Überraschungen sind immer auch eine Erinnerung daran, dass wir keine völlige Kontrolle über unser Leben haben. Sie sind – ob sie uns erfreuen oder entsetzen – eine jähe Unterbrechung dessen, was wir gerade tun oder denken, sie zwingen unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das von außen kommt und mit dem wir nicht gerechnet haben. Ein paar Plastikkugeln mit aufgedruckten Zahlen machen uns reich, Funkenflug trifft das Hausdach und nimmt uns alles. Überraschungen bringen uns zum Lachen oder Weinen, sie können unser…
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das Hausdach und nimmt uns alles. Überraschungen bringen uns zum Lachen oder Weinen, sie können unser Leben von einer Sekunde auf die andere in eine andere Bahn lenken, sie üben Macht über uns und unsere Gefühle aus. Sagen darum manche Menschen, dass sie Überraschungen hassen?
Das Wort „Überraschung“ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet zum einen ein Ereignis, das aus verschiedenen Gründen überraschend sein kann. Sie haben sich auf etwas eingestellt, das nicht oder nicht so eintrifft: Sie glaubten, ein Luxushotel gebucht zu haben, und landen in einer Jugendherberge – das wäre eine unangenehme Überraschung, der umgekehrte Fall (vermutlich) eine angenehme.
Oder es geschieht etwas, womit Sie nicht gerechnet oder das Sie nicht für möglich gehalten haben: Sie knacken tatsächlich den Jackpot. Ein Foto enthüllt die Untreue Ihrer Partnerin. Letzteres trifft Sie „wie aus heiterem Himmel“, denn diese Sprachwendung ist meist Unangenehmem vorbehalten. Wenn hingegen jemand ins Zimmer platzt und „Überraschung!“ ruft, können Sie (fast) sicher sein, dass etwas Nettes folgt. Andernfalls lautete der erste Satz eher: „Ich habe schlechte Nachrichten…“
Wie wir reagieren
Die zweite Bedeutung des Wortes „Überraschung“ betrifft unsere Reaktion, das Überraschungsgefühl. Es dauert nur wenige Sekunden an, dann setzen andere Gefühle ein: Freude, Begeisterung, Staunen oder Erleichterung, aber auch Schreck, Entsetzen, Angst, Verstörung, Enttäuschung. Je weniger man etwas für möglich gehalten hat, umso größer die Überraschung, umso intensiver die ausgelösten Gefühle.
Ob das Überraschungsgefühl selbst eine Emotion ist, ist umstritten. Manche, allen voran der Psychologe Paul Ekman, ordnen es – wie Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung und Traurigkeit – den Basisemotionen zu, weil sich, so die Begründung, Mimik und Gestik weltweit gleichen: Man reißt die Augen auf, öffnet den Mund, zuckt zusammen, ruft etwas aus, weicht einen Schritt zurück. All das sind unwillkürliche Körperreaktionen, die je nach Grad der Überraschung stärker oder schwächer ausfallen. Menschen, die auf alles mit steinernem Gesicht reagieren, gelten als etwas sonderbar oder – vor allem bei Männern – als äußerst beherrscht und folglich cool.
Weltbild und Realität abgleichen
Die deutsche Sprache hat viele feststehende Wendungen dafür, was Überraschungen mit uns machen. Es verschlägt einem die Sprache, die Kinnlade klappt runter, die Augen fallen aus dem Kopf, das Herz bleibt stehen, man ist vom Donner gerührt, hört wohl nicht recht. Die Folge ist Innehalten; der oder die Überraschte ist einen kleinen Moment außer Gefecht gesetzt, verharrt eine Schrecksekunde lang in Schockstarre. All das fängt präzise ein, was Studien belegt haben: Die Herzfrequenz nimmt ab und der Muskeltonus zu. So gewinnt der überrumpelte Mensch Zeit, um sich auf die veränderte Situation einzustellen, sich neu zu sortieren, zu bewerten, ob das Ereignis bedrohlich ist oder nicht.
Und Neusortieren wird nötig, denn es liegt in der Natur der Überraschung, dass das Erlebte nicht zu dem passt, was wir von der Welt erwarten. Für Emotionspsychologen wie Wulf-Uwe Meyer, emeritierter Professor an der Universität Bielefeld, organisieren wir unser Weltwissen in Schemata, die auf unseren bisherigen Erfahrungen basieren. Diese Schemata sind uns nicht unbedingt bewusst, bestimmen aber, was wir als „normal“ ansehen.
Ein vorbeifahrendes Auto ist meistens uninteressant, ein wie ein Vogel vorbeifliegender Mensch hingegen nie – je mehr ein Ereignis von den inneren Schemata abweicht, umso stärker verwirrt es. In einer theoretischen Arbeit beschrieb Wulf-Uwe Meyer Überraschungen als schemadiskrepante Ereignisse: „Wenn ein Ereignis mit unseren impliziten Theorien (Schemata) nicht übereinstimmt, wenn es also unerwartet ist, entsteht die Frage, warum es eingetreten ist. Denn offenbar stimmt etwas nicht mit unserer Theorie, da sie nicht in der Lage war, das Ereignis vorherzusagen. Möglicherweise ist die Theorie revisionsbedürftig.“
Um das gestörte innere Gleichgewicht wiederherzustellen, sucht man nach Erklärungen für die Ungereimtheiten. Anders gesagt: Überraschungen sind ein Update unserer Schemata, sie zwingen uns, unser implizites Weltbild mit der Realität abzugleichen, eventuell zu revidieren und zu erweitern. Wer sich dem verweigert, wird die Welt bald nicht mehr verstehen, wird sich überfordert und vielleicht abgehängt fühlen.
"In allem ist ein Riss"
Weil jeder Lebensweg seine eigenen Schemata produziert, reagieren Menschen in derselben Situation unterschiedlich. Studien legen nahe, dass Menschen mit einem stabileren Selbstwertgefühl besser als selbstunsichere Menschen damit zurechtkommen, wenn ihre Schemata infrage gestellt werden.
Denn mit dem Überraschenden kommt das Neue in die Welt, vor allem aber ins eigene Leben. Das kann verunsichern; es gibt Zeiten, in denen man nichts weniger braucht, als aus dem bewährten Konzept gebracht zu werden, in denen man sich schon durch kleine Irritationen überfordert oder überrumpelt fühlt. Dann kann man versuchen, in Routinen zu leben und nur wenig dem Zufall zu überlassen, aber es ist unmöglich, alle Ritzen seines Lebenskartons auf Dauer licht- und luftdicht abzukleben: „In allem ist ein Riss“, singt Leonard Cohen, „dort dringt das Licht ein.“ Nicht alles lässt sich vorhersehen, die abgeklärt wirkende Behauptung „Mich kann nichts mehr überraschen“ ist immer falsch. Wie eine kluge Freundin einmal sagte: Mit dem Zufall muss man rechnen.
Gefühlsflash
Nun sind zum Glück die wenigsten Überraschungen so dramatisch, dass sie das eigene Leben – zum Positiven oder Negativen – aus der Verankerung reißen. Geschenke beispielsweise sollen lediglich angenehm überraschen. Dabei geht es meist nicht so sehr darum, dass man etwas schenkt – das Geburtstagskind oder die Jubilarin rechnet ja bereits damit –, sondern darum, was man schenkt. Die getroffene Wahl soll der beschenkten Person signalisieren, dass man sie und ihre Wünsche kennt. Das Geschenk soll sie aber nicht überfordern oder gar bloßstellen.
Was – mit Absicht oder nicht – durchaus passieren kann, denn wer überraschen will, ist dem Menschen, der überrascht werden soll, einen Schritt voraus und damit oft auch überlegen. Bekanntermaßen ist Überraschung eine jahrhundertealte, bewährte Kriegslist, die man auch im Frieden strategisch nutzen kann, indem man beispielsweise die zögerliche Angebetete vor laufender Fernsehkamera mit einem Heiratsantrag überrumpelt. Das wird bei ihr fraglos einen (positiven oder negativen) Gefühlsflash auslösen. Die Überraschungsreaktionen des Publikums indes gehen selten über Amüsement und Staunen hinaus. Dort geht es ja niemanden etwas an.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Intensität der erlebten Gefühle keineswegs – wie gerade behauptet – allein davon bestimmt wird, wie unvereinbar das Erlebte mit den eigenen Schemata ist. Ganz entscheidend ist auch das Maß der eigenen Betroffenheit; Überraschungsmoment und Gefühle verlieren an Intensität, je weiter ein Ereignis von uns und unserem Leben entfernt ist. Während ein jäher Stromausfall in Ihrem Stadtteil Sie vermutlich sofort in einen Gefühlstumult stürzt, nehmen Sie einen Blackout in New York mit, nennen wir es: distanzierter Überraschung zur Kenntnis. Es sei denn, Ihre Tochter wohnt dort, dann liegt New York praktisch vor Ihrer Haustür. Ähnliches gilt für unsere Reaktionen auf die allermeisten Nachrichten, die uns täglich erreichen.
Immer nur Status quo
Es gibt also durchaus Überraschungen, die uns nicht wirklich betreffen, daher nur milde Gefühle auslösen und uns dennoch (mehr oder weniger) interessieren. Das macht auch die Beteuerung „Ich hasse Überraschungen“ fragwürdig, weil die meisten von uns viel häufiger Überraschungen erleben, als uns bewusst sein mag. Mehr noch: Wir mögen es nicht so nennen, vielleicht nicht einmal erkennen, aber wir suchen das Paradox einer Überraschung, die wir – anders als im wahren Leben – kontrollieren können. Denn wir wollen Neues.
Immer nur Status quo empfinden die meisten als so unangenehm, dass sie wie ein Kind ausrufen möchten: Mir ist LANG-WEI-LIG! Übrigens ein sehr gesunder Reflex, denn Studien belegen, dass Überraschungen dem Gedächtnis guttun, vielleicht sogar depressives Grübeln und chronische Entzündungen vermindern können. Vor allem braucht das Gehirn Abwechslung, um jung zu bleiben. Setzt man ihm immer nur Bekanntes vor, rostet es ein.
Kultur überrascht
Wir wollen und brauchen also Unerwartetes und das suchen wir in Unterhaltungsangeboten, die einem vertrauten Schema folgen: Vermeintlich vorhersehbare Geschichten nehmen eine unvorhersehbare Wendung, das Publikum erwartet A, aber der Plot endet mit B. Literatur, bildende Kunst, Theater, Filme, Unterhaltungssendungen und auch die Werbung überfallen uns förmlich mit Überraschungen, noch der biederste Sonntags-Tatort versucht, uns in den neunzig Minuten gleich mehrfach von hinten anzuspringen, damit wir dranbleiben.
Diejenigen, die etwas erzählen – also Regisseurin, Schriftsteller, Witzerzählerin und so weiter –, stehen im Dialog mit denen, die das Erzählte „konsumieren“. Damit dieser Dialog gelingt, müssen die Kreativen mit dem kulturellen und sozialen Hintergrund ihres Publikums so vertraut sein, dass sie dessen Erwartungen unterlaufen können – sie müssen seine Schemata kennen. Darum funktionieren beispielsweise Witze in fremder Umgebung oft nicht. Und liefern Schriftstellerin, Comedian, Showmoderatorin nur Vorhersehbares, wenden wir uns gelangweilt ab, durchschauen wir die Absicht zu früh, sind wir enttäuscht. Das Fallbeil des Feuilletons lautet: überraschungsarme Dramaturgie.
Neue Katze im Sack
Die Magie vieler Kinder- und Märchenbücher besteht darin, sämtliche Naturgesetze und Wahrscheinlichkeiten sowie fundamentale Regeln des sozialen Miteinanders souverän zu ignorieren. Alles kann passieren, auch das Unmögliche. Vor allem das Unmögliche. Die Handlung macht Spaß, weil sie all unsere Schemata verletzt – wobei es zu diesen Schemata gehört, genau das von Kinderbüchern zu erwarten. Aber auch Märchen für Erwachsene wie Science-Fiction-, Katastrophen- und Gruselgeschichten überbieten sich in immer absurderen Realitätsbrüchen. Wichtig für Große und Kleine ist, dass alle Fantasien, auch und vor allem die nervenaufreibendsten Storys, immer als ein aufregendes, angsttreibendes Spiel wahrgenommen werden, das man beenden kann, falls es zu sehr verstört.
Tatsächlich möchten wir von dem, was wir zur Unterhaltung konsumieren, nur wenig selbst erleben. Stattdessen suchen wir gefahrlose Anregung und folgen dem leicht voyeuristisch gefärbten Verlangen, aus sicherer Distanz Einblicke in Leben und Denkweisen zu bekommen, die uns sonst verschlossen blieben.
Der kanadische Psychologe und Neugierforscher Daniel Berlyne (1924–1976) führte Kunst und Ästhetik auf ein Bedürfnis nach Stimulation zurück. Laut Berlyne suchen wir nach Anregung durch Neuheit, Komplexität, Überraschung, Ambiguität und Widersprüchlichkeit. So kann man lesend über Lebenswege oder Gedanken staunen, an Bizarrem und Verbotenem teilhaben, von dem die eigenen Schemata bislang nichts ahnten. Dann schaut man verblüfft vom Buch (oder dem Tablet) auf und denkt: „So habe ich das noch nie gesehen“, oder: „Wat et nit al jitt.“ Meine Buchhändlerin bietet jeden Monat eine neue „Katze im Sack“ an, ein in Papier eingeschlagenes Buch, man weiß nicht, was man kauft. Das ist das Gegenteil des Buchkaufs im Internet, wo man etwas gezielt aufruft und bestellt. Ende. Kein Platz für Friedrich Schillers Erkenntnis, niedergelegt im dritten Akt von Don Karlos: „Das Überraschende macht Glück.“
Apfel und Riesenrad
Es macht nicht nur Glück, sondern auch Wissen und Wissenschaft. Denn damit etwas Neues getan oder erfunden werden kann, muss jemand aus der vertrauten Spur seiner Schemata aufblicken und etwas Normales schlagartig nicht mehr normal und selbstverständlich, sondern überraschend und unerklärlich finden.
Lässt man diese Verblüffung zu und geht dem Stutzen nach, kann Erstaunliches passieren: Der englische Physiker Isaac Newton, so heißt es, entdeckte die Gesetze der Schwerkraft, als er einen Apfel vom Baum fallen sah und sich plötzlich fragte, warum er senkrecht nach unten und nicht zur Seite oder nach oben fiel.
Oder nehmen Sie den kleinen Jungen, der auf dem Münchner Jahrmarkt Auer Dult Riesenrad fuhr. Als Erwachsener erzählte er, was er aus der Gondel sah: „Es waren Bilder mit vielen Details, es passierte so viel gleichzeitig, die Geschichten gingen nicht aus: Menschen liefen über den Platz, kamen zu Gruppen zusammen, lösten sich wieder auf, Kinder jagten hintereinander her, Karren wurden gezogen, eine Frau sammelte ihren Einkauf vom Pflaster und ein Junge kletterte einen Laternenpfahl hinauf.“
Das Kind war Ali Mitgutsch, der Blick von oben auf die Welt überraschte und beglückte ihn so nachhaltig, dass er sein Leben wurde: Er inspirierte ihn zur Erfindung der Wimmelbücher, das Riesenrad steht im ersten von 1968.
Hinsehen und Hingehen
Man kann die Wimmelbücher betrachten und sich – in jedem Alter – von ihrem Einfallsreichtum und Witz überraschen lassen. Man kann aus den Geschichten von Newton und Mitgutsch auch Lehren für das eigene Leben und den möglichen Umgang mit schönen Überraschungen ziehen: Die belebende Wirkung des Unbekannten und Neuen, das Unerwartete und Unvorhersagbare, das Facettenreiche und Verblüffende beginnt vor der eigenen Wohnungstür. Man muss nur hinsehen, man muss nur hingehen. Dem glücklichen Zufall eine Chance geben. Das wahre Geheimnis der Welt, sagte schon Oscar Wilde, liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren.
Wollen Sie erfahren, wie Sie sich der unerwarteten Freude nähern können? Dann lesen Sie den Artikel Da werde ich mich überraschen aus derselben Ausgabe.
Quellen
Tania Luna, LeeAnn Renninger: Surprise. Embrace the Unpredictable and Engineer the Unexpected. TarcherPerigee 2015
Wulf-Uwe Meyer: Einige grundlegende Annahmen und Konzepte der Attributionstheorie. ResearchGate, 2003. DOI: 10.13140/RG.2.2.21833.65125
Silvia Knobloch-Westerwick, Caterina Keplinger: Mystery Appeal: Effects of Uncertainty and Resolution on the Enjoyment of Mystery. Media Psychology, 8/3, 2006
Christian Hilscher: Überraschungen verbessern das Gedächtnis. Psylex, 26. August 2022
Eleanor Morgan: Oh wow! How getting more awe can improve your life – and even make you a nicer person. The Guardian, 23.9.2022
Martin Meyer: Das Gehirn braucht Abwechslung. Zeitlupe 1/2, 2014
Kim Kindermann im Gespräch mit Andrea Gerk: Zum Tod von Ali Mitgutsch – „Die Wimmelbücher waren eine Revolution“. Deutschlandfunk Kultur, 12.01.2022