Kleine Menschen, große Traurigkeit

Auch bei Kindern und Jugendlichen kommen Depressionen vor. Woran können Eltern erkennen, ob ihr Kind betroffen ist? Und was kann dann helfen?

Foto zeigt ein Mädchen, das traurig schaut
Kindliche Depression: Manche Symptome ähneln denen der Erwachsenen, andere kommen speziell bei Kindern vor. © Michaela Ravasic/Stocksy

Bei Dörte begann es schleichend: Zuerst war da die Sorge, im Homeschooling den Schulstoff nicht zu schaffen. Dann fehlten ihr auch die Treffen mit ihren Freundinnen und der Sport im Verein. Irgendwann war es ihr egal, ob sie morgens aufsteht. Außerdem war sie morgens sowieso müde, weil sie nachts immer länger im Netz surfte und chattete. Und irgendwann war auch die Schule egal. Mit den Eltern gab es immer mehr Streit: Nie, so hatte sie das Gefühl, konnte sie noch etwas richtig machen. Und dann kamen die…

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konnte sie noch etwas richtig machen. Und dann kamen die Gedanken, ob es nicht vielleicht egal wäre, wenn sie gar nicht mehr leben würde. Und diese Gedanken kamen immer häufiger. – So oder so ähnlich klingen Berichte von Jugendlichen, die wegen einer Depression zum Arzt oder zur Psychotherapeutin gehen.

Seit der Coronapandemie machen Meldungen Schlagzeile, dass mehr Kinder und Jugendliche an Depressionen litten. Tatsächlich fanden deutsche und internationale Studien hier einen Anstieg. Allerdings zählten depressive und emotionale Störungen wie etwa Angst schon vor der Pandemie zu den häufigen psychiatrischen Erkrankungen bei jungen Menschen. Bereits 2019 waren Depressionen der häufigste Grund, warum Jugendliche im Krankenhaus behandelt wurden. Doch im Jahr 2022 erhöhte sich die Zahl der stationär behandelten Minderjährigen mit dieser Diagnose um 39 Prozent. Vor der Pandemie wurde laut dem Kinder- und Jugendreport 2019 der DAK bei 15,2 von 1000 Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 17 Jahren eine Depression diagnostiziert.

Die Copsy-Studie (Corona und Psyche) untersuchte die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie und fand heraus, dass in dieser Zeit bis zu 25 Prozent von ihnen über depressive Symptome klagten. Die Rate näherte sich dann Ende des Jahres 2022 mit etwa 15 Prozent aber wieder dem vorpandemischen Niveau an. Die Copsy-Studie hat allerdings keine tatsächlichen Diagnosen erfasst, sondern die jungen Leute direkt nach ihren Beschwerden gefragt.

Eine verlorene Coronageneration?

Der Anstieg an depressiven Symptomen während der Pandemie lässt sich gut erklären, nämlich durch den Verlust von sogenannten positiven Verstärkern, also zum Beispiel von Erfolgserlebnissen, angenehmen Sozialkontakten und erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Dazu kam oft ein erhöhter Stress aufgrund schlechterer Schulleistungen durch Homeschooling oder die öffentlich geschürte Angst, einer „verlorenen Coronageneration“ anzugehören. Dies führte dann bei manchen zu einer Stimmungsverschlechterung, einem Gefühl der Wertlosigkeit und weiteren depressiven Symptomen. Zusätzlich trugen hohe Belastungen wie die Isolation während der Lockdowns zur Krankheitsentstehung bei. Dem widerspricht nicht, dass ein Teil der Jugendlichen erst dann Symptome entwickelte, als sich der Alltag dem Anschein nach wieder normalisiert hatte. Denn Leistungsprobleme in der Schule, aber auch Mobbing oder sozialer Stress traten nun wieder verstärkt auf und addierten sich mit den vorherigen negativen Erfahrungen.

Depressionen bei Kindern und Jugendlichen sind ein typisches Beispiel, wie komplex die Entstehung von psychischen Störungen ist und wie sehr Umweltfaktoren dazu beitragen. Es gibt genetische Faktoren, die das Risiko für eine Erkrankung erhöhen. Jedoch spielen auch schlechte Erfahrungen in der Kindheit, beispielsweise Vernachlässigung oder Bullying, eine Rolle. Solche Erfahrungen und Stress können über epigenetische Mechanismen Depressionen befördern; das bedeutet, dass manche genetische Veranlagung erst durch negative Erlebnisse zum Tragen kommt. In Untersuchungen wurden bei depressiven Patientinnen und Patienten neurobiologisch – etwa durch funktionelle Bildgebung wie die Magnetresonanztomografie – Veränderungen im Bereich der Emotionen und der Motivation entdeckt. Eine Studie hat gezeigt, dass das Belohnungssystem im Gehirn von Jugendlichen bereits Jahre vor dem Auftreten einer Depression negativ verändert war.

In der Psychotherapie zeigen sich bei minderjährigen Betroffenen oft typische Auslöser, etwa der Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder belastende Situationen in der Schule. Auch dauerhafter Streit mit den Eltern oder ein wenig wertschätzendes Familienklima, das sich durch mangelndes Lob oder nur auf Leistungen bezogene positive Zuwendung auszeichnet, kann zur Erkrankung beitragen.

Oft kommen mehrere Störungen zusammen

Bei Kindern treten häufig gemischte Störungsbilder auf, also Kombinationen von depressiven Symptomen mit Angst, aber auch mit oppositionellem oder dissozialem Verhalten, bei dem Regeln missachtet und Normen verletzt werden. Dabei sind die Kinder sehr unglücklich und verspüren wenig positive Emotionen. Und sie erhalten meist eine negative Rückmeldung, bekommen Strafen aufgebrummt und erleben ihre Bezugspersonen oft als frustriert. Das kann dazu führen, dass diese Kinder sehr früh ein negatives Selbstbild entwickeln. So folgen Depressionen im Jugendalter oft auf andere kinder- und jugendpsychiatrische Probleme wie Angst, Störungen des Sozialverhaltens oder ADHS.

Doch die Depression kann ihrerseits weitere Probleme nach sich ziehen, etwa Suchtverhalten, Drogenmissbrauch oder Selbstverletzungen wie sich zu schneiden. Auch Selbstmordgedanken treten fast immer auf. Um die negativen Folgen von impulsivem und oppositionellem Verhalten im Jugendalter zu minimieren, ist in der Forschung die früh auftretende Reizbarkeit der Stimmung, die auch affektive Dysregulation genannt wird, in den Fokus gerückt. Eine Hoffnung ist, so die Ursachen von Depressionen besser zu verstehen, aber auch schon früh eventuelle spätere schwere Symptome durch gezielte Therapien zu vermeiden.

Ist es eine Depression oder nur die Pubertät?

In der Pubertät zeigt sich ein Anstieg von depressiven Störungen. Gleichzeitig sind dann allerdings einige Phänomene wie Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Interessenverlust („Null-Bock-Stimmung“) typisch für Jugendliche und keineswegs mit einer psychischen Erkrankung gleichzusetzen. Zur normalen Entwicklung gehören in dieser Phase ein ausgeprägtes Experimentierverhalten, das Entwickeln anderer Interessen und das Suchen neuer Freunde. Auch Alkohol zu trinken und zu kiffen ist in dieser Lebensphase nicht ungewöhnlich. In der Tat ist das Problem bei der Früherkennung von Depressionen in der Pubertät, dass viele entwicklungstypische Verhaltensweisen nur schwer von Krankheitssymptomen zu unterscheiden sind. Patientinnen und Patienten berichten oft, sie hätten zuerst gedacht, es sei „eine Phase“, die normal sei. Auch Eltern erzählen, dass sie Probleme bei ihren Kindern wahrgenommen hätten, wie eine hohe Empfindlichkeit gegenüber Kritik, sozialen Rückzug und Wutausbrüche, die sie sich nicht erklären konnten – dies aber als „typisch Pubertät“ eingeschätzt hätten.

Wie können Eltern also zwischen einer normalen Entwicklung und ernsten Symptomen unterscheiden? Es kommt unter anderem darauf an, wie lange einzelne Probleme bestehen. Auch die Schwere von Symptomen kann bei der Unterscheidung helfen: Ein Rückzug von Freundinnen und Freunden, Lustlosigkeit und wochenlanges Verkrümeln ins eigene Zimmer sollten aufmerksam machen. Auch selbstverletzendes Verhalten oder Äußerungen, nicht mehr leben zu wollen, sind ernst zu nehmende Warnsignale, genauso wie Leistungseinbrüche in der Schule. Ein übermäßiger Medienkonsum oder die fast ausschließliche Beschäftigung mit virtuellen Welten kann ebenfalls ein Zeichen einer Depression sein.

Verschiedene Behandlungsmöglichkeiten

Depressive Störungen von Kindern und Jugendlichen sind gut behandelbar, wie verschiedene Therapiestudien zeigen. Die Therapie ist gestuft und hängt auch von der Schwere der Depression und deren Dauer ab: Bei einem Teil der Betroffenen genügen bereits wenige Beratungsgespräche. Bei den Psychotherapieverfahren hat sich vor allem die kognitive Verhaltenstherapie bewährt. Psychoedukation – also die Weitergabe von Informationen über das Krankheitsbild –, ein besserer Umgang mit Emotionen, das Erlernen von Problemlösefertigkeiten, aber auch das Erkennen von negativen gedanklichen Mustern bis hin zu Achtsamkeit sind typische Therapiebausteine. Gruppentherapien können sehr hilfreich sein. Auch Interventionen zur Schlafhygiene und aktivierende Maßnahmen wie regelmäßiger Sport können helfen.

Ob eine Therapie ambulant oder stationär stattfindet, richtet sich meist nach der Schwere und den aufgrund der Depression eingetretenen Problemen wie Schulschwierigkeiten, einem verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus oder der Stärke der suizidalen Gedanken. Bei schweren Formen oder einer Symptomatik, die sich allein mit Psychotherapie nicht bessert, werden auch Antidepressiva eingesetzt, und zwar Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer wie Fluoxetin. Die Patientinnen und Patienten berichten oft, dass die Medikamente vor allem aktivierend wirken, sie also wieder mehr Energie verspüren.

Mehr Prävention wäre hilfreich

Gerade zur Vermeidung von depressiven Störungen wären präventive Angebote, die die Resilienz von Kindern und Jugendlichen stärken, sinnvoll. Hier besteht in Deutschland noch großer Nachholbedarf, was eine flächendeckende Versorgung mit bewährten Programmen angeht. Auch sogenannte E-Health-Angebote wie zum Beispiel Gesundheits-Apps sind neuerdings verstärkt in den Fokus gerückt; an sie knüpft sich die Hoffnung, Jugendliche niedrigschwellig und im Alltag therapeutisch zu erreichen.

In Neuseeland gibt es bereits seit vielen Jahren das Sparx-Programm, das mit einem spielbasierten Angebot Jugendliche präventiv unterstützen möchte. Generell besteht bei solchen Angeboten aber noch ein großer Forschungsbedarf, was ihre Wirksamkeit angeht und auch was das Dranbleiben betrifft: Viele Jugendliche beenden solche Programme nicht, vor allem wenn es keine therapeutische Unterstützung durch reale Personen gibt. Generell scheint aber gerade bei jungen Menschen unter 20 Jahren die Akzeptanz von solchen Therapieangeboten höher zu sein als bei anderen Menschen.

Dörte erzählte zum Ende der Therapie, ihr habe am meisten geholfen, zu erkennen, dass auch andere ähnliche Probleme haben, und zu verstehen, was sie gegen ihre schlechten Gefühle machen kann. Für den Fall, dass ihre Stimmung wieder schlechter werden sollte, hat sie einen Notfallkoffer mit helfenden Dingen gepackt und in ihn auch ein Foto gelegt, das sie und andere Patientinnen und Patienten bei einem Ausflug zeigt: Es soll sie daran erinnern, sich dann nicht in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen, sondern auf andere zuzugehen.

Typische Symptome einer Depression

  1. Gedrückte Stimmung

  2. Interessenverlust

  3. Leistungs- und Konzentrationsprobleme

  4. Antriebslosigkeit

Typische altersspezifische Symptome

  1. Gereiztheit

  2. Weinen

  3. Suizidgedanken

  4. Appetits-/Gewichtsveränderungen

  5. Schlafstörungen

  6. Sozialer Bezug nur noch in digitalen Welten

Hier finden Sie ein Video mit Michael Kölch im Gespräch mit unserer Chefredakteurin Dorothea Siegle zum Thema „Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen“.

Und hier geht es zu den Antworten auf die wichtigsten Chatfragen zum Video.

Prof. Dr. Michael Kölch ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an der Universität Rostock

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 74: Depressionen bewältigen