„Viele finden Leistung belastend.“

Entlastung oder positive Belastung? Wir vergessen Leistung anzuerkennen und als sinnvolle Erfahrung zu verstehen; das stört Jörg Scheller.

Die Illustration zeigt den Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker, Jörg Scheller, den stört, dass viele Leistung als belastend empfinden
Jörg Scheller ist Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Ganz Deutschland ächzt unter Leistungsdruck. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man der Klageprosa der Presse und des sozialmedialen Kommentariats lauscht. Überforderung, Erschöpfungsdepression, Burnout sind die Evergreens in einem Land, dem es so gutgeht wie selten zuvor. In einer ungewöhnlich langen Friedenszeit profitieren immer mehr Teilzeitarbeitende von kürzeren Arbeitszeiten, dem Ende absoluter Armut und vielen Selbstverwirklichungsop­tionen. Aber Deutschland wäre nicht Deutschland, litte es nicht an einem Zu­stand, von dem andre Generationen und Weltgegenden nur träumen könnten.

Das Unvermögen, die vorteilhafte historische Lage anzuerkennen, führt dazu, dass die Versprechen der Moderne auf Entlastung selbst bei faktischer Einlösung nicht wirksam werden können. Ob das moderne Versicherungswesen, die moderne Verwaltung, das moderne Bildungssystem, die moderne Medizin, die moderne Büroarbeit – früher oder später wird all das, was uns körperlich oder seelisch entlasten soll, als Last empfunden.

Träumte man einst von Sicherheit, so empfindet man sie heute als Kontrolle und Einengung – was einen nicht daran hindert, immer mehr davon haben zu wollen. Träumte man einst von der Möglichkeit, sich optimieren zu können, so ächzt man heute unter Selbstoptimierungsdruck. Träumte man einst davon, Großes leisten zu können, so wird es heute zur Qual, Kleines leisten zu müssen.

Aus der Entlastungsspirale aussteigen

In der sozialpsychologischen Forschung ist das seit langem als Tocqueville-Effekt bekannt. Umso verwunderlicher ist, wie hartnäckig immer weitere Entlastungsforderungen erhoben werden, um die Zufriedenheit der Menschen zu steigern. Die Viertagewoche einführen, die Bundesjugendspiele motivierend statt leistungsorientiert gestalten, die Schulnoten und am besten gleich noch die Geschlechterbilder abschaffen, denn schließlich erzeugen auch Bilder Druck, vom Kapitalismus gar nicht erst zu sprechen! Doch Menschen fühlen sich eben nicht zwingend besser, wenn sie Entlastung erfahren.

Origineller wäre, einmal zu versuchen, aus der Entlastungsspirale auszusteigen, ja ein positives Verhältnis zur Belastung (jenseits des Krafttrainings oder banalen Gewinnstrebens) zu entwickeln. Und was ist eigentlich mit all jenen, für die kein Gegensatz zwischen Motivation und Leistung besteht? Die alles geben wollen in diesem Leben, weil sie nur eines haben? Die ohne Druck an der unerträglichen Leichtigkeit des Seins verzweifelten? Sollten die unter dem Joch der Leistungsscham krauchen, um nicht als grausame Sozialdarwinisten zu gelten?

Nein, denn alle Gesellschaften sind, wenn sie denn prosperieren wollen, auf eine Kultur nichttrivialer Leistungslust angewiesen. Das setzt einen Begriff von Leistung voraus, der sich nicht mit Pappkameraden à la „neoliberaler Mythos!“ oder „kalte Meritokratie!“ begnügt. Man müsste „fragen, wie Leistung entsteht, gemessen und anerkannt wird, welche Leistung im Schatten liegt und warum Leistung so eine lustvolle Erfahrung sein kann“, so formulierte es Petra Bahr vom Deutschen Ethikrat. Diese Fragen in der Medienöffentlichkeit ernsthaft zu diskutieren wäre mal eine echte, nun ja – Leistung.

Jörg Scheller ist Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker. Er ist Professor am ­Institute for Contemporary Art Research der Zürcher Hochschule der Künste.

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