Schlaf um jeden Preis

Mit Trackern und Gadgets jagen Schlafmaximierer der perfekten Nacht hinterher – obwohl genau das schädlich ist und der Schlüssel im Loslassen liegt

Die Illustration zeigt einen Mann, der schlaflos im Bett liegt, umringt von zwei Schafen
Er trackt, kontrolliert und optimiert seinen Schlaf und liegt am Ende doch schlaflos im Bett. © Ramona Ring für Psychologie Heute

Influencer Shinny zählt in einem seiner TikTok-Posts die essenziellen Utensilien für die perfekte Nacht auf. Auf einem Tischchen neben ihm liegen Pflaster für den Mund und die Nase, ein braunes Fläschchen, etikettiert mit dem Wort knocked, ausgeknockt. Farben-frohe Unterstützung in Pillenform, enthalten sind Stoffe wie Magnesiumglycinat, L-Theanin, Apigenin. Er selbst trägt eine blaues Licht abweisende Brille (die Wellenlänge des Bildschirmlichts sei schädlich), der Raum wird von einer Infrarotleuchte…

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abweisende Brille (die Wellenlänge des Bildschirmlichts sei schädlich), der Raum wird von einer Infrarotleuchte erhellt – beides ebenfalls wichtige Requisiten im Wettbewerb um die erholsamste Nacht.

„Als wäre ich in einem anderen Jahrhundert aufgewacht“

Eine andere Mitstreiterin, Username lebaneseangel22, erzählt, perfekt geschminkt, sie sei „heute so ausgeruht, als wäre ich in einem anderen Jahrhundert aufgewacht“. Welche Hilfsmittel sie dafür nutzte? Eine pinke wattierte Maske, die einem avantgardistisch designten Schal ähnelt, Magnesiumspray, auf die Fußsohlen gesprüht, drei Sorten von Nahrungsergänzungsmitteln und das unverzichtbare Brown noise – ein künstliches Rauschen, das durch seine Frequenz den Geist beruhigen soll. Shinny und der libanesische Engel sind sogenannte sleepmaxxer – eine wachsende Gruppe von Menschen, die ihre Auszeit im Bett so optimieren wollen, dass sie ein Maximum an Erholung bietet.

Nimmt dieses Streben zwanghafte Züge an, spricht man von einer Orthosomnie – einer besessenen, ungesunden Suche nach dem perfekten Schlaf. Diese Bezeichnung, die bis heute keine klinische Diagnose darstellt, tauchte erstmals 2017 auf, als die Forschung entdeckte, wie schlechte Schläferinnen und Schläfer mit den damals aufkommenden Fitnesstrackern alles über ihre Nachtruhe herausfinden wollten, sich aber von den ermittelten Werten gleichzeitig in die Irre führen ließen. Sie tauschten ihr Gespür gegen eine Art Algorithmushörigkeit ein: Wenn der sogenannte Sleepscore – also wie gut oder schlecht man im Vergleich zum durchschnittlichen Pensum anderer Menschen schläft – eine niedrige Punktzahl anzeigte, setzten sie alles daran, ihre Nacht zu perfektionieren.

Schlaf wird zum Wettbewerb

Kelly Glazer Baron, US-amerikanische Professorin für klinische Psychologie, leitet eines der wichtigsten Forschungsprojekte für Schlafstörungen in den USA. Sie stellt immer öfter fest: „Es gibt Menschen, für die das Tracking nach hinten losgeht, weil sie allein aufgrund der ermittelten Daten darauf schließen, ob es ein guter Tag oder ein schlechter wird – und nichtoptimale Werte erzeugen Panik. Sie suchen dann nach dem entscheidenden Trick, der ihren Schlafscore wieder auf ein gutes Maß bringt. Das artet in einen totalen Wettbewerb aus.“ Baron war es auch, die für die verzweifelte Suche den Begriff Orthosomnie fand.

Fürs Sleepmaxxing empfehlen die Suchenden eine ideal temperierte Matratze, einen Zerstäuber mit Lavendelöl, Bettwäsche, deren Knitterzustand weiches Wiesengras nachahmt, luxuriöse Spezialventilatoren, die kühle Luft unter die Laken pusten, Kinnbinden und Nasenöffner gegen das Schnarchen, gesüßte Magnesiumdrinks sowie Lagerfeuer vorgaukelnde Apps. Doch all dieses kostspielige Spielzeug hat aus Sicht von Expertinnen und Experten höchstens marginalen Einfluss.

Der Neurowissenschaftler Russell Foster, Direktor des Sleep and Circadian Neuroscience Institute der Universität Oxford, ist der Ansicht: „Letztlich hat das alles allenfalls einen Placeboeffekt, der aber natürlich ebenso seine Berechtigung hat. Nehmen wir Melatonin. Das ist eigentlich ein alter Hut, aber die Leute schwören darauf.“ So ist das körpereigene Hormon Melatonin ein Gegenspieler zum aufputschenden Kortisol und fährt, wenn es dunkler wird, Energieverbrauch, Körpertemperatur und Blutdruck nach unten. Kurz: Es macht müde.

Mehr Ritual als Wirkung

Allerdings ist die Datenlage, ob eine künstliche Einnahme beim Wegdämmern hilft, enttäuschend. Zumal auch die geringe Konzentration in Melatoninpräparaten letztlich keine starken Effekte auf den Organismus haben kann. „Wir vermuten, dass es maximal einen moderaten Einfluss auf Jetlag hat. Mehr geben die Studien nicht her. Es taugt in seiner Wirkung eher als ein Ritual“, so Russell. Genauso wie die blaues Licht filternde Brille: „Sie verbessert die Nachtruhe um kein Quäntchen, und doch hält sich der Hype um sie hartnäckig. Über Schlaf wird in den sozialen Medien extrem viel Quatsch erzählt.“

Mehr Kopfzerbrechen als die teuren Mittelchen oder die besänftigenden Klänge bereitet Foster allerdings der panische Blick auf die Smartwatch: „Das halte ich für gefährlich.“ Er berichtet von Personen, die sich nachts um drei wecken lassen und ablesen, wie viel Tiefschlaf sie bekommen haben. Natürlich sei dieser kurzwellige Deltaschlaf immens wichtig, weil es in dieser Etappe zu Reparaturen von körperlichem Gewebe und der Ausschüttung von Wachstumshormonen kommt. „Aber wer sich mitten in der Nacht absichtlich weckt, bricht die Reparaturarbeiten ab. Das ist fatal.“

Dem Körper wieder die Kontrolle überlassen

Der Wissenschaftler weiß aus jahrelanger Forschung, dass alle menschlichen Versuche, den Tiefschlaf durch Messen oder Nachjustieren zu steigern, zwecklos sind. „Und wir müssen das auch nicht tun, denn unsere Gehirne sind eigentlich perfekt darin, genau den Schlaf zu erzeugen, den wir brauchen. Das tun sie aber nur, wenn wir sie dabei nicht stören und uns keinen allzu großen Kopf machen.“ Doch seit einer Weile schon passiere genau das Gegenteil: „Menschen kommen total verunsichert zu mir und sagen: ‚Meine App zeigt an, dass ich nicht genug Tiefschlaf schaffe. Was stimmt nicht mit mir?‘“ Russell hat dann zwei ebenso beruhigende wie knappe Anweisungen: zuerst den Tracker entsorgen, weil man davon ausgehen kann, dass der zu einem Gutteil falsch misst. Und zweitens: dem Körper wieder die Kontrolle überlassen.

„Es ist extrem gut erforscht, dass der Organismus sich irgendwann seinen Tiefschlaf von allein holt.“ Dass Firmen Tracker und andere digitale Messgeräte mit dem Versprechen auf den Markt bringen, präzise erfassen zu können, was nachts in uns vorgeht, hält er für unverantwortlich. Die Geräte seien meistens nur an wenigen Probandinnen ausprobiert, und arbeiteten mit einem einzigen Algorithmus. „Wir wissen: Aktuell können die Geräte ein so komplexes Phänomen nicht durchleuchten. Punkt.“

Neulich erst bat ihn eine Zeitung um ein Statement zu einer neuen, vorgeblich medizinisch evaluierten App. „Ich frotzelte gleich: ‚Wetten, es waren nur zwölf junge Studierende, die drei Nächte im Schlaflabor verbracht haben?‘ Es stellte sich heraus: Es waren nur acht – für eine einzige Nacht! So etwas nennen sie dann klinisch getestet.“ Was Russell Foster fast ein bisschen in Rage bringt, ist, wie wir etwas so Vielschichtiges mit ein paar „lächerlichen Parametern“ messen oder kontrollieren wollen. „Es ist Quatsch, Schlaf in eine gültige Form zu pressen, weil er unfassbar individuell und unglaublich dynamisch ist. Und er ist auch kein wildes Tier, das wir bezwingen müssen.“ Die Mittel, auf die die Sleepmaxxer und Wachliegenden setzen, wirken auf ihn wie ein Versuch, die Kontrolle über etwas zu gewinnen.

Sogar die Nacht dem Perfektionismus unterordnen

Auch die Schlafexpertin Christine Blume, die als Psychologin und Projektleiterin am Zentrum für Chronobiologie der Universität Basel arbeitet, sieht einen Trend wie das Sleepmaxxing kritisch. „Da geht es ums Optimieren, selbst wenn der Schlaf eigentlich gut ist und kein Leidensdruck vorliegt.“ Oft doktern sehr erfolgreiche Menschen daran herum oder glauben, sogar die Nacht ihrem Perfektionismus unterordnen zu müssen. Mit der Konsequenz, in sehr ungesunde Verhaltensmuster zu rutschen.

Der britische Neurowissenschaftler Foster glaubt, dass derartige Verhaltensweisen und Gedanken nicht nur mit Perfektionismus zu tun haben, sondern ebenso mit einer Panikstimmung, die seit ein paar Jahren in der Welt herrsche. „Pandemie, Putin, Gaza, Trump – all das gibt uns das Gefühl, wir verlieren die Kontrolle über unser Leben, das sickert auch in unseren Schlaf.“ Der Professor sieht außerdem, dass wir die Nacht mit zunehmender Hysterie beäugen. „Seit vier, fünf Jahren ist eine richtige Paranoia ausgebrochen. Noch vor vierzig Jahren war es genau umgekehrt: Man bekam einen Preis, wenn man wieder eine Nacht durchgemacht hatte.“ Heute befänden wir uns genau auf der anderen Seite: „Wir denken, wenn wir nicht acht Stunden schlafen, müssen wir bald sterben.“

Gefährliches Halbwissen

Psychologin Blume kann über die Besessenheit nur den Kopf schütteln: „Im Moment denken viele, der Tiefschlaf müsse besonders wichtig sein. Vielleicht legt das der Name nahe?“ Dabei sei jedes Stadium bedeutend. „Jeder Schlaf ist auf seine Art erholsam. Und ob ich mich am Morgen erholt fühle, hat nur bedingt etwas damit zu, wie lange ich in welchem Schlafstadium war. Diese Einteilung in verschiedene Phasen hat man in den 1960er Jahren vorgenommen, als man entdeckte, dass es Unterschiede in der Schlafbeschaffenheit gibt. Aber die Etikettierung von Leichtschlaf, REM-Schlaf und so weiter ist zuerst mal einfach eine künstliche Klassifizierung, die unseren Körper überhaupt nicht interessiert.“

In ihren Augen hat diese Quantifizierung eher geschadet. Angestiftet vom Optimierungswahn und kognitiver Daueralarmiertheit, gestehen wir dem Körper nicht mehr zu, auf eigene Faust für ausreichend nächtliche Erholung zu sorgen. „Es ist nicht falsch, den Fokus mehr darauf zu richten und zu verstehen, dass gut zu schlafen extrem wichtig ist. Aber die Dosis macht das Gift. Wenn ich mein Leben danach ausrichte und es fast obsessive Züge annimmt, hat das eigentlich immer negative Konsequenzen.“ Die Expertin weiß aus ihrer therapeutischen Arbeit mit Insomniepatienten, dass permanentes Gedankenkreisen um die bestmögliche Nacht absolut kontraproduktiv ist. Es erzeugt Stress, steigert Sorgen, macht unflexibel – und ist schlichtweg unrealistisch.

„Hören Sie keinen Podcast mehr von mir“

In Kliniken wird inzwischen vielerorts dieses Paradox beachtet: Je mehr wir an einer möglichst idealen Auszeit herumdoktern, desto stärker kommen wir aus der Ruhe. Umso mehr Druck, desto weniger Schlummer. Beginnt man den körperlichen Prozess anzutreiben oder zu kontrollieren, verzieht er sich wie ein sensibles Nachtwesen, in dessen Revier man unnötig Lärm oder zu helles Licht macht. Die britische Therapeutin Camilla Stoddart erinnert das permanente Herumzupfen an der vollkommenen Nacht an den Mechanismus der chinesischen Fingerfalle: „Je fester man daran zieht, desto heftiger steckt man in Schwierigkeiten.“

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie außerdem konkrete Tipps rund ums Schlafen in Zurück zum gesunden Schlaf.

Und im Labor, in dem Insomniepatienten umfassend durchleuchtet werden, kommt Christine Blume zu einer ähnlichen Erkenntnis wie Russell: „Das, was wir messen, und das subjektive Empfinden der Untersuchten stimmen sehr oft überhaupt nicht überein.“ Ein Forschungsteam kam in einer Studie mit rund 1500 Teilnehmenden zu demselben Ergebnis: Die gefühlte Schlafqualität wich häufig deutlich von den gemessenen Werten ab. Diese Erkenntnis ist genauso für die behandelnden Psychologinnen und Psychologen elementar: „Wir sind nicht gut darin, anhand der Messungen im Schlaflabor vorherzusagen, wie gut oder schlecht jemand seinen Schlaf bewertet“, fasst Blume zusammen.

Deshalb geht es bei der professionellen Behandlung längst nicht mehr vorrangig darum, die Personen mit guten Zahlen zu besänftigen, sondern an ihrer Wahrnehmung zu arbeiten. Was unsere Nachtruhe so oft kaputtmacht, ist nämlich der negative Blick darauf. Etliche Personen haben ordentliche Werte und denken dennoch, eine miserable Nacht hinter sich zu haben.

Der richtige Mix an Schlafstadien

Die Expertin erklärt: „Bei der nichtorganischen Insomnie, bei der keine körperlichen Ursachen zu finden sind, behandeln wir deshalb immer nur das Gefühl.“ Das Ziel sei, das Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen. „Er wird, wenn wir ihn nur machen lassen, in den meisten Fällen den richtigen Mix an Schlafstadien zusammenstellen. Ich versichere: Das kann er.“ Blume und ihre Kollegen arbeiten im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie unter anderem mit dem Prinzip der Bettzeitbegrenzung: Man verbringt weniger Zeit darin, als man bräuchte, um so den natürlichen Schlafdruck wieder aufzubauen. In dieser verkürzten Spanne ist der Schlaf weniger fragmentiert, man wacht seltener auf. „Das Wichtigste aber: Er wird oft als besser wahrgenommen. Patientinnen und Patienten können so wieder lernen, dass sie gut schlafen können.“

Nicht ganz unschuldig an der Hysterie war vielleicht auch ein Buch des Forschers Matthew Walker: Why We Sleep erschien 2017 – zum selben Zeitpunkt, als die ersten Nachtkontrolleure begannen, ihre Zeit im Bett unter die Lupe zu nehmen. Zuerst war das Werk die neue Bibel, danach erzeugte es zunehmend Kritik. Dem Wissenschaftler war es zwar ein ernstes Anliegen, der Nacht dringend mit größerer Achtsamkeit und Fürsorge zu begegnen, doch seine strengen Anweisungen machten viele Leser zunehmend unruhiger und unsicherer. In wütenden Blogbeiträgen schrieben sie, durch Walkers Vorschläge erst eine Schlafstörung entwickelt zu haben. Seine Antwort: „Sofort jeden Gedanken daran stoppen. Hören Sie keinen Podcast mehr von mir, lesen Sie nicht mein Buch und suchen Sie sich professionelle Unterstützung.“

Wie ginge es also besser? Wie hören wir auf, gestresst und übermüdet selbst den Schlaf optimieren zu wollen? Alle Experten sind sich einig – es ist überhaupt nicht die Nacht, auf die man den Fokus richten müsste, es ist der Tag: wie früh wir aufstehen, wie viel Tageslicht wir abkriegen, wie viele Pausen wir machen. Wie ruhig wir atmen. Wie geborgen wir uns fühlen. Ob wir gute Begegnungen haben. Wie spät wir noch arbeiten, essen. Ob wir auf die Tagesschau, anstrengende Diskussionen, die spannende Serie verzichten. Das sind die Dinge, die unseren Schlaf maßgeblich beeinflussen – und es ist wichtig, unseren eigenen Perfektionismus und Optimie­rungsdrang zu hinterfragen. Christine Blume unterstreicht: „Wir können eine Schlafstörung nur beheben, wenn wir unseren Alltag verändern.“

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Quellen

Aric Prather: Das 7-Tage-Rezept für guten Schlaf. Ullstein Taschenbuch 2024

Bregje Hofstede: Einschlafen. Wie eine Schlaflose die Nacht zurückerobert. Oktaven 2022

Russell Foster: Life Time. Penguin Random House Uk 2023

Kelly Glazer Baron u.a.: Orthosomnia: Are some patients taking the quantified self too far? Journal of Clinical Sleep Medicine, 13/2, 2017, 251-354

Katherine Kaplan u.a.: When a gold standard isn't so golden: Lack of prediction of subjective sleep quality from sleep polysomnography. Biol Psychology, 123, 2017, 37-46

Alexandria Muench u.a.: We know CBT-I works, now what? Faculty Reviews, 11/4, 2022

Matthew Walker: Why We Sleep. Unlocking the Power of Sleep and Dreams. Simon & Schuster 2018

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2025: Mit schwierigen Menschen leichter leben