„Was in einer Therapie auftaucht, ist nicht unbedingt die Wahrheit“

Therapeut und Psychiater Sachsse über dissoziative Störungen und wie man damit umgeht, wenn schlimme Erfahrungen in der Behandlung wieder erscheinen.

Ein Plüschteddybär liegt auf dem Boden
Sich wiederholender sexueller Missbrauch ist ein derart schweres und schmerzhaftes Ereignis, dass wahrscheinlich zumindest bruchstückhafte Erinnerungen daran stets im Bewusstsein der Betroffenen bleiben. © Suriyawut Suriya/Getty Images

Herr Professor Sachsse, wie kann man den Unterschied zwischen wahren Erinnerungen und solchen, die bloß erfunden sind, sicher erkennen?
Wenn ich das beantworten könnte, wäre ich Nobelpreis-Anwärter. Viele Gehirnforscher und -forscherinnen sagen, dass wir bei Erinnerungen nie genau zwischen Einbildung, Halbwahrheit und Realität unterscheiden können werden, weil sich unser Gehirn grundsätzlich eine Welt zurechtlegt, in der wir am besten über die Runden kommen. Diese basiert aber nicht unbedingt auf Tatsachen…

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in der wir am besten über die Runden kommen. Diese basiert aber nicht unbedingt auf Tatsachen im juristischen und historischen Sinne.

Kann es sein, dass man sich an ein so gravierendes Ereignis wie eine Vergewaltigung jahrelang nicht mehr erinnert, an alles andere im Leben aber schon?
Es kann beweisbare Ereignisse geben, bei denen Menschen sagen: „Erst als ich nach 20 Jahren über diese Brücke gefahren bin, stand mir plötzlich alles wieder vor Augen.“ Vielleicht hat man sich auch bruchstückhaft an etwas erinnert, aber die Umgebung hat das Ereignis bagatellisiert und gesagt: „War doch gar nichts.“ So wurde es erst mal „vergessen“. Aber je schwerer, schmerzhafter und demütigender ein Ereignis ist, umso mehr würde ich mich wundern, wenn es jahrzehntelang nicht im Bewusstsein gewesen wäre, vor allem bei wiederkehrenden Ereignissen wie kontinuierlichem sexuellem Missbrauch. Daneben gibt es aber natürlich Menschen mit dissoziativen Störungen, etwa dissoziativen Amnesien.

Was versteht man darunter?
Es gibt verschiedene Formen von dissoziativen Störungen, zum Beispiel die dissoziative Identitätsstörung: Um unerträgliche Erfahrungen in der Kindheit erträglich zu machen, reagieren einige Menschen mit einer Abspaltung. Sie machen sich vor: Das ist ja gar nicht mir, sondern einer ganz anderen Person passiert. Traumatische Erfahrungen werden auf unterschiedliche Selbstzustände aufgeteilt, die voneinander abgespalten sind – wie unterschiedliche Personen, die nichts voneinander wissen.

Wie erkennt man, dass jemand eine dissoziative Störung hat?
Viele Betroffene haben einen völlig unauffälligen Persönlichkeitsanteil. Aber Nahestehende bemerken, dass sie Gedächtnislücken haben und sich zum Beispiel an die Kindheit nur schwach, wie im Nebel erinnern. Bei einer ausgeprägten dissoziativen Amnesie fehlt oft die ganze Kindheit im Gedächtnis.

Wenn man sich dann, zum Beispiel in einer Therapie an Missbrauch erinnert: Ist das eine Erinnerung an ein wahres Geschehen?
Natürlich findet in der Realität gravierender Missbrauch statt, ohne Frage. Grundsätzlich vermittle ich als Therapeut aber immer: Was in einer Therapie auftaucht, ist nicht unbedingt die Wahrheit. Sie müssen skeptisch bleiben. Vielleicht ist das, was auftaucht, auch einfach ein sinnstiftendes Konstrukt. Es bügelt kognitive und emotionale Dissonanzen aus, innere Widersprüchlichkeiten, lässt also alles plausibel erscheinen.

Was kann man tun, wenn man das Gefühl hat: Meine Therapeutin will mir eine Erinnerung einreden?
Zunächst einmal glaube ich, dass so etwas nicht an bestimmten psychotherapeutischen Methoden liegt, sondern mehr an der individuellen Persönlichkeit der Therapeutinnen und Therapeuten: Die sollten Angebote machen, die angenommen, aber auch abgelehnt werden können. Zu sagen: „Ich kann sofort sehen, ob jemand missbraucht wurde“, halte ich jedenfalls für eine Einbildung.

Hier können Sie mehr über „False Memory“ lesen:

Ulrich Sachsse ist Psychotherapeut, Psychiater und Psychotraumatologe. Er erforscht und behandelt unter anderem posttraumatische Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen. Als Supervisor hat er sich häufig mit Missbrauchsfragen befasst.

Zum Weiterlesen

International Society for Traumatic Stress Studies: Kindheitstraumata – erinnert: ein Report zum derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand und zu seinen Anwendungen. In: Ulrich Sachsse (Hg.): Traumazentrierte Psychotherapie. Theorie, Klinik und Praxis. Schattauer, Stuttgart 2004, 413–436

Chris Brewin, Bernice Andrews: Creating memories for false autobiographical events in childhood: A systematic review. Applied Cognitive Psychology, 31/1, 2017. DOI: 10.1002/acp.3220

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen