Wilde Gerüchte über das Impfen

Ob genügend Menschen gegen Covid-19 geimpft werden, hängt auch von Mythen ab, die weltweit im Umlauf sind, sagt die Anthropologin Heidi Larson.

Frau Larson, Sie erforschen in dem von Ihnen gegründeten Vaccine Confidence Project seit Jahren Impfmythen oder Gerüchte über Impfungen. Was ist ein „Gerücht“?

Ein Gerücht entsteht, wenn eine Information beginnt, sich auszubreiten. Sie kann richtig oder falsch sein. Menschen, die ein Gerücht erstmals hören, wissen oft nicht, ob es richtig oder falsch ist. Wie im Fall von Covid-19 kann ein Impfmythos mit der Information beginnen, dass es ein neues Virus und eine neuartige Erkrankung gibt. Speziell in der Situation von Covid-19 wusste die Wissenschaft vieles noch nicht. In dieser Phase ist oft schwer zu erkennen, ob ein Sachverhalt eine Desinformation ist. Die Zusammenhänge werden ja erst erforscht. Das macht die Sache bei Covid-19 kompliziert, anders als im Fall der bewährten, gängigen Impfungen, die Kinder heute erhalten. Hierfür gibt es kontrollierte Studien aus vielen Jahren und richtige Inhalte lassen sich sehr klar von Desinformation unterscheiden.  

Wenn Menschen Informationen weitergeben, sind sie oft überzeugt, dass ihre Aussagen stimmen, auch wenn der Inhalt noch unvollständig ist. Andere streuen absichtlich falsche Geschichten, häufig mit dem Ziel, Angst zu schüren und Zweifel zu wecken oder auch falsche Hoffnungen. Einige Impfgerüchte sind politisch getrieben. Sie werden verbreitet mit dem Ziel, die politische Meinung der Menschen zu beeinflussen. Entscheidend ist, ob Frauen und Männer an die Gerüchte glauben, und das hängt davon ab, wem sie vertrauen. Manchmal sind es wichtige Personen aus religiösen Communitys, aber auch die Familie und das Netzwerk aus Freunden oder Bekannten. Nicht die Fakten sind entscheidend, sondern der Glaube.

Wie genau gelangt ein Impfmythos in die Welt?

Ein Beispiel sind die in den 1990er-Jahren entstandenen Gerüchte um die Tetanusimpfung und vermeintlich dadurch ausgelöste Unfruchtbarkeit bei Frauen. Ausgangspunkt war ein falsch interpretiertes Forschungspapier. Darin ging es um Überlegungen zu einer Injektion, die empfängnisverhütend wirken sollte. Daraus entwickelte sich im Zuge der Verbreitung nach und nach die Idee, der Tetanusimpfstoff sei von einem Hormon verunreinigt, das Frauen unfruchtbar mache. Die Geschichte wurde später von einer Katholischen Gemeinde aufgegriffen und in viele Länder weiterverbreitet.

Welches ist das einflussreichste Impfgerücht, von dem Sie gehört haben, und worum geht es dabei?

Es sind zwei. Das erste: Im Norden Nigerias kam es in den 2000er Jahren zu einem Boykott der Impfungen gegen Polio, also Kinderlähmung, der elf Monate dauerte. Und das zu einer Zeit, in der sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gerade auf Nigeria richtete, weil das Poliovirus hier noch kursierte, während in anderen Ländern schon Fortschritte erzielt worden waren. In diesem Gerücht wurde verbreitet, dass im Westen produzierte Impfstoffe gegen Polioviren die Kinder unfruchtbar machten. Das war es aber nicht, was mich so schockierte. Die Angst, dass Impfungen unfruchtbar machen, ist eines der ältesten Impfgerüchte der Welt. Was mich wirklich faszinierte, war die Tatsache, dass dieser Mythos so enorme Implikationen für die Bekämpfung der Polioerkrankung hatte und deshalb so besonders schädlich war.

Die Sache war rein politisch getrieben. Zu dieser Zeit hatte ein Kandidat aus dem Norden Nigerias die Präsidentschaftswahlen zugunsten eines Wettbewerbers aus dem Süden des Landes verloren und rief zum Impfboykott auf. Zeitgleich fand ein internationales Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Pharmazeutika gegen Hirnhautentzündung und wegen unethischen Verhaltens des Herstellers statt. Währenddessen starb ein Kind, dessen Tod jedoch nichts damit zu tun hatte, wie sich später herausstellte. In dieser Gemengelage von Ereignissen, die zufällig zur gleichen Zeit passierten, verstärkte sich das ohnehin schon weit verbreitete Misstrauen gegen die Polioimpfungen. Während der elf Monate Boykott konnte sich die nigerianische Variante des Poliovirus aus Nigeria in 20 weitere Länder verbreiten. Die Macht dieses Gerüchts hat mich nachhaltig beeindruckt.

Welches ist das zweite Gerücht?

Das zweite dreht sich um die Masern-Mumps-Röteln-Impfung. Hier handelt es sich auch um ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Der britische Mediziner Andrew Wakefield veröffentlichte 1998 in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift die später zurückgezogene, sehr kleine Studie mit 12 Kindern, in der er zu dem Schluss kam, diese Impfung könne in Verbindung mit dem Auftreten von Autismus stehen. Es stellte sich heraus, dass die Studie methodisch nicht korrekt und in unethischer Weise umgesetzt war. Wakefield war außerdem nicht ehrlich gewesen im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung eines Gerichtsverfahrens, das im Zusammenhang mit seiner Studie stattfand.

Im Normalfall hätte die wissenschaftliche Community die Studie abgelehnt und es wäre nichts weiter passiert. Aber das Studienergebnis verbreitete sich blitzschnell weltweit. Das muss nicht bei jedem Gerücht passieren – man kann etwas erfahren, aber niemand interessiert sich dafür und der Inhalt verbreitet sich nicht. Warum war es hier anders? Wakefield hatte betroffenen Eltern eine Antwort auf eine für sie äußerst wichtige Frage geliefert: Warum ist ihr Kind autistisch? Die Studie suggerierte: Es liegt an der Impfung.

Und worum ging es wirklich?

Der Punkt ist die Koinzidenz: Autismus tritt erstmals in einem Alter auf, in dem Eltern ihre Kinder besonders aufmerksam beobachten, weil sie gerade sprechen und laufen lernen. Und genau in diesem Alter werden Kinder üblicherweise gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft. Folglich können bei Kindern kurz nach einer Impfung autistische Symptome erstmals auftreten. Woraus Wakefield folgerte, es müsse zwischen beiden eine Verbindung geben. Da über die Ursachen von Autismus damals wenig bekannt war, dürsteten Eltern nach einer Antwort auf die Frage, woher die Entwicklungsstörung kommt. In der Folge seiner Studie gingen die Impfraten in Großbritannien und später in den USA, wo Wakefield bis heute lebt, deutlich zurück, und es dauerte viele Jahre, bis sie wieder anstiegen.

Heute weiß man mehr über die mögliche Entstehung von Autismus, aber die Wissenschaft ist gefordert, weitere Antworten zu finden. Es gibt Hinweise auf genetische Faktoren. Eine Zunahme von Fällen gab es bei Kindern, deren Väter älter waren. Aber wir haben noch keine einfachen Antworten. Eine der aktuellen Herausforderungen ist, dass es zwar neue Definitionen und Typen des Autismus gibt. Aber die Menschen wollen in erster Linie wissen, warum es dazu kommt.

Viele glauben immer noch an dieses Gerücht. Andrew Wakefield macht bis heute weiter, obwohl er in Großbritannien und den USA seine ärztliche Legitimation verloren hat. Er hat sich mit Donald Trump verbündet, der ihm zustimmte. Wir werden diesen Impfmythos nur stoppen können, wenn wir eine eindeutige und klare Antwort auf die Frage liefern, was die Ursachen des häufiger werdenden Autismus sind.

Welche neuen Gerüchte gibt es im Zusammenhang mit der Covid-19-Impfung?

Ein Problem ist, dass in vielen Ländern Menschen glauben, dass es das Virus und somit auch die Erkrankung gar nicht gibt. Wenn man das glaubt, hat man auch keinen Anlass, sich impfen zu lassen. Darüber hinaus existieren eine Menge Ängste, Zweifel und Fragen, was die Motive für die Entwicklung der Impfstoffe betrifft: Viele beunruhigt die Schnelligkeit, mit der die Impfstoffe entwickelt und getestet wurden, es ist für sie schwer vorstellbar, dass diese trotzdem sicher sind. Diese Sorge kann ich sehr gut nachempfinden. Bei der Entwicklung wurde aber nicht an der Sicherheit gespart. Einige vermuten, Covid-19 sei eine ganz normale Erkrankung und die Impfstoffe würden von der Pharmaindustrie nur entwickelt, um damit Geld zu verdienen.

Dann sorgt der Begriff mRNA (Messenger RNA) für Verwirrung. Wenn das Wort mRNA fällt, hören die Menschen DNA. Deshalb glauben sie, das Ziel der Impfung sei, dass ihre DNA verändert werde. Sie denken, es gebe nicht mehr nur genmanipulierte Organismen und Lebensmittel (GMO), sondern bald auch genetisch manipulierte Menschen (GMH, gene-manipulated humans). Und etliche denken, sie würden von Bill Gates getrackt und ihnen könnte zwecks Kontrolle ein Chip eingesetzt werden.

Das sind wilde Fantasien.

Ja, aber wir können nicht einfach sagen, das ist verrückt – es ist Realität, dass die Menschen das glauben und wir als Forscherinnen und Forscher haben mit diesen Wahrnehmungen umzugehen. Das zu akzeptieren ist eine große Herausforderung für die Wissenschaft und die Vertreterinnen und Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens: Das sind keine Fakten, aber die Menschen glauben es und wir müssen einen Weg finden, diese Wahrnehmungen zu managen, weil sie die öffentliche Gesundheit beeinflussen.

Welche Faktoren beeinflussen individuelle Impfentscheidungen?

Das sind zum Beispiel religiöse Überzeugungen, aber auch philosophische und naturheilkundliche. Dazu kommen Angst, Unsicherheit und in einigen Ländern mangelndes Vertrauen in die Regierungen und die staatlichen Gesundheitsbehörden. Für die Entwicklung von Impfkampagnen ist es daher am wichtigsten zu wissen, wem die Menschen vertrauen: ihrer Familie, der Politik oder der Wissenschaft? Vertrauen, also die Frage, wem ich glaube, ist ein entscheidender Faktor, wenn es um die individuelle Entscheidung geht, ob ich mich impfen lassen will. Wenn Menschen den staatlichen Behörden nicht trauen und dann beispielsweise einen für sie wichtigen örtlichen Vertreter ihrer religiösen Gemeinschaft fragen und der sagt dann: „Der Impfstoff wird dich unfruchtbar machen, nimm ihn nicht.“ Dann werden sie dieser Person glauben – und sich nicht impfen lassen. Es kann auch sein, dass Menschen den lokalen Ärztinnen und Ärzten sowie Helferinnen und Helfern vertrauen, aber nicht denen der nationalen Institutionen.

Medikamente werden eher akzeptiert, auch wenn sie Nebenwirkungen haben. Was ist das Besondere am Impfen?

Es sind gesunde Menschen, die geimpft werden. Die Krankheiten, gegen die Impfungen schützen sollen, werden nicht als unmittelbare Bedrohung empfunden, eher als eine Möglichkeit, die in der Zukunft liegt. Hingegen bekommen wir Medikamente, wenn wir schon krank sind. In diesem Fall werden die Risiken eher in Kauf genommen und man konzentriert sich auf die Erholung von der Erkrankung.

Tut sich die Wissenschaft mit der Kommunikation des Themas Impfen schwer?

Ja, aber das gilt auch für andere Themen, beispielsweise den Klimawandel. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eine sehr lange Ausbildung auf dem Gebiet, auf dem sie gut sind. Sie sind nicht notwendigerweise die besten Kommunikatorinnen und Kommunikatoren. Manche wollen einfach nur mit ihrer Forschung weiterkommen, andere sind nicht interessiert an öffentlicher Kommunikation. Sie sprechen und leben eine Sprache, die nicht dieselbe ist wie die der breiten Bevölkerung. Manche der Wissenschaftlerinnen können ihre Forschung etwas besser erklären als andere, indem sie ein wenig vereinfachen, ohne zu simplifizieren. Was wir brauchen, ist gute Kommunikation und gute Kommunikatorinnen, etwa in den Pressestellen. Sie helfen, die Bedeutung der wissenschaftlichen Inhalte in eine verständliche Sprache zu übersetzen. Denn manche Leute lesen wissenschaftliche Studien und verstehen von Anfang bis Ende nichts. Andere schauen in die Studien und picken sich ein oder zwei Wörter heraus, die sie beunruhigend finden, und das geht dann viral.

Die Kommunikation von Wissenschaft muss sich immer an der Frage orientieren: Was sind die Implikationen, was bedeutet ein Forschungsergebnis, etwa für die Gesundheit? Es reicht nicht aus, nur die Mechanismen zu erklären. Man muss erläutern, was Forschungsergebnisse bedeuten und warum sie relevant sind.

Wie sollten Wissenschaftler und Gesundheitsbehörden die zwar sehr seltenen, aber manchmal schweren echten Impfschäden kommunizieren?

Zum einen sollten sie das relative Risiko milder Reaktionen auf eine Impfung erläutern. Aber ebenso die ernsten Impfschäden, inklusive der Information, wie selten sie sind. Gleichzeitig sollten sie kommunizieren, welches Risiko man eingeht, wenn man sich nicht impfen lässt. Kurz gesagt: Die Vorteile einer Impfung erklären.

Ihr Buch über Impfmythen ist kurz vor dem Ausbruch des Coronavirus fertig geworden. Sie haben es Stuck genannt, was sowohl „gestochen“ heißt – für den Akt des Impfens –, als auch „festgefahren“. Hätten Sie einen anderen Titel gewählt, wenn sie gewusst hätten, was passiert?

Nun, der Titel ist wichtiger als je zuvor. Was ich mit „Stuck“ meine, ist die Konversation zwischen der Wissenschaft und den staatlichen Gesundheitsbehörden auf der einen, und der Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Diese Kommunikation ist festgefahren. Aber Covid-19 birgt auch die große Chance, aus dieser festgefahrenen Kommunikation herauszukommen. Und wenn wir die Covid-Impfungen richtig machen, dann wird das einen globalen Einfluss auf die weltweiten Bemühungen haben, erfolgreich auch gegen andere Infektionskrankheiten zu impfen.

Was würden Sie einer Person sagen, die Sie um Rat fragt, ob sie sich gegen Covid-19 impfen lassen sollte?

Ich würde ihr sagen: Nimm es (take it), sobald du die Möglichkeit dazu hast. Das Virus wird nicht weggehen. Uns steht eine Impfung mit einer Sicherheit von 90 bis 95 Prozent zur Verfügung.

Heidi Larson ist Professorin für Anthropologie und Risiko- und Entscheidungswissenschaft und Gründungsdirektorin des Vaccine Confidence Project an der London School of Hygiene & Tropical Medicine

ZUM WEITERLESEN:

Heidi J. Larson: Stuck. How Vaccine Rumors Start and why they don`t go away. Oxford University Press, London 2020

Transparenzhinweis: Das Vaccine Confidence Project wird unter anderem finanziert von der Europäischen Kommission, der UNICEF, dem Verband der europöischen Pharmaindustrie und einigen Pharmaunternehmen. Partner sind die Weltgesundheitsorganisation, Universitäten, mehrere Forschungseinrichtungen, darunter die Berliner Charite und das Robert-Koch-Institut, sowie wissenschaftliche Fachgesellschaften und Facebook. 

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