Einige Menschen tun online Dinge, die sie sich in ihrem sonstigen Leben niemals trauen würden. Ist das der Anonymität geschuldet?
Nein, nicht nur! In den sozialen Medien ist komplette Anonymität ohnehin kaum noch möglich: Man soll sich so präsentieren, wie man vermeintlich auch ist. Viele sind mit echtem Foto oder vollem Namen unterwegs. Trotzdem verhalten sich einige User und Userinnen so, als wären sie inkognito. Dass sie erkennbar sind, scheint sie also nur bedingt aufzuhalten.
Warum ist das so? Im wahren…
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inkognito. Dass sie erkennbar sind, scheint sie also nur bedingt aufzuhalten.
Warum ist das so? Im wahren Leben bremst uns doch die Tatsache, dass andere wissen, wer wir sind, und dass Fehltritte Konsequenzen haben.
Es hängt mit technischen Aspekten der Plattformen zusammen. TikTok oder Instagram beruhen stark auf visuellen Inhalten. Andere Dienste wie X haben eine starke Zeichenbegrenzung. Als User werden wir eingeladen, immer neue Inhalte zu produzieren – und zwar schnell, assoziativ und eher unreflektiert. Die Algorithmen belohnen emotionale und polarisierende Inhalte. Wir sollen uns in möglichst enthemmter Weise präsentieren.
Ist das Internet in seiner heutigen Form also tatsächlich eine Enthemmungsmaschine?
Ja und nein. Der Psychologe John Suler und andere Kollegen sprechen von einem online disinhibition effect – ganz so, als wäre das Internet ein komplett zügelloser Raum. Diese Ansicht teile ich so nicht. Der Psychoanalyse zufolge kann es eine absolute Enthemmung nie geben. Es kommt gleichzeitig immer ein Moment der Hemmung dazu.
Online disinhibition effect
Dieser Enthemmungseffekt beschreibt einen Verlust an Selbstbeherrschung, wenn Menschen digital kommunizieren: Sie lassen sich zu schriftlichen Äußerungen hinreißen, die sie sich im persönlichen Gespräch verkneifen würden. Grund: Der unpersönlichere und meist asynchrone Austausch im Internet – und die fehlende Empathie für ein virtuelles Gegenüber. Der Effekt kann Hasskommentare, Trolling oder Cybermobbing befeuern.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Denken Sie an das Phänomen des dick pic: Männer versenden ungefragt Fotos ihres Geschlechtsteils, meist an Frauen. Was die Betroffenen da erleben, etwa in Chats oder auf Dating-Apps, ist übergriffig und gewaltvoll. Da liegt es nahe zu sagen: Dieses Verhalten ist ja komplett enthemmt! Doch es sind ja keine Ganzkörperbilder, keine Nacktfotos im klassischen Sinn. Das Individuum offenbart sich eben nicht als vollständiger Mensch…
…sondern zeigt nur einen Ausschnitt von sich. Ein mit dem Handy geschossenes Dickpic soll vielleicht einschüchtern, hat aber zugleich etwas Dilettantisches.
Die Männer bringen da eine Bedürftigkeit zum Ausdruck, einen verkappten Wunsch nach Anerkennung oder gar Liebe – den sie natürlich völlig falsch ausdrücken. In Interviews erzählen diese Männer von verletzenden Erfahrungen und von Unsicherheiten, die sie angeblich hinter ihrem Penisbild verstecken. Das entschuldigt ihr Verhalten nicht, aber es zeigt eine Hemmung.
Weshalb ist dieser Moment der Hemmung für die menschliche Psyche bedeutsam?
Sigmund Freud war der Ansicht, dass wir immer dann gehemmt reagieren, wenn wir uns bestimmten Situationen nicht aussetzen wollen, die für uns ängstlich oder peinlich sein könnten. Hemmung ist hier also ein Ausdruck von Abwehr.
Sie berufen sich unter anderem auf den Psychoanalytiker Jacques Lacan, der meinte: Letztlich können Triebe ohnehin nie ganz befriedigt werden. Stattdessen kreisen sie in einer endlosen Bewegung um ihr Ziel. Wie ist das gemeint?
In der Psychoanalyse dreht sich viel um menschliche Fantasien: Sie sind teils die Verbindung, teils die Bruchstelle zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Wir malen uns in Gedanken oft detailreich aus, wie ein zukünftiges Ereignis sein könnte, noch bevor es eintritt. Doch können wir das Vorgestellte nie ganz erreichen. Es gibt eine Lücke zur Realität, die wir ein Leben lang zu füllen versuchen. Lacan sah gerade darin eine wichtige Triebfeder für die Kreativität, generell für das menschliche Streben. Der Mangel muss demnach bestehen bleiben, denn er schafft die Grenzen zwischen dem Selbst und dem anderen.
Die 68er-Bewegung wollte diese Lücke schließen. Sie forderte, die Prüderie früherer Generationen abzustreifen. Viele erhofften sich von der zügellosen Lust eine bessere Gesellschaft. Was ist daraus geworden?
Damals kam es wirklich zu einer Enthemmung, einem Bruch mit alten Normen, etwa bezüglich der Sexualität. Doch die damalige Befreiung hatte etwas Erzwungenes an sich. Aus dem Genießenwollen wurde schnell ein Genießenmüssen. Aus jedem Moment sollte ein Maximum an Spaß herausgeholt werden.
Können Sie ein aktuelles Beispiel nennen?
Dating-Apps funktionieren nach dieser Logik. Den Userinnen wird suggeriert: Wenn das letzte Treffen enttäuschend war, gibt es immer noch eine weitere Person, mit der man sich verabreden könnte. Theoretisch kann man in den Apps mit zwanzig Menschen gleichzeitig flirten. Das wäre zwar auch früher schon gegangen, doch die jetzige Technologie macht es viel einfacher.
Auf Tinder und Co wischt man sich durch einen scheinbar endlosen Stapel mit immer neuen Gesichtern. Über teure Premium-Abos soll man herausfinden können, wer einem ein Like gegeben hat. Warum scheint es einigen Usern wichtiger, Bestätigungen zu sammeln, als Dates im wahren Leben zu treffen?
Die Dating-Apps sprechen ein zutiefst menschliches Begehren an: Wir alle wollen gesehen und gemocht werden. Dem liegen eine starke Unsicherheit und Verletzlichkeit zugrunde, ein ängstlicher Narzissmus. Das muss nichts Schlechtes sein. Doch die kommerziellen Plattformen verstärken und pervertieren diese Bedürfnisse. Die Userinnen werden einerseits mit Aufmerksamkeit und Bestätigung belohnt. Andererseits haben sie stets das Gefühl, dass es immer noch mehr zu entdecken gibt. Die Apps sind so angelegt, dass sie ihre User glücklich und frustriert zugleich zurücklassen.
Auf Plattformen wie X überbieten sich Nutzer gegenseitig mit besonders gewagten Behauptungen. An wen sind diese Provokationen eigentlich gerichtet?
Zunächst natürlich an die übrigen Menschen in dem sozialen Medium. Das heimliche Versprechen dieser Plattformen lautet: Du könntest jederzeit viral gehen und über Nacht zum Internetstar werden. Auch das bedient den Wunsch danach, gesehen und anerkannt zu werden. Diese Hoffnung macht die Plattformen so verführerisch.
Zugleich wirken manche Unterhaltungen auf X so, als gehe es um mehr – ganz so, als sollten sie noch einen dritten, außenstehenden Adressaten beeindrucken.
Auf einer zweiten Ebene sind die Äußerungen auch an eine übergeordnete kulturelle Instanz gerichtet. Jacques Lacan würde es den „großen Anderen“ nennen. Es ist es ein imaginäres Wesen und auch ein Ort, der über die einzelnen Subjekte hinausgeht. Wir wünschen uns, von ihm gesehen und anerkannt zu werden. Es ist nicht Gott, nimmt aber einen ähnlichen Stellenwert ein. Natürlich wissen wir insgeheim, dass so ein großer Anderer nicht existiert, dass wir ihn bloß in unserer Fantasie erschaffen haben. Dennoch handeln wir oft so, als ob er existieren würde. Das ist natürlich ein Widerspruch, aber so verhalten sich Menschen.
Sogenannte Trolle schreiben gezielt Unangebrachtes, um die Debatten im Netz eskalieren zu lassen. Wie geht man damit um?
Dem Troll geht es in erster Linie ums Provozieren. Er will die anderen dazu verlocken, besonders verärgert oder schockiert zu reagieren. Das bringt ihm Genugtuung. Deswegen heißt es ja auch: Don’t feed the troll! Bloß nicht darauf eingehen.
Ein Extremfall ist der „Drachenlord“: Der frühere YouTuber Rainer Winkler ist seit über zehn Jahren Zielscheibe einer gigantischen Mobbingkampagne. Seine „Hater“ organisieren sich zu Tausenden über Onlineforen und verfolgen ihr Opfer quer durch Deutschland. Wie erklärt sich diese Mischung aus Kreativität und Grausamkeit?
Das sind Gruppendynamiken, die außer Kontrolle geraten sind. Ein Hater zu sein hat etwas Identitätsstiftendes, man ist Teil einer Gemeinschaft. Diese kollektive Macht verdeckt die Öde in ihren eigenen Leben – ähnlich wie beim Schulhofmobbing, nur tausendfach verstärkt. Sie wissen genau, was ihr Opfer aufbringt, und stacheln sich gegenseitig zu immer neuen Taten an. Der Drachenlord selbst spricht von einer parasitären Beziehung zu seinen Anti-Fans. Wenn er attackiert wird, postet er gleich ein neues Ausrastervideo, das die Hater wieder zu neuen Grausamkeiten anstachelt. Es ist ein endloses Katz-und-Maus-Spiel, aus dem beide Seiten nicht aussteigen können. Die Trolle haben eine Parallelwelt erschaffen mit eigenen Symbolen, Begriffen und Werten. Sie stellen es als großen Spaß dar, dabei geht es ihnen eigentlich um etwas anderes: Sie sehnen sich nach festen Grenzen, nach einer starken Reaktion von der Gesellschaft.
Sie meinen, die ständigen Tabubrüche dieser Trolle tragen einen heimlichen Wunsch nach Bestrafung in sich?
Die Trolle wissen ja genau, dass sie beispielsweise Regeln verletzen oder lügen. Das erinnert an Kinder, die provozieren: Sie setzen immer noch eins drauf, bis ihre Eltern dem Ganzen ein Ende bereiten. Kinder wünschen sich durch dieses Verhalten, Grenzen zu erleben, weil diese ihnen Sicherheit bieten. Auch die Trolle sehnen sich online offenbar nach mehr Halt und Regulation. Das bringen sie natürlich nicht bewusst zur Sprache. Doch ihr Verhalten scheint zu sagen: „Irgendwo muss es doch jemanden geben, der mich in meine Schranken weist. Es kann doch nicht sein, dass mein Verhalten ohne Folgen bleibt!“
Auch ich kenne die Versuchung, bei hitzigen Diskussionen im Netz besonders polemisch zu antworten. Doch dann spüre ich einen gegenteiligen Impuls: „Das schreibe ich jetzt lieber nicht.“
Die Psychoanalyse würde sagen: Da haben Sie wohl ein gut verinnerlichtes Über-Ich! [Lacht.]
Warum lassen sich einige Menschen im Netz mehr gehen als andere?
Es ist natürlich nicht so, dass jeder im Internet zu einem völlig enthemmten Wesen mutiert. Wie wir uns verhalten, hängt stark davon ab, ob wir in der Kindheit stabile, vertrauensvolle Bindungserfahrungen gesammelt haben. Diese frühen Beziehungsmuster prägen, wie sehr wir unsere triebhaften Es-Anteile unter Kontrolle haben, wie sehr wir uns also zügeln können.
Enthemmung ist kein rein digitales Phänomen. Wer beispielsweise andere online rassistisch beschimpft, knüpft damit direkt an den Rechtsruck in der Gesellschaft an – von AfD-Politik in den Parlamenten bis zu Brandanschlägen auf Asylheime. Ist es also wirklich nur das Internet – oder ist die Gesellschaft an sich enthemmter geworden?
Es stimmt, diese Phänomene entstehen nicht einfach im Netz. Deswegen liegen Theorien, die das behaupten, auch ein Stück weit falsch. Was online und offline passiert, befindet sich in ständiger Wechselwirkung zueinander. Da lässt sich eine klare Trennlinie nicht sinnvoll ziehen. Dennoch werden bestimmte Phänomene durch das Internet verstärkt. Ihnen wird eine andere Bühne geboten. Dank der technischen Eigenheiten der großen Plattformen können sich beispielsweise Fakenews viel schneller verbreiten.
Sie fordern ein anderes Miteinander im Netz, das mehr Raum für Ambivalenzen und Zwischentöne zulässt. Wie soll das aussehen?
Teilweise gibt es das bereits: Die Plattformen erlauben eine Vielfalt von Stimmen. Identitäten, die zuvor an den Rand gedrängt worden waren, bekommen so eine größere Reichweite. Seit Beginn der Coronapandemie beobachten wir, dass viele junge Menschen auf TikTok von ihren psychischen Problemen erzählen. Diese Entwicklung wird häufig abgetan als ein beliebiger Trend der Generation Z. Dabei entblößen sich die Menschen hier und zeigen ihre empfindsame Seite. Das ist, bei allen Problemen, auch eine positive Entwicklung: Die Videos lassen Raum für den Zweifel, fürs Innehalten. Bei politischen Diskussionen ist das schwieriger. Da kann man nicht einfach sagen: Wir müssen uns alle verletzlicher zeigen, dann wird das schon. Dennoch müssen sich die Debatten online ändern.
Wie kann das gelingen?
Wir müssen zu einer anderen Form der Enthemmung und Hemmung kommen. Viele soziale Plattformen im Internet bauen auf permanente Beschleunigung. Stattdessen sollten sie aber entschleunigt werden. Der Austausch muss langsamer vonstattengehen.
Wie soll das konkret aussehen?
Vor einigen Jahren hat Twitter eine Funktion getestet, bei der man vor dem Teilen eines Artikels gefragt wurde, ob man diesen auch wirklich gelesen hat. Das halte ich für eine gute Idee. Hier hat die Plattform ihre Nutzerinnen und Nutzer aktiv aufgefordert, noch einige Minuten zu warten, bevor sie einen Post absetzen. Ein anderes Beispiel: Wer eine E-Mail mit Gmail verschickt, hat danach noch fünf Sekunden Zeit, es sich anders zu überlegen. Wenn ich meinem Kollegen also gerade eine böse Nachricht gesandt habe, kann ich das schnell noch rückgängig machen. Es sind kleine Momente des Innehaltens, die direkt in die Plattformen eingebaut sind. Davon bräuchte es mehr.
Jacob Johanssen lehrt an der St Mary’s University in London Kommunikationswissenschaften. In seinen Forschungsarbeiten verknüpft er Ideen aus der Psychoanalyse mit Fragen rund um soziale Medien und Internetkultur
Quelle
Jacob Johanssen: Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle. Zur Ent/Hemmung im Digitalen. Psychosozial 2024