Mut zur Angst

Angst ist unangenehm, doch wenn wir richtig mit ihr umgehen, wird sie kostbar: Sie zeigt, was wichtig ist – und setzt ungeahnte Kräfte frei.

Die Illustration zeigt einen kleinen Mann, der einen sehr großen, schwarzen Wolf von seinem Halsband befreit und ihn mutig anschaut
Was, wenn Angst kein Feind ist, sondern eine Ressource, die erschlossen werden kann? © Stephan Schmitz

Eigentlich war Cecilia in einer beneidenswerten Situation. In den letzten Jahren hatte die Kommunikationsexpertin als Direktorin in einem Ministerium in Washington, D.C. gearbeitet. Und nun hatte ihr eine Firma an der Westküste eine Position angeboten. Der neue Job war sehr verlockend. Cecilia hatte viele Jahre in ihre Karriere investiert und sie meinte, sie schulde es sich, nun am Ball zu bleiben. Mehr noch aber sorgte sie sich, ihre Familie durch einen Umzug zu sehr zu belasten. Was, wenn die Kinder in…

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sich bei der Entscheidung davon leiten lassen, was sie glücklich machen würde. Aber dass er die Wahl ihr überließ, erhöhte nur ihre Besorgnis und ihre Schuldgefühle. Angst bestimmte jede Minute ihres Tages: Sie hatte keinen Appetit, lag nachts stundenlang wach und fühlte sich durcheinander.

Gefühle, wie sie Cecilia verspürte, kennen viele Menschen. Für manche ist es die Sorge, eine falsche Karriereentscheidung zu treffen, für andere die Furcht, keinen Lebenspartner zu finden, es gibt Panikgefühle wegen eines anstehenden Vortrags oder beklemmendes Magendrücken, wenn man an das nächste Treffen mit dem an Alzheimer leidenden Vater denkt.

Und wenn die Angst gar kein Feind ist?

Ein Satz, den die Betroffenen dann oft hören, lautet: „Du musst deine Angst überwinden.“ In der allgemeinen Wahrnehmung sei Angst ein Problem, das bezwungen werden muss, schreibt die amerikanische Psychotherapeutin Alicia Clark. Gutmeinende Freunde, Medien, Ärzte und Selbsthilfeexperten rieten Betroffenen häufig, ihre Gefühle zu bekämpfen und sich von ihren Anspannungen zu befreien. „Die Botschaft, die wir hören, ist laut und deutlich: Wir müssen die Angst verschwinden lassen.“

Aber was, fragt Clark in ihrem Buch Hack Your Anxiety, wenn wir mit einer fehlerhaften Prämisse arbeiten? Was ist, wenn die Angst kein Feind ist, der bezähmt werden muss, sondern eine Ressource, die erschlossen werden kann? Die Therapeutin wirbt für eine Perspektive, die Angst als etwas Wertvolles und Nützliches versteht. Im Laufe ihrer Arbeit mit Patienten, Führungskräften, Studenten und Eltern sei ihr klargeworden, dass dieses Gefühl ein effizientes Werkzeug für Wachstum sein könne. So liefere Angst häufig wichtige Informationen und sie motiviere dazu, das Heft in die Hand zu nehmen, schreibt Clark: „Wenn wir unseren Blick öffnen, werden wir feststellen, dass Angst oft entsteht, weil etwas für uns Wichtiges gefährdet ist und geschützt werden muss. Wenn man weiß, wie, dann kann Angst als positive Kraft für Veränderung genutzt werden.“

Verschiedene Arten von Angst

Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Natürlich gibt es Formen von Angst, die alles andere als förderlich sind. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde haben in Deutschland rund zwölf Millionen Menschen – 21 Prozent der Frauen und 9 Prozent der Männer – eine Angsterkrankung, etwa Panikattacken, generalisierte Ängste oder eine der diversen Spielarten von Phobien. Die Betroffenen meiden oft bestimmte Situationen im Alltag, die die Angst hervorlocken könnten. Sie ziehen sich immer mehr zurück; im Extremfall wagen sie sich kaum noch aus dem Haus. Wer unter solchen Symptomen leidet, sollte sich nicht scheuen, einen Arzt oder Therapeuten aufzusuchen.

„Schwere Ängste können äußerst lähmend und schwächend sein“, das räumt auch Alicia Clark, die als Psychotherapeutin häufig mit Angsterkrankungen zu tun hat, unumwunden ein. Aber viele Menschen erlebten Angst auf moderaterem Niveau. Und für die könne sie eine sehr hilfreiche Emotion sein, „wenn man offen ist, sie anzunehmen und sie in einen neuen Kontext zu stellen“.

Auch die Motivationsexpertin Juliane Strack dos Santos Gonçalves betont, Angst habe zu Unrecht einen so schlechten Ruf. Die Psychologin, die momentan an der Klinik Nordfriesland in Sankt Peter-Ording arbeitet (Hamm-Kliniken), hat die positiven Seiten von Angst wissenschaftlich erforscht. „Angst ist ein Gefühl, das unglaublich viel Energie freisetzt. Aus evolutionärer Sicht ist diese Emotion überlebenswichtig. Dennoch wird Angst mit etwas Negativem assoziiert, weil wir sie als aversiv und unkontrollierbar erleben. Wir versuchen, sie zu vermeiden, wodurch die Angst in der Regel noch größer wird. Es entsteht die Angst vor der Angst‘, wie es sich dann letztlich auch bei den Angststörungen manifestiert.“ Doch wenn man es schafft, der Angst nicht auszuweichen, dann kann sie zu einer anspornenden Ressource werden. Juliane Strack spricht von anxiety motivation, von „angstinduzierter Motivation“.

Genauer hinschauen

Die motivierende Wirkung setzt an zwei Punkten an. Erstens, so erläutert Strack, weisen uns negative Gefühle wie Angst und Furcht darauf hin, dass in einem Bereich, der uns wichtig ist, Probleme oder Bedrohungen lauern. Ängste können beispielsweise anzeigen, dass wir im Hinblick auf ein Ziel nicht so schnell Fortschritte machen, wie es nötig wäre. Man denke an einen lernfaulen Studenten, der gegen Ende des Semesters mit wachsendem Schrecken beobachtet, wie seine Kommilitonen eloquent über komplizierte Theorien diskutieren, während er immer noch die grundlegenden Definitionen durcheinanderbringt – und sich daraufhin auf den Hosenboden setzt. Zudem kann das unangenehme Gefühl selbstkritisches Denken auslösen und helfen, aus Fehlern zu lernen: „Im nächsten Semester schließe ich mich frühzeitig einer Lerngruppe an.“

Angst kann Menschen auch dazu veranlassen, Informationen sorgfältiger zu analysieren und mehr auf Details zu achten – und so bessere Entscheidungen zu treffen. So ging es beispielsweise Cecilia, der Kommunikationsfachfrau, die – wie eingangs ge­schildert – Angst hatte, die Familie durch einen berufsbedingten Umzug zu belasten. Mithilfe ihrer Therapeutin Alicia Clark schaute sie sich ihre Befürchtungen genauer an. Was letztlich herauskam, schreibt die Therapeutin, hatte weniger mit der Familie zu tun als mit der Arbeit selbst: Cecilia mochte das Prestige und den Karriereaufstieg, die der neue Job versprach, hatte jedoch große Zweifel, ob sie mit dem potenziellen Chef und den neuen Teamkollegen klarkommen würde – und das ängstigte sie. „Am Ende schlug sie das Jobangebot aus“, so Clark, „und was noch wichtiger war: Sie stand hinter ihrer Entscheidung. Dazu war es nötig, der Angst genau zuzu­hören und nicht etwa zu versuchen, sie abzuschalten.“

Erregung, die die Leistung steigert

Die zweite motivationsfördernde Eigenschaft von Angst: Sie wirkt wie Treibstoff, der Körper und Geist auf Hochtouren laufen lässt. Evolutionsgeschichtlich ist Angst als Schutzmechanismus entstanden, der sicherstellt, dass man in Gefahrensituationen adäquat reagieren kann. Als solcher löst sie im Körper eine ganze Kaskade von physiologischen und chemischen Reaktionen aus: Die Hormone Kortisol und Adrenalin werden ausgestoßen, Puls und Blutdruck steigen an, das Blut versorgt Körper und Gehirn mit einer Extradosis Sauerstoff, die Konzentration nimmt zu und die Sinne schärfen sich.

Die physische und mentale Erregung, die Angst hervorruft, macht uns leistungsfähiger und bewirkt, dass wir auch emotional nicht so schnell erschöpft sind, erläutert Strack. Viele Leute kennen das: Man geht in ein Jobinterview und die Angst, es zu vermasseln, treibt einen zu Höchstleistungen an. Oder der Tennisstar steht kurz davor, gegen den Underdog zu verlieren – und plötzlich setzt die Aussicht, sich zu blamieren, beim Favoriten bislang fehlenden Fokus und Elan frei.

Das optimale Quantum Aufruhr

Angst kann ihre positiven Wirkungen allerdings nur unter bestimmten Bedingungen entfalten. So darf die Emotion nicht zu stark werden, sonst schlägt ihr motivationsfördernder Effekt sogar in das Gegenteil um. Nach dem sogenannten Yerkes-Dodson-Gesetz steigt mit zunehmender Erregung die Leistung zwar an; dies gilt aber nur bis zu einem bestimmten Sattelpunkt, und dann kippt die Kurve: Wird die angstinduzierte Erregung zu stark, wirkt sich das negativ auf die Leistungsfähigkeit aus. Das kann sich beispielsweise darin äußern, dass ein übermäßig nervöser Fußballer einen spielentscheidenden Elfmeter weit über das Tor schießt oder eine Examenskandidatin, die in Panik gerät, sich an das Gelernte nicht mehr erinnern kann. Auch ihre wichtige Signalfunktion verliert die Angst, sobald sie zu exzessiv wird, denn dann erlaubt sie es kaum noch, ihren Informationsgehalt zu entschlüsseln. „Solch eine schreiende Angst“, so Clark, „verdrängt alle anderen Gedanken. Man kann nur noch daran denken, wie verängstigt oder panisch man ist.“

Eine zweite Bedingung dafür, dass Angst motivierend wirken kann, ist eng mit der ersten verbunden: Die eigene Einstellung muss stimmen. „Die Evolution hat uns eigentlich gelehrt, Angst und angstauslösende Situationen zu vermeiden“, erläutert Strack. „Deswegen ist es umso wichtiger, das Gefühl als hilfreich zu betrachten und auch die körperlichen Angstsymptome nicht als überwältigend und unkontrollierbar, sondern als energiespendend zu bewerten. Wir können Angst regulieren, wir können sie vor allem kanalisieren und wir sind ihr nicht hilflos ausgeliefert.“

Wenn man glaubt, Angst sei schädlich, ergänzt Therapeutin Clark, entwickelt man immer mehr Furcht vor ihr und ihre Macht steigt exponentiell an. „Angst kann sich in der Tat anfühlen wie eine Bestie, die einen zermürbt. Aber diese Erschöpfung ist weniger das Resultat der Angst selbst, sondern entsteht eher, weil man so viel Energie darauf verwendet, sie zu bekämpfen. Wenn man seine Einstellung ändert, vermag das Kräfte freizusetzen. Man spart dann die Energie ein, die man bislang für die Gegenwehr eingesetzt hat, und kann die Angst [sogar] als eine Quelle von Produktivität und Wachstum nutzen.“

Zwei missbilligend dreinblickende Juroren

Wie wichtig die eigene Haltung ist, zeigt die empirische Forschung. In einer Studie befragten Juliane Strack und ihr Kollege Francisco Esteves knapp einhundert Studenten vor einem Examen, inwieweit sie ihre Angst als energiespendend und konzentrationssteigernd empfänden. Es zeigte sich, dass jene Teilnehmer, die ihre Stressgefühle als förderlich interpretierten, bessere Noten erzielten und nach der Prüfung auch weniger emotional erschöpft waren als Kommilitonen, die ihre Ängste als wenig hilfreich ansahen. Der Mechanismus: Studenten, die ihre Angst als dienlich ansahen, bewerteten den Stress vor der Prüfung nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung, die es zu bewältigen galt. „Damit einher ging die Überzeugung“, so Strack, „dass man durch größeren Einsatz diese Herausforderung bewältigen kann.“ Überraschend sei gewesen, erläutert die Forscherin, dass diese positive Wirkung selbst bei Teilnehmern auftrat, die unter relativ großer Angst litten, aber diese für sich nutzen konnten.

In einer anderen Studie unterzogen der Psychologe Jeremy Jamieson von der Universität Rochester und sein Team 69 Probanden einem fiesen Stresstest, wie er in psychologischen Experimenten gerne eingesetzt wird: Die Teilnehmer mussten einen fünfminütigen Vortrag halten und danach mehrere Minuten lang Kopfrechenübungen machen – vor den Augen von zwei missbilligend dreinblickenden Juroren. Der Clou: Eine Gruppe hatte zuvor ausführliche Informationen darüber erhalten, dass die körperliche Erregung in stressigen Situationen nicht schädlich sei, und war aufgefordert worden, Symptome wie starkes Herzklopfen und ein mulmiges Gefühl in der Magengegend sogar als nützlich anzusehen. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe gingen ohne solche Instruktionen in den Test.

Eine Frage der Einstellung

Das Resultat: Diejenigen Teilnehmer, die gelernt hatten, Angstsymptome positiv zu deuten, überstanden die Belastungsprobe deutlich besser als die Kontrollgruppe. Sie fühlten sich subjektiv der Situation eher gewachsen und sie kümmerten sich weniger um die negativen Reaktionen der Juroren. Auch ihre physio­logischen Kennwerte signalisierten ein geringeres Ausmaß an Stress. Nachfolgende Studien brachten weitere vorteilhafte Wirkungen zutage: Wer positiv über Stresssymptome dachte, zeigte sich tendenziell gegenüber den Juroren offener und wirkte insgesamt weniger verlegen. Mehr noch: Die Qualität des Vortrages und die Leistung im Rechentest verbesserten sich und nach der Anstrengung trat schneller eine Erholung ein.

Wie sollte man vorgehen, um sich die nützliche Seite dieses so unangenehmen Gefühls Angst zu erschließen? Experten heben insbesondere vier Aspekte hervor:

WahrnehmungDer erste wichtige Schritt, erläutert Therapeutin Clark, bestehe darin, Angst als solche zu erkennen, „was nicht immer leicht ist“. So komme die Emotion individuell unterschiedlich und in vielfältiger Form daher. Sie könne sich beispielsweise als Prokrastination, also als fortwährendes Aufschieben wichtiger Aufgaben, oder als Rückzugsverhalten maskieren oder sich hinter anderen Gefühlen wie Neid und Antipathien gegenüber bestimmten Menschen verstecken. Forscherin Strack bestätigt, wie wichtig es ist, die Angst auch als Angst wahrzunehmen: „Wir nennen das clarity of feelings. In meinen Studien sahen wir, dass Menschen mit einer guten Wahrnehmung der eigenen Gefühle Angst besonders gut als Motivation nutzen können.“ Ganz simpel seine Neugier zu aktivieren und genau darauf zu achten, wann und wie man Angst erlebt, kann laut Clark schon dabei helfen, emotional klarer zu sehen. Ebenfalls nützlich: die eigenen Gefühle in Worte fassen, entweder indem man mit jemandem über sie spricht oder indem man sie zu Papier bringt.

Intensität regulieren: Allein die Angst als solche zu benennen, so Clark, führe oft schon dazu, dass sich ihre Intensität reduziert. „Seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen schafft Entlastung und Distanz.“ Fühlt sich die Angst weiterhin überwältigend an, sollte man versuchen, irrationale Befürchtungen („Ich werde hundertfünzigprozentig scheitern“) von realistischen Bedrohungen („Wenn ich das Projekt nicht rechtzeitig fertigstelle, wird mein Chef ärgerlich sein“) zu trennen. Auch entspannende Techniken wie Yoga, Dankbarkeitsübungen, Achtsamkeits- und Meditationspraktiken oder sportliche Aktivitäten, die einem Spaß machen, können laut Clark hilfreich sein, um Angst auf ein kontrollierbares Niveau zu schrumpfen.

Angst reinterpretieren: Wie die Teilnehmer in J­amiesons Studie sollte man sich in – oder noch besser vor – einer angsteinflößenden Situation klarmachen, dass die mentale und physische Erregung, die man spürt, nicht schädlich ist, sondern einem sogar mehr Motivation, Ausdauer und Konzentration verleiht. Bei der Neubewertung sei Sprache ein wichtiges Werkzeug, betont Clark. Den Satz „Ich sorge mich wegen XY“ solle man beispielsweise durch die Formulierung „XY ist mir wichtig“ ersetzen. Aus dem Satz „Ich habe Angst, ich kann XY nicht“ könne man machen: „Ich werde einen Weg finden, um mir XY anzueignen.“

Botschaft entschlüsseln: Um das „Warum“ hinter der Angst zu entschlüsseln, sind folgende Fragen hilfreich: Was würde es für mich, was für meine Ziele bedeuten, wenn eine Situation, die ich fürchte, eintreten würde? Wenn ich an Situationen denke, die mir Angst machen: Inwieweit bin ich mit widersprüchlichen Wünschen, in Konflikt stehenden Interessen oder der Wahl zwischen zwei schlechten Optionen konfrontiert? In welchen Bereichen fühle ich mich gefangen oder ohne Kontrolle? Inwieweit verhalte ich mich inkonsistent; wo ist mein Leben nicht stimmig? Weitere hilfreiche Ansatzpunkte sind laut Clark die „wunden Punkte“, also Themen, auf die man wie automatisch überreagiert. Diese wunden Punkte könnten Hinweise auf Ängste liefern, die aus der Vergangenheit kommen. Die Kritik des Ehepartners erinnert einen vielleicht an die missbilligenden Bemerkungen, die früher die Mutter dem Vater gegenüber immer machte. Oder ein Kollege fordert einen auf die gleiche Weise heraus, wie man es in seiner Kindheit mit einem Schulkameraden erlebt hat. Ebenfalls genau anschauen sollte man sich sehr intensive Gefühle, die möglicherweise die Angst überlagern. Beispielsweise wird eskalierende Wut oft aus der Furcht gespeist, eine Situation nicht bewältigen zu können.

Wir wissen, was wir tun sollten

Doch nach alldem sollte der wahrscheinlich wichtigste Schritt folgen: aktiv werden. „Letztlich besteht die Aufgabe der Angst darin“, erläutert Clark, „einen so lange zu plagen, bis man in Aktion tritt.“ Bei vielen Menschen liefere schon der Prozess des Analysierens und Entschlüsselns Ansatzpunkte für Lösungen. „Oft wissen wir intuitiv, was wir tun sollten.“ Allerdings müsse man darauf gefasst sein, warnt die Therapeutin, dass Lösungen, die besonders naheliegend erscheinen, auch besonders viel Widerwillen und Furcht hervorrufen. Es sei sinnvoll, sich diese Optionen genau anzusehen, denn sie signalisierten oft etwas, das einem besonders wichtig ist. Auf der anderen Seite, betont Clark, sollte man nur Lösungen in Betracht ziehen, die man unter Kontrolle hat und tatsächlich umsetzen kann.

Worin diese Optionen, inneren Widerstände und Lösungen im Umgang mit Angst bestehen können, zeigt das Beispiel der sechzigjährigen Catherine. Die Unternehmensberaterin suchte Clark auf, weil sie sich in einer Zwickmühle fühlte: Sie hatte ständig das Gefühl, ihre Bedürfnisse kämen in ihrem Leben zu kurz. Gleichzeitig traute sie sich nicht, sich selbst etwas zu gönnen und ihre Wünsche vor anderen zu verteidigen, weil sie Angst hatte, negativ beurteilt zu werden. Diese Hemmung machte sich in einem für sie quälenden und peinlichen Neid Luft: Sie missgönnte es ihrem Mann, ihren Kollegen und Freunden, wenn diese einfach oft taten, was ihnen Freude bereitete.

Attraktive, realistische Beschäftigungen

Mit der Hilfe von Clark fand Catherine einen Weg, mit ihrem ängstlichen Neid umzugehen. Es stellte sich heraus, dass eine Quelle ihrer Unzufriedenheit ihr alternder Körper war, der es ihr nicht mehr erlaubte, ihren aktiven Lebensstil von früher zu pflegen – aber die Vorstellung, etwas anderes auszuprobieren, ängstigte sie. Dennoch wünschte sie sich, was andere hatten: befriedigende und abwechslungsreiche Aktivitäten. Clark forderte sie auf, zu überlegen, wie sie dennoch ihr Leben mehr genießen könnte – trotz der körperlichen Restriktionen, trotz ihrer Angst vor Kritik. Ein entscheidender Schritt bestand darin, eine Liste von für sie attraktiven, aber dennoch realistischen Aktivitäten zu entwickeln, die sie ausprobieren wollte.

Heute, so Clark, engagiere sich Catherine in mehreren Ehrenämtern, genieße Yoga und gehe auf Reisen. Sie sei geerdet, fühle sich zufriedener und ihr Neid sei abgeflaut. Mehr noch: „Sie hat erkannt, wie belebend Herausforderungen sein können, wenn sie persönlicher Neugier und Leidenschaft entspringen. Und so geht sie kalkulierte Risiken ein, was ihr erlaubt, ihre Angst auf positive Weise zu kanalisieren und sich mit ihrer Hilfe sogar weiterzuentwickeln.“

Angststörungen

Angst, auch intensive Angst, ist eine normale und wichtige Emotion. Zur Störung wird sie dann, wenn sie sich maßlos ausdehnt und das ganze Leben beeinträchtigt

Spezifische Phobien

Angst vor Dingen wie Blut, Spinnen, Blitzen oder Situationen wie Flügen oder Zahnarztbesuchen ist weit verbreitet. Von einer Phobie spricht man erst dann, wenn die Furcht sehr stark ist und die entsprechende Situation panisch gemieden wird.

Agoraphobie

Heftige Furcht kommt hier in Situationen auf, in denen eine Flucht schwierig ist, etwa auf einem offenen Platz, im Fahrstuhl, im Bus, im Kino, in einer Menschenmenge.

Soziale Angststörung

Menschen mit Sozialangst reagieren panisch in Situationen, in denen sie sich vor anderen blamieren könnten, etwa indem sie bei einer Rede den Faden verlieren, in der Öffentlichkeit erröten oder sich beim Essen verschlucken. Sie vermeiden es beispielsweise, in einer Diskussion das Wort zu ergreifen oder jemand eine Verabredung vorzuschlagen.

Generalisierte Angststörung

Hier dehnt sich die Angst auf praktisch alles aus. Die Betreffenden machen sich übertriebene Sorgen und grübeln in furchtsamer Erwartung, was alles schiefgehen könnte. Sie fühlen sich ständig gestresst, angespannt, ruhelos, müde, reizbar.

Panikstörung

Diese Menschen werden von Panikattacken heimgesucht, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und von heftigen körperlichen Reaktionen wie Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern, Kurzatmigkeit oder Schwindel begleitet werden. Bisweilen empfinden sie dann Todesangst. Aus Angst vor der Panik gehen sie im Extremfall nicht mehr aus dem Haus.

Posttraumatische Belastungsstörung

Nach einem lebensbedrohlichen Ereignis wie einem Unfall oder einer Vergewaltigung werden die Betroffenen mitten im Alltag von panikbesetzten Fetzen der Erinnerung an das Trauma heimgesucht. Sie finden keine Ruhe, sind ständig nervös, fühlen sich wie gelähmt.

Die Diagnostikmanuale listen noch weitere Angststörungen wie Trennungsangst oder Mutismus auf. Die Abgrenzung ist nicht sehr trennscharf, oft leiden Menschen unter mehreren Angststörungen. Auch Zwänge und Depressionen gehen oft mit Angst einher. Psychotherapie hat sich bei Ängsten als sehr wirksam erwiesen.

TSA

Wenn die Angst überschießt

Ein mittleres Quantum Angst wirkt oft anspornend. Doch wenn sie überhandnimmt, ist es ratsam, sie zu dämpfen. Die Therapeutin Alicia Clark nennt in ihrem Buch Hack Your Anxiety sieben Zugänge

1. Seien Sie nachsichtiger mit sich

Angst lässt sich nicht niederkämpfen oder bezwingen. „Ja, man muss sich der Angst stellen und sie aushalten, um sie zu verstehen“, schreibt Clark. „Aber das kann nicht gewaltsam geschehen. Es ist keine Frage des Willens. Es ist eine Frage von Mitgefühl und Mut.“ Sanfter, geduldiger, empathischer mit sich selbst umzugehen sei nicht mit Nachlässigkeit zu verwechseln. Wenn Sie sich also festgefahren fühlen: Verringern Sie Ihre Anstrengung. Lassen Sie los.

2. Fühlen und zeigen Sie Dankbarkeit

Gemeint ist hier etwas Umfassenderes als das flüchtige Das-ist-aber-nett-von-dir-Gefühl. Der Forscher Robert Emmons beschreibt Dankbarkeit als die Selbstbekräftigung, dass es in der Welt um uns herum Güte gibt. „Dankbarkeit“, so Alicia Clark, „hilft uns zu erkennen, dass wir von anderen unterstützt und bestätigt werden, und sie unterstreicht ein Gefühl von Verbundenheit, das uns stärkt.“ Wer sich gestützt, getragen, geborgen fühlt, den schwemmt die Angst nicht so leicht fort.

3. Beobachten Sie

Konzentrieren Sie sich auf Ihre unmittelbare Umgebung. Betrachten Sie die Struktur der Tischplatte vor Ihnen, die Textur des Teppichs, das Spiel des vom Fenster einfallenden Lichts. Die akribische Beschäftigung mit solchen konkreten Dingen absorbiert den Geist und durchbricht die Gedankenschleifen der Angst. Clark empfiehlt eine solche „Erdung“ (grounding) des Bewusstseinsstroms besonders bei Panikattacken.

4. Laden Sie heitere Gedanken ein

„Sie können sich zwar nicht selbst anweisen, ein bestimmtes Gefühl zu haben“, schreibt der Neurobiologe Richard Davidson, „aber Sie können sich gewissermaßen an eine Emotion heranschleichen, nämlich über Ihre Gedanken.“ Die Schaltkreise für Emotionen und Gedanken sind im Gehirn vielfach miteinander verschränkt. Indem Sie an etwas Angenehmes denken oder Ihre Aufmerksamkeit auf etwas Schönes richten, beeinflussen Sie indirekt Ihre Stimmung.

5. Atmen Sie ruhig

Sind wir im Stress, atmen wir kurz und abgehackt. Wenn Sie die Atmung bewusst entschleunigen und tief in Richtung Bauch atmen, aktiviert dies das parasympathische Nervensystem, was automatisch die körperliche Stressreaktion dämpft. Durch die Nase drei bis vier Sekunden einatmen, zwei Sekunden halten, durch den Mund bis zu acht Sekunden lang ausatmen.

6. Beruhigen Sie Ihren Körper,…

…um Ihren Geist zu beruhigen. Und beruhigen Sie Ihren Geist, um Ihren Körper zu beruhigen. Um den Körper auf Ruhe zu schalten, empfiehlt Clark Yoga, Biofeedback oder progressive Muskelentspannung. Aber auch Sauna, ein heißes Bad, eine Massage haben einen ähnlichen Effekt. Achtsamkeitsübungen und Meditation setzen an der anderen Seite der Leib-Seele-Achse an.

7. Leben Sie gesund

Alicia Clark empfiehlt „die großen drei“: Sport wirkt unmittelbar stress- und damit angstdämpfend, solange man nicht widerwillig herangeht. Ausreichend Schlaf stärkt nicht nur die Konzentration, sondern auch die Emotionsregulation; im Zustand der Erschöpfung hat die Angst leichteres Spiel. Der Einfluss der Ernährung wird noch erforscht; zu viel Zucker und Alkohol zum Beispiel bringen den Stoffwechsel und damit wohl indirekt auch den Gefühlshaushalt aus dem Lot.

TSA

„Angst verengt den Fokus“

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum denkt darüber nach, wie Angst Demokratien gefährdet – und weshalb es dennoch Hoffnung gibt

In Ihrem jüngsten Buch Königreich der Angst richten Sie Ihren Blick auf die Angst, ein kompliziertes und allgegenwärtiges Gefühl. Ist die Angst eher eine Bedrohung oder eine Ressource?

Aus meiner Sicht ist die Angst eine wichtige Gefühlsregung, die uns wertvolle Informationen liefert, um in einer unsicheren Welt bestehen zu können. Wenn man Ziele verfolgt, andere liebt oder sich selbst schützen will, spürt man ja immer ein Stück weit begleitend Angst, und das ist auch gut so. Das Problem mit der Angst ist jedoch, dass sie uns manchmal vor uns selbst hertreibt. Sie ist entwicklungsbiologisch unser frühestes Gefühl und greift auf unsere primitivsten Hirnstrukturen zurück. Deshalb fasst die Angst Dinge oft völlig falsch auf und wird auch so leicht in den Dienst einer verzerrenden Rhetorik genommen.

Sie schreiben, dass gerade in diesen Zeiten das Leben vieler Menschen in der westlichen Welt von Angst dominiert wird. Wovor haben die Menschen denn Angst?

Ich glaube, dass Angst zu einem Teil immer narzisstisch geprägt ist, sie dreht sich um das Selbst und für das Selbst wichtige Ziele und Projekte. Angst verengt also den Fokus, über andere Menschen und Pläne können wir dann nicht mehr so gut nachdenken. Gerade in unseren Zeiten starker wirtschaftlicher Veränderungen, etwa durch Outsourcing und Automatisierung, ist die Statusverlustangst also besonders stark ausgeprägt. Hier in den USA ist außerdem auch die Opiatabhängigkeit eine riesige Quelle der Angst, so viele Familien sind davon zerstört worden. Und dann gibt es bei uns große Angst vor Krankheit, weil viele keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz haben. Die Menschen wissen, dass sie ruiniert sind, wenn sie schwer erkranken. Weil all diese Probleme aber komplex und Lösungen für sie nur schwer vorstellbar sind, ist es viel einfacher, diese Angst als Feindseligkeit umzulenken, etwa auf eine wehrlose Minderheit. Ich denke zum Beispiel an Geflüchtete, Migranten, in manchen Fällen auch an Frauen in Männerbranchen.

Es scheint wahnsinnig schwierig zu sein, die eigene Angst wahrzunehmen und zu akzeptieren. Ist Angst ein Tabuthema?

Nein, das glaube ich nicht. Das Internet zum Beispiel ist ja voll von Angst und angsterfüllten Berichten, die in keiner Weise gefiltert sind durch rationale Überlegungen. Vielleicht ist derzeit eher das rationale Nachdenken ein Tabu. Es ist aber definitiv leichter, Angst vor konkret vorstellbaren Individuen wie Migranten zu haben als vor generellen und eher unklaren Bedrohungen. Aber natürlich wird die Angst vor Migranten noch angefacht durch verantwortungslose politische Rhetorik.

In Autokratien ist die Angst nach wie vor ein wichtiges politisches Steuerungsinstrument. Für Demokratien ist Angst allerdings eher bedrohlich, weil sie destabilisierend wirken kann. Wie sollte man der Angst in einer Demokratie begegnen?

Ein Weg wäre, die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Ich halte das Verfassungsrecht für eine sehr sinnvolle Sache: Wenn Richter das Recht haben, Rechtsprechungen abzuschmettern, welche die Rechte von Minderheiten beschränken, schützt das die Minderheiten vor dieser emotionalen Herdenpanik.

Wenn wir anerkennen, dass die Angst oft ein bestimmendes Motiv hinter extremistischen Ansichten ist, ist es dann sinnvoll, mit den Betreffenden ins Gespräch zu kommen oder sogar Empathie zu entwickeln?

Es ist natürlich möglich, Anlässe für ernsthafte und respektvolle Begegnungen zwischen verschiedenen Gruppen zu arrangieren. An meiner Universität habe ich sehr hart dafür gearbeitet. Aber es wird schwieriger, weil die Menschen auf beiden Seiten hysterisch sind: Sie fürchten um ihre wichtigsten Werte und dämonisieren dann diejenigen, die anders denken. Es ist zudem kompliziert zu entscheiden, wo genau die rote Linie ist, hinter der eine Diskussion zur Aufwertung eines inakzeptablen Standpunkts führen würde. Eine rationale Debatte mit Nazis, Rassisten oder hate groups zu führen würde bedeuten, ihnen zu viel Respekt zu erweisen. Dennoch gibt es ein großes politisches Spektrum, innerhalb dessen wir uns respektvoll bewegen können und sollten. Aber wir tun es oft nicht. Auch dahinter steckt natürlich Angst.

Kann Angst denn auch eine positive und konstruktive Emotion sein, im Sinne eines Ansporns für produktive Entwicklungen und Veränderungen?

Sicherlich. Die Angst davor, die Demokratie zu verlieren, kann uns zum Beispiel helfen, gut darüber nachzudenken, wie wir sie bewahren können. Gleichzeitig kann diese Angst aber auch dazu führen, hysterisch zu denken und zu handeln. Die Angst an sich muss also immer genau angeschaut werden.

Was kann jeder von uns tun, um angesichts einer unsicheren Zukunft weniger Angst zu spüren?

Die Geisteswissenschaften studieren! Das meine ich wirklich ernst, egal ob wir die Geisteswissenschaften nun formal studieren oder nicht. Kritisches Denken praktizieren, philosophische Ideen über Gerechtigkeit analysieren, aus der Geschichte lernen, all das hilft uns. Auch Erlebnisse in den Künsten, ob nun als Zuschauer oder als Mitwirkender, sind wichtig, um innere Balance und Selbsterkenntnis zu erlangen. Sogar die Arbeit für eine politische Kampagne kann dazu beitragen, sich weniger ohnmächtig zu fühlen. Oder Religion! Schon Kant hat gesagt, dass das Mitwirken an einer religiösen Gruppierung – vorausgesetzt, dass diese nicht hasserfüllt ist, sondern Botschaften der Liebe und Gemeinschaft verbreitet – unsere Fähigkeit stärkt, in stressigen Zeiten unsere guten Prinzipien aufrechtzuhalten.

INTERVIEW: ANNE-EV USTORF

Martha Nussbaum ist Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. In ihrem jüngsten Buch Königreich der Angst beschäftigt sie sich mit dem anschwellenden Gefühl von Machtlosigkeit und seinen politischen Folgen

Zum Weiterlesen

Martha Nussbaum: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Wbg Theiss, Darmstadt 2019

Quellen

M. Beltzer u.a.: Rethinking butterflies: The affective, physiological, and performance effects of reappraising arousal during social evaluation. Emotion, 14/4, 2014, 761–768. DOI:10.1037/a0036326

Alicia Clark: Hack your anxiety. How to make anxiety work for you in life, love, and all that you do. Sourcebooks, Naperville 2018

J. Strack, F. Esteves: Exams? Why worry? Interpreting anxiety as facilitative and stress appraisals. Anxiety, Stress & Coping, 28/2, 2015, 205–214. DOI: 10.1080/10615806.2014.931942

J. Strack u.a.: Must we suffer to succeed? When anxiety boosts motivation and performance. Journal of Individual Differences, 38/2, 2017, 113–124. DOI:10.1027/1614-0001/a000228

J. Strack, P. N. Lopes, F. Esteves: Will you thrive under pressure or burn out? Linking anxiety motivation and emotional exhaustion. Cognition and Emotion, 29/4, 2015, 578–591. DOI:10.1080/02699931.2014.922934

J. Jamieson u.a.: Improving acute stress responses: The power of reappraisal. Current Directions in Psychological Science, 22/1, 2013, 51–56. DOI:10.1177/0963721412461500

J. Jamieson u.a.: Changing the conceptualization of stress in social anxiety disorder: Affective and physiological consequences. Clinical Psychological Science, 1/4, 2013, 363–374. DOI:10.1177/2167702613482119

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst