Was würde Freud zur Polykrise sagen?

In unserer neuen Serie versetzen wir uns in die Vordenkerinnen und Denker der Psychologie und lassen sie aktuelle Entwicklungen kommentieren

Die Illustration zeigt Sigmund Freud
Klimakrise, Kriege, bedrohte Demokratien – wie es so weit kommen konnte, Sigmund Freud? © Studio Pong für Psychologie Heute

Klimakrise, Kriege, bedrohte Demokratien – in einer kleinen Serie befragen wir die großen Denker und Denkerinnen der Psychologie, wie es so weit kommen konnte. Teil 1: Wolfgang Schmidbauer rekonstruiert, was Sigmund Freud uns raten würde:

Vor dem ersten großen Krieg in Europa glaubte ich, dass der unaufhaltsame Fortschritt der Wissenschaft die Menschheit von Illusionen befreien und es ihr ermöglichen würde, die strahlende Intelligenz des gesunden Kindes zu erhalten, die zuvor durch eine von Lüge und…

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würde, die strahlende Intelligenz des gesunden Kindes zu erhalten, die zuvor durch eine von Lüge und Heuchelei geprägte Erziehung eingeschnürt und gehemmt wurde. Ich glaubte, dass ein einsichtiger und verständnisvoller Umgang mit dem menschlichen Triebleben und ein Annehmen seiner niemals ganz vollzogenen Ablösung vom tierischen Instinkt eine bessere Gesellschaft entstehen lassen könnte.

Ich glaubte auch, es könne so etwas wie einen Kulturweltbürger geben, dem es gelingt, die Schönheiten und Errungenschaften der verschiedenen Hochkulturen in ihrer Fülle zu besitzen, sich in Wien, in London und in Rom gleichermaßen zu Hause und wohlzufühlen. Dieses neue Vaterland wäre für ihn wie ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von einem Saal dieses Museums in einen anderen wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit die Geschichte und die Mutter Erde an seinen Kompatrioten ausgebildet hatten.

Tief gesunken oder so hoch gestiegen wie noch nie

Doch schon im Jahre 1915 stand dieser Kulturweltbürger ratlos in einer ihm fremd gewordenen Welt, sein großes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die Mitbürger entzweit und erniedrigt. Wir fühlten Enttäuschung und Kränkung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger. Doch dann ging uns auf, dass sie nicht tief gesunken sind. Stattdessen sind sie nie so hoch gestiegen, wie wir es von ihnen geglaubt hatten.

Sobald die Völker und Staaten die sittlichen Beschränkungen gegeneinander fallenließen, begannen auch einzelne Personen, sich dem Druck der Kultur zu entziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend Befriedigung zu gönnen, solange eben die Zwänge des Zivilisierten unbeachtet bleiben dürfen.

Gibt es einen Todestrieb?

Im Prinzip hat sich daran in den folgenden Kriegen und Krisen wenig verändert. Man hätte hoffen können, dass zum Beispiel die großartige Erweiterung der Kulturmenschheit durch die Möglichkeit, jederzeit mit handlichen Geräten Zugang zu fast allem Wissen der Menschheit zu gewinnen, die Menschen nachhaltig von Illusion und Aberglaube befreien und sie in ein freies Reich des Geistes erheben würde. Aber viele Nutzer dieser neuen Möglichkeiten entschieden sich gegen Vernunft und Aufklärung, suchten allein nach Bestätigung ihrer Vorurteile und einem Ventil für ihren Hass.

Viele meiner eigenen Schüler haben nichts von einem Gedanken wissen wollen, der sich mir nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges aufdrängte: dass es neben dem mächtigen Trieb zum Leben, der in der Evolution von Pflanze und Tier zum Ausdruck kommt, auch einen Todestrieb geben muss, der kein anderes Ziel hat, als alle Bindungen wieder aufzulösen und alles Lebendige in den anorganischen Zustand zurückzuführen. Heute sehe ich dies mehr denn je: Kann sich die Menschheit gegenwärtig überhaupt ohne diesen Gedanken noch selbst verstehen?

Und ist es nicht letztlich beruhigend, sich damit abzufinden und nicht mehr in Hektik zu verfallen und Kraft zu vergeuden? Wird nicht gerade die Einsicht in die Macht des Todes die Kraft seines Gegenspielers, des unsterblichen Eros wecken? Uns zu der Einsicht führen, dass wir die Abgründe meiden sollten, auch wenn der Ehrgeiz drängt, sie in Kauf zu nehmen?

Scharfsinnige Menschen verhalten sich wie Schwachsinnige

Nach zahlreichen Beweisen und bedrückenden Beobachtungen müssen wir in Betracht ziehen, dass sich die Ausbeutung der Bodenschätze gegen uns wendet. Hitze und Dürre machen Provinzen unbewohnbar; der Spiegel der Meere steigt. Auch hier scheint eine Mehrheit der Menschen die bittere Wahrheit nicht erkennen zu wollen.

Die psychoanalytische Erfahrung zeigt, dass sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht bei ihnen einem Gefühlswiderstand begegnet, der sie zu beschämen und ihren Wert infrage zu stellen droht. Sie erlangen aber auch alles Verständnis wieder, wenn dieser Widerstand überwunden ist. Die Verblendung ist also nur eine Folge der Gefühlserregung, ein sekundäres Phänomen und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu verschwinden.

Wir hatten zwar gehofft, dass die großartige, durch Verkehr und Produktion hergestellte Interessengemeinschaft die Völker zwingen werde, der wissenschaftlichen Einsicht zu folgen. Diese Völker jedoch gehorchen ihren Leidenschaften derzeit weit mehr als ihren wirtschaftlichen Interessen. Wer eigene Größe verspricht und bedenkenlos andere knechtet, findet in unsicheren Zeiten Zulauf. Hoffen wir, dass die Anhänger dieser Betrüger ihren Fehler erkennen, ehe es zu spät ist.

Sich der Wirklichkeit stellen

Was können wir tun, wenn die Führer der Völker beginnen, tröstliche Lügen zu verteidigen, die Bedrohung der Menschheit zu leugnen und dringend gebrauchte Ressourcen in Rüstung und Krieg zu vergeuden? Mein Vorschlag ist: uns der Wirklichkeit zu stellen, wie sie nun einmal ist, und zu erkennen, dass wir Illusionen folgen und Führer hochschätzen, die uns das Unmögliche versprechen.

Wir sollten umkehren und der Wahrheit nicht länger ausweichen. Ich denke, dass es uns das Leben erträglicher macht, wenn wir lernen, nicht nur die äußeren Gefahren zu erkennen und zu bekämpfen, sondern uns auch den Gefahren zu stellen, die in unserer Neigung wurzeln, die Wirklichkeit schönzumalen und anderen und uns selbst das Leben schwerzumachen, nur um unsere Illusionen zu erhalten.

Wir erinnern uns des alten Spruches Si vis pacem, para bellum (Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Krieg). Es wäre zeitgemäß, ihn abzuändern: Si vis vitam, para mortem (Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein).

Anmerkung: Der Text beruht zum Teil auf wörtlichen oder leicht veränderten Zitaten aus: Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod; in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, IV/1, 1915, 1–21

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Psychoanalytiker und Familientherapeut in München und ist Autor vieler Sachbücher, etwa Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen (Reclam 2024)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2025: Die geheimen Muster meiner Familie