsucht. Er berät in dieser Funktion die Bundesländer in Sachen ­Glücksspielregulierung.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2021: Erfüllter leben