Kindheit im Zeitraffer

Mit zehn schon in der Pubertät? Kein Einzelfall, denn diese beginnt immer früher. Dabei spielen seelische Erfahrungen in der Kindheit eine Rolle.

Eine Gruppe von pubertierenden Teenagern sitzen lachend auf einer Treppenstufe vor einem Gebäude
Der Beginn der Pubertät schiebt sich stetig nach vorne. © Ridofranz/Getty Images

Die zehnjährige Tochter verändert sich. Wo früher samtweiche Haut war, sprießen nun die ersten Pickel, wo abends noch seidiges Haar über die Schultern fiel, hängen morgens fettige Strähnen. Eine ganze Kleidergröße hat sie im letzten halben Jahr übersprungen. Doch nicht nur die körperliche Entwicklung läuft auf Hochtouren – auch die Umgangsformen ändern sich. Aus der sanften Grundschülerin ist ein selbstbewusstes Mädchen geworden, das nachmittags gackernd mit seinen Freundinnen durch den Stadtteil spaziert.…

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Mädchen geworden, das nachmittags gackernd mit seinen Freundinnen durch den Stadtteil spaziert. Zu Hause spielen sich immer häufiger turbulente Szenen ab, sie will mehr selbst entscheiden, und die Eltern sollen bitte aufhören zu nerven.

Ist das schon der Beginn der Pubertät? So früh? Mit zehn Jahren? „Vorpubertät“ nennen Entwicklungspsychologen die Zeit zwischen später Kindheit und Adoleszenz, die häufig gekennzeichnet ist durch einen starken Wachstumsschub und Hautveränderungen. In den USA gibt es sogar einen populären Begriff für diesen Lebensabschnitt: Tweens. Auch wenn die Tochter sich körperlich verändert und „pubertär“ benimmt, ist sie noch nicht unbedingt in der Pubertät. Möglich ist es aber doch. Denn das Einsetzen der Pubertät schiebt sich seit Beginn der Messungen vor 150 Jahren für Mädchen und Jungen stetig nach vorne. Im 19. Jahrhundert bekamen Mädchen ihre erste Blutung im Schnitt zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr, heute durchschnittlich zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr. Die Brustentwicklung beginnt noch früher, im Mittel mit 10,9 Jahren. Und auch Jungen – die meist bis zu zwei Jahre später dran sind als Mädchen – kommen früher in die Pubertät als noch vor ein paar Jahrzehnten. Sie beginnen etwa anderthalb bis zwei Jahre früher zu pubertieren als bisher, schreibt die Wissenschaftlerin Marcia Herman-Giddens in der Fachzeitschrift Pediatrics. Auch der Stimmbruch ereilt Jungen heute früher, oft schon mit zwölf oder dreizehn Jahren. Undenkbar zu Johann Sebastian Bachs Zeiten: Als der Komponist in den Jahren 1723 bis 1750 den Thomanerchor leitete, sangen noch 17- und 18-jährige Jungen Sopran.

Sogenannte „Frühstarter“ hat es immer schon gegeben. Schätzungsweise zehn bis fünfzehn Prozent aller Mädchen und Jungen kommen bis zu zwei Jahre früher in die Pubertät als die Mehrheit, häufig aufgrund einer genetischen Veranlagung, oft waren auch ihre Eltern schon frühreif. Weil sich das Alter der Pubertät aber insgesamt nach vorne geschoben hat, sind die Frühstarter heute eben noch früher dran: Bei einem durchschnittlichen Menarchealter von 12,5 Jahren ist die Menstruation mit 10 Jahren deshalb keine Seltenheit mehr – und schon gar nicht krankheitswertig. „Wenn die Mädchen mehr als acht und die Jungen mehr als neun Jahre alt sind, ist es in der Regel eine frühe normale Pubertät“, erklärt Olaf Hiort, Leiter des Hormonzentrums für Kinder- und Jugendliche des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Warum genau der Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt den Hebel umlegt und auf Pubertät schaltet, wissen auch die Hormonexperten noch nicht. Klar ist jedoch: Der Prozess beginnt im Gehirn. Die Hirnanhangsdrüse sondert Geschlechtshormone ab, und schon geht’s los: Der Körper wächst, Schamhaare sprießen, Mädchen bekommen einen Busen und ihre erste Regelblutung, bei Jungen wachsen der Hoden und der Kehlkopf. Von „Pubertas praecox“, vorzeitiger Pubertät, sprechen Ärzte erst, wenn die Pubertät bei Mädchen vor dem achten und bei Jungen vor dem neunten Geburtstag einsetzt. Feuert die Hirnanhangsdrüse derart früh Hormone, müssen Ärzte die Ursachen abklären. Zugrunde liegen kann eine genetische Veranlagung – oder auch eine Hirnfehlbildung oder ein Hirntumor.

Haben Kosmetika einen Einfluss auf den frühen Beginn der Pubertät?

Doch was sind die Gründe für die frühe Pubertät? Den Hauptgrund für ihr beschleunigtes Einsetzen glauben Forscher in unseren guten Lebensbedingungen zu erkennen. Fast alle Kinder in der westlichen Welt haben ausreichend zu essen, kaum ein Mensch muss Hunger leiden. Auch lebensgefährliche Infekte und Viren konnten dank guter hygienischer Bedingungen und Antibiotika größtenteils eingedämmt werden. Der Körper stellt also eine einfache Rechnung auf: Ist er gesund und gut ernährt, kann er früher Kinder produzieren. Ausreichend Fettgewebe sei die Hauptvoraussetzung für die Reproduktion, sagt auch Martin Reincke, Endokrinologe am Klinikum der Universität München.

Extremes Untergewicht oder Magersucht hingegen könnten die sexuelle Reifung verlangsamen oder ganz zum Stillstand bringen. So treten in Entwicklungsländern die Mädchen oft später ins Menstruationsalter ein, magersüchtige Mädchen haben bisweilen überhaupt keine Blutung. Übergewicht hingegen beschleunigt das Einsetzen der Pubertät, weil Fett die Produktion von Sexualhormonen wie Östrogen stimuliert. So entwickeln achtzig Prozent aller adipösen Mädchen mit mehr als zehn Kilogramm Übergewicht bereits vor ihrem neunten Geburtstag Brüste und bekommen vor ihrem zwölften Geburtstag die Regel. Eine ballaststoffreiche Ernährung hingegen scheint die Pubertät zu verzögern: „Mehr Ballaststoffe gleich spätere Reife“, erklärt Frank Biro von der University of Cincinatti, der über den Zusammenhang zwischen früher Pubertät und Brustkrebs forscht. Doch nicht nur die gute – bisweilen zu kalorienreiche – Ernährung der Kinder kann zu einem früheren Einsetzen der Pubertät führen. Auch Hormone in Lebensmitteln mögen eine Rolle spielen.

Ein besonderer Dorn im Auge ist vielen Wissenschaftlern außerdem das Wirken von Umweltgiften und Chemikalien auf die Pubertätsentwicklung. Viele Kosmetika, Konservierungsmittel, Plastikverpackungen, Pestizide und Flammschutzstoffe beinhalten endokrine Disruptoren, synthetisch hergestellte chemische Verbindungen, die wie Hormone wirken und damit das hormonelle Gleichgewicht des Körpers durcheinanderbringen. Besonders gefährlich ist die chemische Verbindung Bisphenol A, ein Plastikweichmacher, der oft in Shampooflaschen oder auch Schnullern eingesetzt wird und dem Hormon Östrogen ähnelt.

Bisphenol A gaukelt dem Körper einen höheren Östrogenspiegel vor

Bei Mädchen wird Bisphenol A für ein verfrühtes Einsetzen der Pubertät verantwortlich gemacht, da es dem Körper einen hohen Östrogenspiegel vorgaukeln und dazu verleiten kann, die Pubertät auszulösen. Die dänische Wissenschaftlerin und Kinderärztin Lise Aksglæde von der Kopenhagener Universitätsklinik beobachtete für eine Studie zur Pubertätsentwicklung 2095 dänische Mädchen im Alter von fünfeinhalb bis zwanzig Jahren zwischen 1991 und 1993 sowie zwischen 2006 und 2008 und stellte anschließend fest, dass sich im Untersuchungszeitraum das Zeitfenster für die Entwicklung des Busens von 10,9 Jahren (1991) auf 9,9 Jahre (2006) gesenkt hatte.

Da der Body-Mass-Index (BMI) der Kinder überwiegend im Normbereich lag, geht Aksglæde davon aus, dass hierbei Chemikalien mit endokrinen Disruptoren wie Bisphenol A eine Rolle spielen. Welche Chemikalien genau ausschlaggebend seien, könne man aber nur schwer feststellen, so Aksglæde, da der kindliche Körper einer Vielzahl von Chemikalien in schwankenden Mengen ausgesetzt sei. Auch wie die Chemikalien auf Jungen wirken, ist bislang weitgehend unerforscht. Denn das weibliche Sexualhormon Östrogen müsste bei Jungen theoretisch genau entgegengesetzt wirken – und die Entwicklung vielmehr verzögern.

Mädchen, die ohne den biologischen Vater aufwachsen, entwickeln sich schneller

Doch nicht nur Ernährung und Chemikalien sorgen für eine Kindheit im Zeitraffer. Auch Stress kann das Einsetzen der Pubertät beschleunigen. Zum einen treibt Umweltstress in Form von elektrischem Licht, Stadtlärm und einer verkürzten Nachtruhe den kindlichen Körper zur Eile – weil das Leben anstrengender ist, muss er schneller reifen, um schneller reproduzieren zu können. Doch auch seelischer Stress kann die Pubertätsentwicklung beschleunigen. Eine Studie der Universität von Arizona untersuchte die Entwicklung von Kindern im Grundschulalter und kam zum Ergebnis, dass Mädchen bis zu fünf Monate früher in die Pubertät kommen, wenn sie ohne ihren biologischen Vater aufwachsen.

Diese Entwicklung war vor allem dann beschleunigt, wenn der Vater sozial auffällig war und einige Zeit bei der Familie gelebt hatte, bevor er sie verließ. „Mädchen, die früh im Leben viel Stress erfuhren, kamen besonders früh in die Pubertät“, bestätigt auch Studienautor Bruce J. Ellis von der University of Arizona. „Diese Ergebnisse stimmen mit Studien von Adoptionskindern überein. Es scheint also bestimmte sensible Zeitfenster zu geben für das Zusammenwirken von Stress und einer frühen Geschlechtsentwicklung.“ Das gleiche Forscherteam veröffentlichte 2011 eine weitere Studie: Auch Mädchen, die in schwierigen Elternhäusern – belastet durch Ehekonflikte, Armut oder Bindungstraumata – aufwuchsen, kamen schneller in die Pubertät. Warum genau eine unglückliche Kindheit zu einer frühen Reife führt und welche Mechanismen dabei in Gang kommen, darüber können Forscher bislang nur spekulieren.

Doch welche Folgen hat es, wenn Kinder früher in die Pubertät kommen? Auf körperlicher Ebene verdichten sich Hinweise, dass eine frühe Pubertät vor allem für Mädchen mit unerwünschten Folgen verbunden ist. Früh pubertierende Mädchen bleiben tendenziell eher klein, weil Östrogen nicht nur die Pubertät in Gang setzt, sondern auch das Knochenwachstum bremst. Außerdem erhöht eine frühe Reife das Risiko, später an Brustkrebs zu erkranken. Denn umso länger der Busen Geschlechtshormonen ausgesetzt ist, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich im Organ irgendwann Tumore entwickeln. Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Florence Williams zitiert in ihrem großartigen Buch Der Busen. Meisterwerk der Evolution (siehe auch die Rezension auf Seite 92)einen Bericht des amerikanischen Breast Cancer Fund von 2007, demzufolge sich Tausende von Brustkrebsfällen vermeiden ließen, wenn die Pubertät nur ein Jahr später einsetzen würde: Ein Mädchen, das seine erste Periode vor dem zwölften Lebensjahr bekommt, hat ein um 50 Prozent höheres Brustkrebsrisiko als eines, das mit 16 Jahren erstmalig menstruiert. Die Wissenschaftler glauben, dass gerade während der Pubertät die Brustzellen instabil sind und der Busen dadurch besonders empfänglich für Karzinogene ist. Ähnliche Zusammenhänge vermuten Krebsforscher bei frühreifen Jungen und Prostatakrebs.

Früher Stress durch frühe Reife

Auch auf seelischer Ebene kann eine vorgezogene Pubertät belastend sein, zumindest dann, wenn ein Kind viel früher dran ist als die Klassenkameraden. Wie fühlt es sich an, wenn die Freundinnen noch kindlich aussehen und am eigenen Körper die ersten Rundungen erscheinen? Wenn Pickel und Fettpölsterchen auftauchen? Wenn Schamhaare wachsen und die Stimme bricht, obwohl die Kumpels noch einen guten Kopf kleiner sind? Viele Kinder sind dann peinlich berührt und fühlen sich in ihren Körpern unwohl. Nicht nur das: Auch ältere Jugendliche sehen frühreife Kinder bisweilen in einem sexuellen Kontext und behandeln sie entsprechend. Ob die Kinder dadurch überfordert sind – darüber streitet die Fachwelt. Viele Forscher verbinden eine frühe Geschlechtsreife mit mehr sozialen und seelischen Problemen, etwa mehr risikoreichem Verhalten, früheren sexuellen Erfahrungen, Drogenmissbrauch und Depression. Eine britische Studie belegt außerdem, dass frühreife Mädchen ein erhöhtes Risiko für sexuellen Missbrauch und frühe Schwangerschaften haben. Existiert tatsächlich ein Zusammenhang zwischen frühem Stress und früher Reife – wie ihn Bruce J. Ellis von der University of Arizona postuliert–, dann sind diese Ergebnisse nicht unbedingt überraschend.

Alles in allem scheint es dennoch keinen Grund zur Panik zu geben. Trotz des früheren Einsetzens der Pubertät sinkt die (ohnehin niedrige) Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen in Deutschland seit Jahren kontinuierlich. Beim Thema Sex und Verhütung verhalten sich Jugendliche verantwortungsbewusst: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bekommen Teenies in Deutschland durchschnittlich erst mit 14 Jahren den ersten Kuss und haben irgendwann zwischen 16 und 18 Jahren zum ersten Mal Sex. Wenn die zehnjährige Tochter also in Minikleid und Leggings ihren sich verändernden Körper zur Schau stellt und vor dem Spiegel zu Lady Gaga tanzt, heißt das nicht, dass sie nun auf Jungenfang geht– sondern vielmehr, dass sie sich und ihren Körper ausprobieren will. Trotzdem ist sie noch ein Kind. Und ein Teil von ihr will vermutlich auch weiterhin so behandelt werden. Busen mit neun, Stimmbruch mit zwölf: Bereitet die irritierende Differenz zwischen Kindesalter und körperlicher Entwicklung also vor allem den Eltern Schwierigkeiten? Gut möglich, sagt die Psychologin Elisabeth Raffauf, Autorin des Buches Das MädchenBuch (Beltz, Weinheim 2013) und Expertin der Kummerkasten-Sendung beim Fernsehsender KiKA. Sie plädiert für mehr Selbstreflexion bei den Eltern. „Wenn wir die eigene Enttäuschung darüber, dass die Mädchen schon so früh keine Kinder mehr sind, reflektieren und nicht den Mädchen anlasten, dass sie schon Stimmungsschwankungen haben und manchmal nicht wissen, wohin mit sich, können wir ihnen offener begegnen“, erklärt Raffauf. „Die Mädchen brauchen ihre Eltern als sichere Säulen, die sie ernst nehmen und verstehen.“ Für die Jungs gilt selbstverständlich dasselbe. Statt in Angst oder gar restriktive Maßnahmen zu verfallen, ist es also viel wichtiger, den Kindern Verständnis entgegenzubringen für die vielen verwirrenden Veränderungen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2014: Trennung?