„Das Leiden an Adipositas wird ignoriert.“

Stärkeres Übergewicht alleine zu reduzieren, ist kaum möglich. Von Ärztinnen und Ärzten wird das ignoriert, sagt die Psychiaterin Martina de Zwaan.

Die Illustration zeigt die Psychosomatikerin und Psychiaterin Martina de Zwaan.
Martina de Zwaan ist Psychosomatikerin und Psychiaterin. Sie stört, dass Adipositas als Leiden ignoriert wird. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Es ärgert mich, wenn Arztkollegen und -kolleginnen ihre Patienten mit dem Satz „Sie müssen einfach abnehmen“ aus der Praxis entlassen. Diese Kollegen scheinen nicht nur kein Wissen darüber zu haben, wie schwer es ist, bei Übergewicht oder Adipositas eine dauerhafte Gewichtsreduktion zu erreichen. Sie scheinen sich häufig auch nicht dafür zu interessieren.

Aus Studien ist bekannt, dass sich Ärztinnen nicht von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden, wenn es um die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Adipositas geht. Dabei handelt es sich bei Adipositas nicht um eine seltene Erkrankung, immerhin sind über 20 Prozent der erwachsenen Deutschen betroffen. Medizinerinnen und Mediziner tragen durch unbedachte Äußerungen zur Selbstabwertung der Betroffenen bei und verschlimmern das Problem, da dies zu mehr Stress und damit oft zu vermehrter Nahrungsaufnahme führt.

Es ist unwissenschaftlich und einfach falsch, den Betroffenen die alleini­ge Schuld für ihr Übergewicht zu geben. Es ist uns bekannt, dass genetische Faktoren und vor allem unsere Überflussgesellschaft einen starken Beitrag zu der hohen und steigenden Adipositas­prävalenz leisten. Wir sind biologisch besser auf Mangel als auf Überfluss eingestellt und haben kaum physiologische Inhibitoren für die Nahrungsaufnahme.

Mehr Präventionsstrategien

Das hat der Menschheit einmal das Überleben gesichert, ist in unserer Zeit aber zum Boomerang geworden. Die einzige Möglichkeit ist die kognitive Kontrolle, die man jedoch konsequent durchhalten muss. Offensichtlich schaf­fen das 20 Prozent der Deutschen nicht und brauchen dringend Unterstützung, die man ihnen auch gewähren sollte.

Bislang werden konservative Gewichtsreduktionsprogramme nicht von den Krankenkassen bezahlt. Als einen Hoffnungsschimmer kann man die im Sommer 2021 gestartete Entwicklung des Disease-Management-Programms (DMP) Adipositas sehen, das aktuell vom Gemeinsamen Bundesausschuss entwickelt wird. Man kann nur hoffen, dass das Adipositas-DMP auch tatsächlich in der Versorgung ankommt und nicht demselben Schicksal unterliegt wie andere DMPs (Depression, chronische Rückenschmerzen), die bis heute nicht umgesetzt sind und als Papiertiger gelten.

Um Adipositas wirksam zu bekämpfen, muss in die Prävention investiert werden. Die Politik setzt Präventionsstrategien jedoch sehr zaghaft um. Die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie verlässt sich auf die Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie, und der Nutri-Score muss nicht verpflichtend auf die Verpackungen aufgebracht werden. Diese Maßnahmen werden zu kurz greifen, eine übergeordnete Präventionsstrategie gibt es nicht. Höhere Steuersätze für „ungesunde“ oder „adipogene“ Lebensmittel könnten zu einem stärkeren Effekt beim Rückgang von Übergewicht und Adipositas führen – das ist aber aktuell nicht geplant.

Martina de Zwaan ist Psychosomatikerin und Psychiaterin, Professorin und Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie war bis vor kurzem Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.

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