Streitgespräch: Generationen sind Erfindungen

Was passiert, wenn wir Menschen in Generationen einteilen? Ein Debatteninterview zwischen Soziologe Klaus Hurrelmann und Psychologe Hannes Zacher

Die Illustration zeigt viele gezeichnete Gesichter aus verschiedenen Epochen
Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Altersgruppen birgt Konfliktpotential – oder? © Lisa Seitz für Psychologie Heute

Herr Zacher, in Psychologie Heute 7/2024 haben Sie sinngemäß geschrieben, Generationenbezeichnungen seien so sinnvoll wie Tierkreiszeichen. Wir möchten Ihre Kritik aufgreifen. Was stört Sie so sehr?

Zacher: Das ist natürlich eine Überspitzung. Aber in der psychologischen Literatur gibt es keine wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Generationen, sondern nur Abhandlungen über Labels wie Generation X, Y, Z, Millennials et cetera.

Es gibt keine wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Generationen?

Zacher:

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, Y, Z, Millennials et cetera.

Es gibt keine wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Generationen?

Zacher: Ja, denn aus theoretischer Sicht ist es schwierig, das Lebensalter, das etwas Kontinuierliches ist, zu unterteilen. Ich bin Ende 1979 geboren. Diesen Jahrgang zählt man zur Generation X. Aber nur zwei Monate später, 1980, wäre ich ein Millennial geworden oder ein Vertreter der Generation Y. Das Lebensalter und auch Geburtsjahre sind kontinuierlich. Das Konzept der Generationen, zumindest wie es heute verwendet wird, geht aber davon aus, dass Generationen irgendwo anfangen und aufhören.

Die Unterteilung in Generationen ist also künstlich?

Zacher: Genau, das ist ein Problem. Ein anderer Punkt ist: Generationenforschung unterscheidet nicht, wie Veränderungen oder Unterschiede zwischen Menschen zustande kommen, also ob Veränderungen am Lebensalter liegen, am Geburtsjahr oder am Befragungszeitpunkt. Ein Beispiel: Eine jüngere und eine mittelalte Person haben in ihrer Jugend jeweils ähnliche Einstellungen gehabt. Befragt man beide im Jahr 2024, ist die eine 50 Jahre alt, die andere erst 30. Fallen die Antworten unterschiedlich aus, kann das Lebensalter der Grund sein, nicht der Generationenunterschied. Das Generationenkonzept vereinfacht also sehr komplexe Sachverhalte zu stark. Und genau das passiert letztendlich auch bei den Tierkreiszeichen: Der Geburtstag wird in eine Kategorie eingeordnet und mit einem bestimmten Label und Attributen versehen. Das ist unwissenschaftlich!

Das klingt nach Zündstoff. Was sagen Sie, Herr Hurrelmann?

Hurrelmann: Ergibt eine Einteilung in Zeitspannen anhand geschichtlicher Prozesse und Ereignisse Sinn? Diese Frage schimmert ja durch, Herr Zacher. Und ja, sie ergibt Sinn! Was aber keinen Sinn ergibt, und das ist im Moment die Gepflogenheit: ein willkürlich gesetztes 15-Jahre-Raster über alles zu legen und anhand dessen Generationen einzuteilen. Da stimme ich völlig zu. Ich gebe allerdings zu, dass ich es auch benutzt habe, weil es hilft zu unterscheiden: Welche große Veränderung hat es zum Beispiel im technischen Bereich in den letzten 15 Jahren gegeben? Wann hat das digitale Zeitalter eingesetzt? Das wären interessante Daten aus den letzten Jahren. Also: Ja, der Generationenbegriff ergibt Sinn, aber die 15-Jahre-Einteilung ist ein riskanter Kunstgriff. Darum will ich nicht herumreden.

Warum teilt man in 15 Jahre ein und wie kam es dazu?

Hurrelmann: Für mich war entscheidend, wie Helmut Schelsky, der die erste deutsche Jugendstudie gemacht hat, vorgegangen ist. Ich habe bei ihm studiert und dieses Muster übernommen. Natürlich denkt man später auch über andere Zeitspannen nach. Und…, okay, ich stimme zu, es ist unwissenschaftlich. Aber ob es hilfreich ist, damit Zeitveränderungen abzubilden, die Frage würde ich noch einen Moment offenlassen.

Abgesehen davon, ob man mit 15-Jahre-Rastern arbeitet: Herr Zacher, Sie sind der Auffassung, dass Prozesse wie die Digitalisierung beim Generationenbegriff gar keine Rolle spielen. Nur der Geburtsjahrgang ist entscheidend, richtig?

Zacher: Natürlich haben gesellschaftliche Ereignisse und Umwälzungen einen Effekt auf Individuen und Gruppen. Und natürlich prägt die Digitalisierung heute Jüngere und Ältere in unterschiedlichem Ausmaß. Meine Kinder werden sehr stark durch Handys beeinflusst. Das war nicht der Fall, als ich Kind war. Aber würde man heutzutage Jüngere und Ältere befragen, würden wahrscheinlich auch viele Ältere von digitalen Einflüssen berichten. Trotzdem werden Unterschiede betont und dadurch Generationen erfunden: Zusätzlich zum 15-Jahre-Schema von Babyboomer bis Alpha werden Generationen wie Corona, Merkel und Greta ausgerufen.

Ich nenne all das in Anführungszeichen die „Generation Industrie“, weil damit Bücher und Konzepte verkauft werden, die Menschen dankbar aufgreifen. Die Frage ist aber, wie überdauernd diese Konzepte sind. Heute, fünf Jahre nach Erscheinen Ihres Greta-Buches, Herr Hurrelmann, fühlen sich wahrscheinlich nur noch wenige junge Menschen in Deutschland Greta zugehörig, weil ihre Thesen abgedriftet sind.

Aber die Klimakrise ist für viele doch immer noch ein sehr wichtiges Thema.

Zacher: Natürlich gibt es junge Menschen, die sich Sorgen um ihre Zukunft und den Klimawandel machen, aber dieses Gefühl beschränkt sich nicht auf junge Menschen. Und ich glaube auch nicht, dass die heutige jüngere Generation ein höheres Umweltbewusstsein hat oder rebellischer ist. Wenn wir in die 1980er Jahre zurückspulen, landen wir bei Tschernobyl, der Abholzung des Regenwaldes und später bei der Gründung der Grünen. Zu sagen, Menschen seien heute anders in ihren Werten – da gehe ich nicht mit. Es werden künstlich Gruppen erfunden und Unterschiede betont, um Bücher, Workshops und Führungskräftetrainings zu verkaufen. Als Forscher möchte ich aber die Mechanismen verstehen: Warum greifen Menschen das Konzept der Generation so gerne auf? Und warum erscheinen Jüngere irgendwie anders, wenn man selbst älter ist? Das sind die interessanten Fragen. Aber ich denke nicht, dass Generationen objektiv existieren und erforscht werden können.

Was also beeinflusst unsere Einstellung?

Zacher: Das sind im Wesentlichen drei Parameter: Erstens das Lebensalter; Ältere nehmen Prozesse anders wahr und verhalten sich anders als jüngere Menschen. Zweitens die aktuelle Situation, in der wir uns befinden – zum Beispiel ob bestimmte Erfindungen gemacht werden; der Anbruch des digitalen Zeitalters wäre dafür ein Beispiel. Man nennt das auch Periodeneffekte. Drittens spielt der Geburtsjahrgang eine Rolle. Und damit es hier nicht zu Missverständnissen kommt: Ich glaube durchaus, dass es einen Unterschied macht, ob man 1944, 1979 oder 2012 geboren ist, und natürlich wachsen Menschen in anderen Lebenswelten auf, und das beeinflusst uns. Was ich kritisiere, sind die künstlichen Labels, die Menschen einen Stempel aufdrücken.

Im Sinne von Stereotypen?

Zacher: Ja, denn Menschen blicken dann durch eine Generationenbrille und behandeln Individuen aufgrund dessen anders. Ein Beispiel wäre: „Die Generation Z möchte nicht mehr arbeiten.“ Wenn ich so denke, laufe ich Gefahr, meine Studierenden und jüngeren Angestellten anders zu behandeln.

Hurrelmann: Das ist die eine Seite. Ich drehe das Argument mal um und sage: Gerade dadurch, dass wir jetzt mit forscherischen Mitteln, also mit Befragungen und so weiter die Mentalität, Einstellungen, Lebensstile und Werthaltungen der jeweils jungen Generationen untersuchen, gelingt es, ein Porträt zu zeichnen und in eine öffentlich verständliche Sprache zu übersetzen. Es geht ja nicht nur um die empirische Erhebung, sondern auch um eine Interpretation und Gewichtung der Ergebnisse. Und damit – das ist jetzt mein Gegenargument – gelingt es, die Diskussion zu versachlichen.

Inwiefern?

Hurrelmann: Wir haben immer das Problem in einer Gesellschaft, dass die jeweils junge Generation mit Argusaugen von Älteren betrachtet wird, weil sie anders an die Lebenssituation herangeht, als die Älteren das getan haben oder es zumindest gegenwärtig tun. So bauen sich Vorurteile gegenüber der jeweils jungen Generation auf. Ich möchte gegen diese Vorurteile angehen: Wie sieht es tatsächlich mit der Arbeitsmotivation aus? Dann kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass pauschale Urteile nicht richtig sind.

Dennoch findet man ein paar allgemeine Züge bei einem sehr großen Anteil der Jüngeren, zum Beispiel die starke Thematisierung von gesundheitlichen Anforderungen und Belastungen. Das passiert auch bei anderen Altersgruppen, aber die Impulse gehen von den Jüngeren oft stärker oder früher aus. Das in einer Studie herauszuarbeiten soll Nachvollziehbarkeit und sachliche Informationen bieten. Grundsätzlich sollten die Wissenschaften, mit denen wir uns befassen, also Soziologie und Psychologie, aber auch ähnliche Fächer daran gemessen werden, ob sie Ergebnisse von öffentlicher Relevanz erbringen, die aber natürlich methodisch, empirisch und theoretisch solide sein müssen.

Zacher: Es ist interessant, dass Sie das sagen. Das eröffnet mir ein neues Verständnis Ihrer Arbeit, Herr Hurrelmann. Aus meiner Sicht wird viel zu wenig differenziert. Wenn ich Pauschalurteile höre wie: „Die heutigen Studierenden sind nicht mehr so leistungsorientiert“, läuten bei mir sofort die Alarmglocken. Es gibt in jeder Altersgruppe Leistungsorientiertere und weniger Leistungsorientierte. Die Unterschiede zwischen den Menschen innerhalb einer Generation sind häufig viel größer als die Unterschiede zwischen den Generationen.

Hurrelmann: Generationen sind vielfältig, deshalb untersucht das Sinus-Institut zehn bis zwölf unterschiedliche Milieus und versucht mit Labels – ich nenne sie lieber Metaphern – zu umschreiben, wie sich meinungsführende Gruppen innerhalb einer Altersgruppe aufstellen. Ich finde das legitim, wissend, dass das riskant ist, weil diese Metaphern schnell verallgemeinert werden und dann nicht mehr klar ist: Generation Greta – das gilt für 30, 40 Prozent, für einen starken Teil, aber nicht für alle. Das muss in der Kommunikation rüberkommen.

Zacher: Ich nehme da eine Diskrepanz wahr. Labels werden zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen oder Stereotypen oder führen sogar zu Diskriminierung – in diesem Fall zu Generationalismus, also Diskriminierung aufgrund von Generationenzugehörigkeit.

Hurrelmann: Dagegen möchte ich natürlich angehen! Deshalb bin ich in den letzten Jahren auch vorsichtiger geworden und spreche viel lieber von der jungen Generation. Soll man den Generationenbegriff also ganz streichen? Das meine ich trotz allem nicht, gerade weil er so eine starke Kraft hat in der öffentlichen Diskussion.

Vor der Diskussion muss es aber ja erst einmal um die Forschung selbst gehen – welche Methoden sind zum Beispiel bei Interviews notwendig, damit später die Ergebnisse aussagekräftig sind?

Hurrelmann: Wir müssten häufiger alle Altersgruppen befragen, nicht etwa nur Jüngere. Bei der Studie Jugend in Deutschland 2023 haben wir das gemacht und die Ergebnisse waren ein Weckruf: Es gab Unterschiede zwischen den Altersgruppen, aber sie waren längst nicht so scharf, wie Stereotype glauben lassen. Und das gilt für die ganze Palette von Einstellungen, die wir hier jetzt schon angesprochen haben, also etwa für die Arbeitshaltung, für politische Einstellungen. Dass man in der Jugend geprägt wird und diese Prägung lebenslang anhält – das scheint so nicht zu sein. Vielmehr reagierten Menschen aller Altersgruppen auf große Herausforderungen und Ereignisse in einer ähnlichen Weise. Bemerkenswert ist trotzdem: Die jüngere Generation, sagen wir mal grob die unter 30-Jährigen, reagiert besonders sensibel, schnell und intensiv und manchmal auch überempfindlich auf solche Trends.

Wie lässt sich das erklären?

Hurrelmann: Die Jugend ist eine besonders sensible Phase – das ist auch der Ansatz des Soziologen Karl Mannheim, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Generationentheorie begründet hat. Äußere Einflüsse und Eindrücke werden intensiv verarbeitet, weil auch der körperliche und psychische Entwicklungsprozess eine intensive Dynamik hat. Jüngere Menschen sind gezwungen, Lebensverhältnisse in die Zukunft zu projizieren und auf lange Sicht zu denken. Sie fragen sich, unter welchen Voraussetzungen die Zukunft gestaltbar bleibt, und nehmen deshalb Einschätzungen mit einer anderen Grundmentalität vor.

Herr Zacher, finden Sie es auch sinnvoll, den Blick auf jüngere Leute zu richten?

Zacher: Ich möchte noch etwas zur Forschungsmethodik sagen. Um Unterschiede zu untersuchen, reicht es nicht aus, nur eine Studie zu einem Zeitpunkt mit Jüngeren, Mittelalten und Älteren zu machen. Und wir brauchen komplexe Forschungsdesigns, die Effekte von Alterung, Geburtsjahrgang und Periodeneffekte wie die Digitalisierung auseinanderhalten können. Ein paar Beispiele, warum das wichtig ist: Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass sich die Persönlichkeit von Menschen im Lauf des Lebens ändert. Wenn wir in die Arbeitswelt einsteigen, müssen wir uns an Regeln halten und werden deshalb tendenziell gewissenhafter. Neben individuellen Veränderungen findet gesamtgesellschaftlicher Wandel statt. Zum Beispiel sind Offenheit und Toleranz gegenüber LGBTQ insgesamt größer geworden, auch durch die Informationen, die zur Verfügung stehen. All diese Parameter muss man in der Forschung sauber auseinanderhalten. Das ist leider so aufwendig, dass es nur wenige solcher Studien gibt.

Die Jüngeren als Impulsgeber für Wandel – das gilt also nicht?

Zacher: Es gibt natürlich gesellschaftliche Impulse, die von jungen Menschen ausgehen. Aber Ältere haben einen sehr starken Einfluss auf die Politik, zum Beispiel welche Positionen Parteien vertreten, und auf gesellschaftliche Diskussionen, zum Beispiel welche Sendungen im Fernsehen laufen. Es sind also auch Ältere, die gesellschaftlichen Wandel vorantreiben oder vielleicht blockieren.

Wer ist überhaupt jung und wer ist alt?

Hurrelmann: Das ist natürlich die nächste Frage. Die Pubertät als Eintritt in das Jugendalter ist eines der wenigen Ereignisse, die biologisch, sozial und psychologisch untermauert sind. Darüber besteht auch eine verhältnismäßig große Übereinstimmung in verschiedenen Kulturen und in der Wissenschaft. Wann aber das Jugendalter endet, ist schwer zu dokumentieren.

Wie geht man damit um?

Hurrelmann: Die alte soziologische Tradition war: Ich bin dann nicht mehr ein Jugendlicher, wenn ich ökonomisch auf eigenen Beinen stehe und eine Familie gründe. Das kann man auch weiterhin hilfsweise nehmen für Studien; wir tun das auch. Es bleibt aber die Frage von vorhin, ob der Begriff Generation damit ersetzt werden sollte. Es gibt selten Übersetzungsbegriffe aus der Wissenschaft in die Alltagspraxis. Es hat etwas Wertvolles, dass wir mit der Generationenforschung ein Thema vor Augen haben, das ganz viele Menschen interessiert. Sie möchten von der Wissenschaft etwas über ihre Position in der Gesellschaft und über ihren Lebenslauf, über ihr Alter und über historische Ereignisse erfahren. Die Wissenschaft unterstützt sie dabei. Das darf aber natürlich nicht einem Horoskop ähneln, mit scheinbar klaren, holzschnittartigen Empfehlungen. Deshalb bliebe im Moment für mich nur übrig, von der jungen Generation zu sprechen. Das tue ich seit längerer Zeit. Damit meine ich die unter 30-Jährigen.

Zacher: Ich würde keinen so klaren Cutoff setzen.

Aber wie kann eine Unterscheidung ohne klaren Cutoff funktionieren? Braucht man bei Studien keine konkreten Altersgrenzen bei Testpersonen?

Zacher: Alter kann man als kontinuierliche Variable untersuchen und sagen: Es gibt eine Tendenz – dass Ältere zum Beispiel eher enge soziale Beziehungen bevorzugen, während jüngere Menschen im Durchschnitt gerne ein breites soziales Netzwerk haben. Solche beschreibenden Aussagen würde ich treffen.

Hurrelmann: Trotzdem bleibt natürlich die Frage, wer jung ist und wer alt.

Zacher: Es gibt keine natürliche oder wissenschaftlich bestimmte Grenze, ab der jemand ein alter oder älterer Mensch ist. In der Arbeitswelt werden aber oft aus rechtlichen Gründen, wie etwa Schutz vor Diskriminierung oder Rentenansprüchen, bestimmte Altersgrenzen festgelegt. In der Europäischen Union werden Menschen ab dem Alter von 55 Jahren oft als „ältere Beschäftigte“ bezeichnet, in den USA gehört man laut dem Age Discrimination in Employment Act von 1967 bereits ab 40 Jahren offiziell zu einer geschützten Gruppe.

Hurrelmann: Wir haben eine Jugendstudie in Indien gemacht und hatten das Problem, dass indischen Forscherinnen und Forscher uns sagten: Die Jugend geht bei uns bis 35, nicht nur bis 30.

Wie geht man damit um?

Hurrelmann: Wir haben tatsächlich die Ergebnisse von Älteren noch mit eingerechnet. Alles andere hätte die Lebenssituation dort nicht abgebildet. Um solche Probleme kommen wir bei der besten Forschung nicht herum.

Zacher: Auch Generationen werden in anderen Ländern ganz anders gebildet. In China dauert eine Generation immer zehn Jahre und sie reicht vom Beginn bis zum Schluss eines Jahrzehnts, also 2010 bis 2020 und so weiter. Das zeigt, dass Generationen wie X oder Y sozialgesellschaftlich konstruierte Konzepte sind, die sich nicht unbedingt auf andere Weltregionen übertragen lassen.

Welche Konzepte gibt es noch – abgesehen von Generationen oder Beschreibungen wie „jung“, „mittelalt“ und „alt“?

Zacher: Der sozioökonomische Status ist entscheidend. Es hat einen viel größeren Effekt, unter welchen ökonomischen Bedingungen jemand aufwächst, als zu welcher Generation jemand gehört. Auch das Geschlecht spielt eine große Rolle. Durch die Diskussionen über Generationen werden die eigentlichen, gesamtgesellschaftlichen Probleme verdrängt: verbesserungswürdige Arbeitsbedingungen, Geschlechtergerechtigkeit, soziale Mobilität. Lieber werden die angeblichen Einstellungen der jüngeren Generation zum Problem erklärt, weil sie angeblich defizitär ist und deshalb verantwortlich, wenn Dinge falsch laufen.

Hurrelmann: Dass eine Generationenbezeichnung ein Stereotyp ist – und in der Regel ein negatives –, ist natürlich für die wissenschaftliche Forschung eine ganz schwierige Ausgangslage.

Könnte man versuchen, positive Bilder zu finden?

Zacher: Genau das wollte ich sagen.

Hurrelmann: Der Sinn von Forschung ist, weder positive noch negative Bilder zu zeichnen, sondern komplette Bilder. Und dann erkennt man: Das Klischee trifft nur auf eine kleine Subgruppe zu. Insofern habe ich zumindest eines aus dieser und anderen Diskussionen gelernt: Den Generationenbegriff zu benutzen ist ein Spiel mit dem erkenntnistheoretischen Feuer.

Herr Professor Hurrelmann, Herr Professor Zacher, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Hannes Zacher ist Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Leipzig. Er forscht zu beruflicher Gesundheit, Arbeitsverhalten, Altern im Arbeitskontext und Laufbahnentwicklung sowie umweltfreundlichem Verhalten in Organisationen.

Klaus Hurrelmann ist seit 2009 ­Seniorprofessor an der Hertie School in Berlin. Zuvor war er Professor für ­Sozialisation in Essen und Bielefeld. Seine Studien zu Kindern und Jugend­lichen gehören zu den bekanntesten in Deutschland.

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Quellen

Ulrich Bauer, Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. Beltz 2021 (14., vollständig überarbeitete Auflage)

David P. Constanza, Cort W. Rudolph, Hannes Zacher: Are generations a useful concept? Acta Psychologica, 241, 2023, 104059

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2025: Ziele loslassen