Kurioser Schlaf

Der Neurologe Guy Leschziner zeigt in seinem Buch eindrucksvoll, wie aktiv nachts unser Gehirn ist und wie es den Schlaf beeinflusst.

John war schon über achtzig, voll berufstätig, erfolgreich und modisch gekleidet. Tagsüber verhielt er sich sanft und rücksichtvoll. Doch sobald er schlief, musste seine Frau vor ihm auf der Hut sein. Einmal wälzte er sich auf sie, packte ihren Arm und grub seine Fingernägel ganz fest hinein. Oft wurden seine wilden Bewegungen von einem unmenschlichen Heulton begleitet. Seine Frau wachte so oft mit blauen Flecken oder Kratzern auf, dass die beiden schließlich in getrennten Betten schliefen.

Der aktive Senior litt unter wilden Albträumen, in denen er mit Raubtieren rang. Doch vor allem hatte er eine seltene Störung mit der Abkürzung RBD (REM sleep behavior disorder – REM-Schlaf-Verhaltensstörung). Diese Schlafstörung hob die Muskelhemmung auf, die normalerweise dafür sorgt, dass wir Kampfhandlungen und andere Aktivitäten in Träumen nicht körperlich ausleben. Offenbar lagern sich bei der RBD schädliche Eiweiße in einer Gehirnregion ab, die sonst beim Träumen die Muskeln blockiert. Da die gleichen Ablagerungen in einem Hirngebiet Parkinson und eine bestimmte Demenzform auslösen können, ist RBD oft ein Vorbote dieser Krankheiten.

Der Neurologe Guy Leschziner erzählt in seinem spannend geschriebenen Buch viele solcher Fälle und Hintergründe von seltenen Erkrankungen, die irgendwie mit dem Schlaf oder dessen Abwesenheit zusammenhängen. Manche treten häufig auf, wie die Insomnie (Einschlaf- und Durchschlafstörung) oder das Restless-Legs-Syndrom, bei dem sich die Beine nachts von allein bewegen. Andere, oft bizarre Störungen sehen selbst Schlafexperten wie Leschziner nur sehr selten – zumindest in ihren Extremformen.

Evelyn beispielsweise wachte fast jede Nacht nach etwa einer Stunde Schlaf auf und wurde von entsetzlichen Halluzinationen heimgesucht. Deswegen kämpfte sie gegen das Einschlafen, fühlte sich darum auch tagsüber müde, aber am Ende holten sie die Visionen doch ein. Sie war ein Opfer der Schlaflähmung, das heißt, sie wachte aus dem REM-Schlaf auf, aber nicht vollständig. Die Traumvisionen gingen weiter und auch die Lähmung der Muskeln dauerte an, so dass sie ihren ängstigenden Fantasien wehrlos ausgeliefert war.

Umgekehrt haben andere Patienten im Schlaf keineswegs Probleme, sich zu bewegen. Eine Frau fuhr nachts Motorrad, und zwar nicht im Traum, sondern ganz real. Doch sie erinnerte sich an nichts, als ihre Vermieterin sich am Morgen nach dem Trip in die Dunkelheit erkundigte.

Die Fallgeschichten fungieren keineswegs einfach als unterhaltsames Kuriositätenkabinett. Leschziner veranschaulicht durch sie, wie der Schlaf funktioniert – oder auch nicht. Wir lernen, dass wir auch im Nicht-REM-Schlaf träumen, aber anders. Und Leschziner verrät, warum Blinde seltener an Brustkrebs erkranken als andere. Vor allem räumt er mit der Vorstellung auf, dass das Gehirn nur im Wachzustand aktiv sei. Weite Teile arbeiten auch im Schlaf – manchmal allerdings nicht wie vorgesehen.

Guy Leschziner: Nachtaktiv. Albträume, das Gehirn und die verborgene Welt des Schlafs. Aus dem Englischen von Wolfgang Seidel. Beltz, Weinheim 2019, 327 S., € 22,95

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2020: Wer bin ich noch?
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