Wie ein Schlag vom Himmel oder ein schlechter Traum, aus dem man sofort erwachen möchte, sei das gewesen, sagt Federico Avellán Borgmeyer. Seine erwachsene Tochter hat ihn beschuldigt, als Kind von ihm sexuell missbraucht worden zu sein. „Man konnte es nicht fassen. Denn dir gegenüber steht das Inniglichste, was man im Leben haben kann, dein Kind, das nächste Fleisch und Blut, das du großgezogen hast. Und dann stellt es so eine Behauptung auf und sagt sie dir ins Gesicht.“
Knapp sieben Jahre ist das her.…
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ist das her. Borgmeyers Tonfall wirkt gefasst, als er im Podcast False Memory und später in einem Telefongespräch mit Psychologie Heute davon erzählt. Er hat schon oft darüber gesprochen, auch öffentlich. Aber der Inhalt seiner Worte hat nichts von seiner Wucht verloren.
Laut Borgmeyer war seine Tochter ein fröhliches Mädchen. Er und seine Frau hätten ein sehr gutes Verhältnis zu ihr gehabt. Nie habe es Anzeichen für einen Missbrauch gegeben. Die Erinnerungen an den Missbrauch seien ihr in einer Therapie gekommen, mit Familienaufstellungen und Wachhypnose, sagt die Tochter. Ihr Vorwurf lastet schwer auf dem Vater.
Als Ingenieur sei er es gewohnt, Dingen auf den Grund zu gehen, sagt Borgmeyer. Deshalb forscht er auch bei Freunden und Verwandten nach, welche Erfahrungen oder Situationen seine Tochter auf Gedanken des Missbrauchs gebracht haben könnten. Borgmeyer findet nichts. Seine Tochter bricht den Kontakt zu ihm und der Mutter ab. Bis heute, wie er im Dezember 2022 am Telefon erzählt.
Täter sollen zur Rechenschaft gezogen werden
In seiner Not wendet sich Borgmeyer an den Verein False Memory Deutschland e.V., mittlerweile engagiert er sich dort als Vorsitzender. Der Verein berät Menschen, die mit sogenannten falschen Erinnerungen konfrontiert sind. Normalerweise sind falsche Erinnerungen kein Grund zur Sorge. Wir alle sind manchmal fest davon überzeugt, den Schlüssel eingesteckt oder das Fenster offen gelassen zu haben, obwohl es nicht stimmt. Falsche Erinnerungen an Traumata können indes Existenzen bedrohen.
Jedes Jahr melden sich nach Angaben von False Memory Deutschland etwa 250 Menschen bei dem Verein, die plötzlich als Täter dastehen, sich die Anschuldigungen aber nicht erklären können oder die als Angehörige Rat suchen. Selten nehmen auch vermeintliche Opfer Kontakt auf, die andere des Missbrauchs bezichtigt hatten, nun aber wissen: zu Unrecht!
Wirkliche Täter will False Memory Deutschland auf keinen Fall unterstützen. Deshalb versucht der Verein so gut wie möglich festzustellen, ob an den Vorwürfen etwas dran ist: Laut eigenen Angaben sprechen Beraterinnen lange mit den Beschuldigten und ihrem Umfeld, lassen sich, sofern vorhanden, Polizei- und Gerichtsakten aushändigen und prüfen mit einem langen Fragenkatalog, unter welchen Umständen die Erinnerungen hochgekommen sind.
Um gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, verurteilt False Memory Deutschland in roten Lettern auf seiner Website echten sexuellen Missbrauch. Weiterhin stellt der Verein in einer Broschüre klar, es könne sich in den allermeisten Fällen mit größter Wahrscheinlichkeit herausfinden lassen, ob ein Missbrauch tatsächlich stattgefunden hat. Letzte Sicherheit aber könne es nicht geben. Wer doch verdächtig ist, wird abgewiesen.
Das Gedächtnis ist manipulierbar
Sicher ist allerdings: Die Erinnerung, ob echt oder vermeintlich, verursacht bei Betroffenen und den Menschen um sie herum unermessliches Leid. Familien zerbrechen, psychische Erkrankungen treten auf, mit Folgen bis hin zum Suizid. Umso wichtiger wäre es, Aussagen von Betroffenen zweifelsfrei beurteilen zu können. Doch in Wissenschaft und Gesellschaft wird seit Jahrzehnten heftig über falsche Erinnerungen gestritten. Können Betroffene Traumata so vollkommen vergessen, dass die Erinnerung erst Jahre später in einer Therapie wiederkehrt?
Renate Volbert, die als Professorin für Rechtspsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin zu Zeugenaussagen forscht, stellt nicht grundsätzlich infrage, dass nach einem Trauma Gedächtnislücken auftreten können, sogenannte Amnesien. In ihrem Buch "Beurteilung von Aussagen über Traumata" schreibt sie jedoch: „Nach den vorliegenden Untersuchungen sind Amnesien aber sicher keine typische Folge besonders stressreicher Erfahrungen.“
Die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, zu der unter anderem Peer Briken, Psychiatrieprofessor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gehört, kommt zu anderen Schlüssen. So schreibt die Kommission im Bilanzbericht 2019, Band1: „Ein besonders dominierendes Muster sind die Schilderungen, wie Betroffene den Missbrauch in Kindheit und Jugend verdrängt und abgespalten haben. Für viele war es der einzige Weg, den Missbrauch zu überleben.“
Dass ein erheblicher Teil von Kindern und Erwachsenen tatsächlich ungewollten sexuellen Kontakt oder sexuelle Belästigung bis hin zum Missbrauch erleidet, ist unbestritten – das Netzwerk International Society for Traumatic Stress Studies geht weltweit von einem Anteil von 20 Prozent bei Mädchen aus sowie von fünf bis zehn Prozent bei Jungen. Genaue Zahlen sind unbekannt, Schätzungen umstritten. Auch deshalb weil es eine Dunkelziffer gibt, in viel zu vielen Fällen Opfern nicht geglaubt und Missbrauch über Jahre vertuscht und fortgesetzt wird. Überdies werden auch bekannte Straftaten nicht immer angezeigt und verjähren. Die Frage ist aber, ob es neben all diesen Fällen furchtbarsten Missbrauchs nicht auch vermeintliche Erinnerungen an Übergriffe geben kann.
Erinnerungen sind manipulierbar
Erinnern ist ein rekonstruktiver Prozess. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das: Das Gehirn speichert Informationen nicht wie ein Foto, das man als „separates Informationspaket“ auf einer Festplatte ablegt und als Ganzes wieder aufrufen kann. So befinden sich zum Beispiel visuelle Eindrücke an einem anderen Ort als die räumliche Lokalisation. Soll die Gesamtinformation abgerufen werden, muss das Gehirn sie aus den Einzelinformationen erst wiederherstellen – ein Prozess, der durch ähnliche Erinnerungen, aber auch von außen beeinflusst werden kann, zum Beispiel durch Falschinformationen.
Wie erschreckend anfällig unser Gehirn dafür ist und wie leicht man anderen Menschen falsche Erinnerungen sogar vorsätzlich einpflanzen kann, hat die Psychologin Julia Shaw vom University College London festgestellt: Sie bat Studierende, sich an ihren Ärger mit der Polizei zu erinnern, den sie als Jugendliche gehabt hätten. Natürlich gelang das den Versuchspersonen erst einmal nicht, denn die peinliche Episode, die angeblich die Eltern berichtet hatten, hatte es nie gegeben.
„Die meisten Leute sind in der Lage, sich wieder zu erinnern, wenn sie es nur fest genug versuchen“, behauptete die Interviewerin fälschlicherweise und setzte die Versuchspersonen auf diese Weise unter Druck. Dann bat sie die Studierenden, die Augen zu schließen und sich das Ereignis vorzustellen. Zu Hause sollten sie die Imaginationsübung einige Abende lang wiederholen. Tatsächlich entwickelten nun etliche Versuchspersonen lebhafte Pseudoerinnerungen und beschrieben zum Beispiel detailliert das vermeintliche Aussehen der Polizisten.
Im Durchschnitt gelingt es Forschenden, 30 Prozent ihrer Versuchspersonen solche falschen Erinnerungen einzupflanzen, weitere 23 Prozent glauben die suggerierte Vergangenheit wenigstens ein Stück weit, wie ein Team um den Psychologen Alan Scoboria bei einer Auswertung von acht Studien mit gut 400 Versuchspersonen ermittelte. Allerdings handelte es sich in diesen Studien nicht um traumatische Erinnerungen, solche kann man Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern aus ethischen Gründen nicht einpflanzen. Es ist daher fraglich, ob diese Ergebnisse auch für Missbrauch gelten.
Indizien für wahre und falsche Erinnerungen
Denn wie traumatische Erinnerungen gespeichert werden, ist wissenschaftlich umstritten: weniger verzerrt, länger haftend und weniger anfällig für Verfälschungen als andere Erinnerungen? Oder ist das Gegenteil der Fall und das Gehirn kann bei besonders heftigen traumatischen Erfahrungen das Erinnern aktiv verhindern – wie in der Psychoanalyse mit dem Stichwort „Verdrängung“ angenommen? Tatsächlich gibt es Fälle, in denen Betroffene sich nicht an den Missbrauch erinnern, zum Beispiel bei dissoziativen Amnesien (lesen Sie hier das Interview mit Psychotraumatologe Ulrich Sachsse).
Ob eine Erinnerung wahr oder falsch ist, lässt sich bisher also nicht immer zweifelsfrei beweisen, es gibt aber Indizien: „Je früher im Leben das Ereignis stattgefunden haben soll, zum Beispiel schon im Kleinkindalter, und je länger all das zurückliegt, desto unsicherer ist die Beweiskraft“, sagt Ulrich Sachsse, langjähriger Psychotherapeut und Psychiater. Entscheidend sei auch: Wenn ein Kind ein Trauma erleide, zeige es wahrscheinlich Persönlichkeitsveränderungen.
Das Netzwerk International Society for Traumatic Stress Studies weist in einem Report außerdem auf die Umstände des Erinnerns hin: „Es ist wahrscheinlich, dass Erinnerungsentdeckungen eher in Situationen auftreten, die Schlüsselreize enthalten, die der ursprünglichen traumatischen Situation ähneln“, das könnten zum Beispiel Fernsehsendungen sein oder Gespräche mit der Familie. Die Mehrzahl der wiederkehrenden Erinnerungen, so der Bericht, tauche außerhalb einer Therapie auf.
Eine hitzige Debatte
Letzteres lässt auch die tausende Missbrauchsfälle zweifelhaft erscheinen, die in den 1980er und frühen 1990er Jahren plötzlich in den USA zutage traten, vornehmlich bei der sogenannten recovered-memory therapy. „Wie oft fühlen Sie sich kraftlos, wie ein Opfer?“, mit solchen Fragen wollten zahllose Therapeutinnen und Berater Missbräuche ans Licht bringen und so Frauen- und Opferrechte stärken.
Später stellte sich heraus: In einer ganzen Reihe von Fällen hatten die Betroffenen falsche Erinnerungen entwickelt, wie im prominent gewordenen Fall von Beth Rutherford: Durch eine Beratung bei der Kirche glaubte sie, von ihrem Vater zweimal geschwängert und gezwungen worden zu sein, mit einem Kleiderbügel abzutreiben. Später zeigte eine Untersuchung: Beth Rutherford war nie schwanger und mit 22 immer noch Jungfrau. Auch in Deutschland kam es zu Prozessen. Doch nicht nur vermeintliche Täterinnen und Täter wurden angeklagt; vermeintliche Opfer wehrten sich auch gegen Therapeuten.
Die Debatte wird teilweise sehr unsachlich und konfus geführt, mitunter driftet sie in Verschwörungsmythen ab. Um zu verstehen, wie es zu einer so aufgeheizten Diskussion kommen konnte, muss man sich klarmachen: Fragen nach falschen Erinnerungen unterliegen auch immer unserem Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit, also unserer Moral und Justiz. Natürlich möchten wir als Gesellschaft, dass Täter und Täterinnen zur Rechenschaft gezogen, zweifelsfrei und nach rechtsstaatlichen Methoden überführt werden, statt ihre Taten dem Vergessen zu überlassen oder, schlimmer noch, weitere Taten zu ermöglichen.
Eine grauenhafte Kindheit als Ursache
Zudem treten immer wieder echte Missbrauchsfälle zutage. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat eine bereits publizierte Broschüre zu false memories zurückgezogen. Zu groß war, so scheint es, die Sorge vor dem Eindruck, man wolle die Existenz echten Missbrauchs infrage stellen.
Außerdem verfolgen Justiz und Therapie unterschiedliche Ziele: Während Richter Aussagen auf ihre Plausibilität hin prüfen und im Zweifel für den Angeklagten entscheiden müssen, haben Therapeutinnen und Therapeuten die Aufgabe, seelische Not zu lindern.
Bleibt die Frage, warum Therapeutinnen manchmal auch dann insistieren, wenn Klientinnen abstreiten, missbraucht worden zu sein. Ulrich Sachsse, der als Supervisor viele Therapeuten kennengelernt hat, beantwortet sie folgendermaßen: „Manche Therapeutinnen und Therapeuten haben die innere Gleichung: ,Je schlechter es jemandem geht, desto grauenhafter muss die Kindheit gewesen sein oder es muss in vorherigen Generationen einen traumatischen Vorfall gegeben haben. Wenn man den aufklärt, löst sich alles in der Gegenwart.‘“
In Sachsses Augen ein Trugschluss: Erstens lägen die Ursachen nicht immer in der Vergangenheit, zweitens werde durch die Aufdeckung nicht alles immer besser und drittens gehe es im Rahmen der Therapie darum, Möglichkeiten anzubieten, damit der Patient kritisch prüfe, ob sie passen könnten. „Es mag Therapeutinnen und Therapeuten geben, die stattdessen überzeugt sind, dass sie Wahrheiten sehen, und dann aus dem Motiv heraus: ,Die Person spaltet nur ab und will sich den Missbrauch nicht eingestehen‘, in eine bestimmte Richtung intervenieren. Das mag es geben. Ich hoffe, es ist selten.“
„Pseudowissenschaftliche Beratung“ über sexuelle Kindesmisshandlung
Die beiden großen Psychologieverbände BDP und DGPs warnen vor Beratungsinitiativen, die über „rituellen Missbrauch“ aufzuklären behaupten. Lesen Sie hier den entsprechenden Artikel über die Stellungnahmen.
Bericht eines Betroffenen
Außerdem können Sie im Artikel „Das Trauma, das es nie gegeben hat“ den Bericht eines Betroffenen von false memory lesen. Er sagt selbst über sich: „17 Jahre meines Lebens glaubte ich an eine Schimäre.“
Schmerzhafte Erinnerungen in der Therapie
In diesem Interview spricht Psychotraumatologe Ulrich Sachsse über dissoziative Störungen und wie man damit umgeht, wenn schlimme Erfahrungen in der Therapie auftauchen.
Quellen
Chris Brewin, Bernice Andrews: Creating memories for false autogiographical events in childhood. A systematic review, Applied cognitive psychology 31/1, 2017, 2–23. DOI: 10.1002/acp.3220
International Society for Traumatic Stress Studies: Kindheitstraumata – erinnert: ein Report zum derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand und zu seinen Anwendungen, Traumazentrierte Psychotherapie, Schattauer, Stuttgart 2004, 413–436
Alan Scoboria u. a.: A mega-analysis of memory reports from eight peer-reviewed false mevolmory implantation studies. Memory 25/2, 2017, 146–63. DOI: 10.1080/09658211.2016.1260747
Julia Shaw u. a.: Constructing rich false memories of committing crime. Psychological Science 26/3, 2015, 291–301. DOI: 10.1177/0956797614562862
Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindsmissbrauchs, Bilanzbericht 2019/1, Berlin 2019
Renate Volbert: Beurteilung von Aussagen über Traumata: Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung. Huber Hans, Bern 2004
Kirsten Böök, Ulrich Sachsse: Trauma und Justiz. Juristische Grundlagen für Psychotherapeuten - psychotherapeutische Grundlagen für Juristen. Klett-Cotta, Stuttgart 2014
Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Hanser, München 2016