Da werde ich mich mal überraschen

„Da bin ich gespannt!“ Überraschungen sind nicht immer angenehm. Tania Luna und LeeAnn Reininger wollen ermutigen, sich Neuem zu öffnen.

Ein Kind wird auf seiner Geburtstagsfeier überrascht und hält lachend die Hände vor Nase und Mund
Als Kind ist man offen für das Unerwartete. Warum verlieren wir im Erwachsenenalter die Freude an Überraschungen? © Ippei Naoi/Getty Images

Als Kind verbat sich Tania Luna strikt Überraschungsgeschenke jeder Art. Auf den Gabentisch durfte nur das, was Wochen vorher mit den Eltern abgesprochen war. Als Teenager war sie ein „Kontrollfreak“, ihre Zukunftspläne notierte sie in Excel-Tabellen. Es kostete die zu Depressionen neigende junge Frau unendlich viel Überwindung, in kleinen Schritten ihr Schneckenhaus der Sicherheiten zu verlassen.

Mit ihrer Schwester gründete sie eine kleine Dienstleistungs­firma, die der Kundschaft Überraschungsabenteuer…

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ihrer Schwester gründete sie eine kleine Dienstleistungs­firma, die der Kundschaft Überraschungsabenteuer verkaufte: „Steigen Sie in den nächsten einfahrenden Zug…“ Aber kann man sich auch selbst überraschen? Zumindest kann man die Haltung einüben. Dazu geben Tania Luna und die Sozialpsychologin LeeAnn Renninger in ihrem Buch Surprise ein paar Anregungen:

1. Neues erforschen

Die Alltagsroutinen durchbrechen: Wir könnten morgens mal einen anderen Weg zur Arbeit oder mittags einen anderen Imbiss ausprobieren, einen Tanzkurs buchen, ein neues Buch aus einem wenig vertrauten Genre kaufen (wie wäre es mit Science-Fiction?), am Wochenende spontan an einen noch unbekannten Ort in der Umgebung fahren, uns mit Menschen verabreden, die wir noch nicht so gut kennen.

2. Die Welt bestaunen

Im Wunderland erlebt Alice ganz erstaunliche Dinge – aber vielleicht ist diese Welt auch deshalb voller Seltsamkeiten, weil Alice bereit ist, das Sonderbare und Aufregende in ihr zu sehen. Wir könnten es ihr ja mal nachmachen – wir begeben uns an ein x-beliebiges Ziel mit der Haltung: Wer weiß, was mich dort erwarten wird! Indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf fokussieren, entdecken wir selbst im Vertrauten das Unvertraute. Denn, so der Neugierforscher Todd Kashdan: „Keine zwei Umarmungen sind identisch, keine zwei Pizzerien machen die Pizzen auf dieselbe Art.“

3. Ehrfurcht spüren

Manche Erlebnisse machen uns fassungslos. Wir schauen in den Sternenhimmel, werden hinweggetragen von einer Mahler-Symphonie – und fühlen uns für einen unendlichen Moment winzig und doch geborgen und verbunden. Wir empfinden Ehrfurcht (siehe auch unser Titelthema in Heft 12/2023). Ehrfurcht, so die Autorinnen, ist „Überraschung, die angereichert ist mit etwas unermesslich Gewaltigem oder Komplexem“. Ehrfurcht ist nichts Instrumentelles, man kann sie nicht anknipsen. Aber wir alle wissen ganz persönlich, was uns ergreift. Einfach aufsuchen, nichts erwarten.

4. Die Wohlfühlzone ausdehnen

Wir neigen dazu, uns eine übersichtliche Nische im Leben einzurichten, in der die Dinge, die uns zustoßen, vorhersehbar sind. Dagegen ist nichts Grundsätzliches einzuwenden. Die Crux ist nur: Wir fühlen uns zwar am behaglichsten, wenn wir auf sicherem Terrain sind. Aber wir fühlen uns am lebendigsten, wenn wir es nicht sind. Wenn wir nicht ab und zu einen Schritt ins Neuland wagen, drohen wir zu Gefangenen unserer Wohlfühlzone zu werden. Gerade wenn es uns schwerfällt, uns zum Beispiel zu verabreden, ist dies für Luna und Renninger ein Indiz dafür, dass wir genau das tun sollten. Das Gute daran, so die Autorinnen: Wenn wir einen Schritt nach draußen machen, wächst die Wohlfühlzone sozusagen mit. Wir erweitern unseren Aktionsradius.

5. Dankbar sein

Dankbarkeit ist einer der besten Indikatoren für Lebenszufriedenheit. Dankbare Menschen sind glückliche Menschen. Dumm nur, dass wir im Alltag die meis­ten Dinge, die uns dankbar stimmen könnten, bereits eingepreist haben: Wir ärgern uns über den verspäteten Zug, aber nehmen den pünktlichen gleichmütig hin. Also, wenn Ihnen das nächste Mal etwas Angenehmes widerfährt (wahrscheinlich schon bald): Halten Sie inne und feiern Sie es.

6. Wie eine Überraschologin denken

Das ist der Metarat, den Luna und Renninger uns auf den Weg geben: Wann immer du dich festgefahren oder überfordert fühlst, frage dich, was jetzt wohl ein surprisiologist, eine echte Überraschungskoryphäe tun würde. Also: Wie finde ich aus dieser faden Endlosschleife heraus? Fragen wir doch die innere Überraschologin.

Wollen Sie mehr darüber erfahren, was Überraschungen für den Menschen so alles bereithalten? Dann lesen Sie den Artikel Vom Glück, überrascht zu werden aus derselben Ausgabe.

Quellen

Tania Luna, LeeAnn Renninger: Surprise. Embrace the Unpredictable and Engineer the Unexpected. TarcherPerigee 2015

Wulf-Uwe Meyer: Einige grundlegende Annahmen und Konzepte der Attributionstheorie. ResearchGate, 2003. DOI: 10.13140/RG.2.2.21833.65125

Silvia Knobloch-Westerwick, Caterina Keplinger: Mystery Appeal: Effects of Uncertainty and Resolution on the Enjoyment of Mystery. Media Psychology, 8/3, 2006

Christian Hilscher: Überraschungen verbessern das Gedächtnis. Psylex, 26. August 2022

Eleanor Morgan: Oh wow! How getting more awe can improve your life – and even make you a nicer person. The Guardian, 23.9.2022

Martin Meyer: Das Gehirn braucht Abwechslung. Zeitlupe 1/2, 2014

Kim Kindermann im Gespräch mit Andrea Gerk: Zum Tod von Ali Mitgutsch – „Die Wimmelbücher waren eine Revolution“. Deutschlandfunk Kultur, 12.01.2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein