Herr Schorb, immer mehr Menschen beschäftigen sich mit ihrer Gesundheit, tragen Fitnesstracker, ernähren sich bewusst, meditieren oder treiben Sport. Was beunruhigt Sie daran?
Sich mit seiner Gesundheit zu beschäftigen ist nicht per se schlecht. Aber ich untersuche, welche Auswirkungen dieser Trend auf die Gesellschaft hat, und sehe dabei problematische Tendenzen. Es gibt zunehmend einen gesellschaftlichen Druck, dass man gesund leben soll. Wobei gesund nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit verstanden…
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Druck, dass man gesund leben soll. Wobei gesund nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit verstanden wird. Die Erwartungshaltung, sportlich, schlank und fit sein zu müssen, führt noch stärker zu einer Herabwürdigung derjenigen, die das aufgrund ihrer Lebensumstände oder aus individuellen Gründen nicht erfüllen können oder wollen. Gesundheit ist heute stärker als früher zum Statussymbol und Abgrenzungsmerkmal geworden. Gesundheit ist die neue Moral, die es mir in einer pluralistischen Gesellschaft erlaubt, mich ungestraft über andere zu erheben.
Was hat die körperliche Fitness denn mit der gesellschaftlichen Stellung zu tun?
Je höher man auf der Karriereleiter steigt, umso mehr wird heute erwartet, dass man auch körperlich überlegen ist. Bis in die 1970er Jahre war das Klischee eines Managers ein eher rundlicher Mann mit Zigarre und Cognacglas in der Hand. Heute ist es das eines Durchtrainierten, der Marathon läuft. Das heißt: Manager sind jetzt nicht nur von ihrer Durchsetzungskraft und vielleicht auch von ihrer Intelligenz her ihren Untergebenen überlegen, sondern auch körperlich. So wird Gesundheit zur Voraussetzung für gesellschaftliche Erfolge in Bereichen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hat. Wer Profisport betreibt, muss natürlich fit sein. Aber für eine Führungskraft sind die Anforderungen an einen Job andere, als Marathon zu laufen.
Kann es Ihnen nicht egal sein, ob eine Managerin oder ein Manager in der Freizeit stundenlang trainiert?
Natürlich stört es mich nicht, wenn jemand Marathon läuft. Aber die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung erachte ich für problematisch, weil damit bestimmte Botschaften transportiert und auch öffentlich inszeniert werden: das Bild eines Übermenschen, eines Superhelden. Das verleiht ihnen noch mehr Macht und bietet eine Rechtfertigung dafür, dass einem das, was man besitzt, auch zusteht. Und dass man sich noch mehr vom Kuchen abschneiden darf. Gleichzeitig wird damit auch suggeriert: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und für sich selbst verantwortlich.
Sie meinen: Jeder kann es schaffen, gesund zu leben, und wer es nicht schafft, hat sich nicht genug angestrengt?
Ja, es wird das Bild vermittelt: Wir machen es euch ja richtig vor, wir leben gesund. Wenn ihr unseren Lebensstil nicht nachmacht, seid ihr selbst schuld. Wenn Führungskräfte Marathon laufen möchten, sollen sie das gern machen, gefährlich ist nur die ideologische Botschaft, die sie dabei mal bewusst, mal unbewusst transportieren: „Guck mal, ich trainiere täglich und leite noch eine Firma und du hängst zu Hause rum und beziehst Geld vom Staat.“ Die Frage, ob jemand gesund oder krank ist, ist dann nur noch eine des eigenen Verhaltens.
Und das wird als Healthismus bezeichnet?
Healthismus heißt, dass Gesundheit nicht mehr Mittel zum Zweck ist, um ein erfülltes Leben führen zu können, sondern zum Selbstzweck wird, zu einer Belohnung für vorbildliches Verhalten. Krankheit hingegen wird zum Symbol des Scheiterns. Wer sich richtig ernährt, nicht raucht, sich genug bewegt, ausreichend schläft, Stress vermeidet, der bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall und keinen Krebs. Wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben. Das gefährdet die Solidargemeinschaft, weil es zum Beispiel die Frage aufwirft: Warum sollen alle die gleichen Krankenkassenbeiträge zahlen, wenn die Kranken selbst schuld sind?
Muss Gesundheit immer eine Frage des Geldes sein? Sich im Alltag mehr zu bewegen kostet nichts, und sich ausgewogen zu ernähren kann sogar günstiger sein, als Fastfood zu essen.
Es geht nicht allein darum, ob sich jemand die Mitgliedschaft im Fitnessstudio, den Yogakurs oder die Sportkleidung leisten kann, sondern auch darum, welchen Einfluss die finanzielle Lebenssituation indirekt hat: also die Frage, ob sich Sport und gesunde Ernährung in den Alltag integrieren lassen. Wenn ich alleinerziehend bin oder kleine Kinder habe und keine Hilfe erhalte, mir keinen Babysitter leisten kann, ist es schwierig, zeitlich noch das Fitnessstudio zu vereinbaren. Und wenn es um das Thema Ernährung geht, wird gern übersehen, dass das einer der ganz wenigen Bereiche ist, in denen Eltern mit wenig finanziellen Mitteln ihren Kindern Wünsche erfüllen können und zum Beispiel im Supermarkt mal nicht nein sagen müssen, wenn die Kinder Süßigkeiten möchten.
Wir verbringen immer mehr Zeit vor dem Bildschirm und essen viel industriell gefertigte Nahrung. Ist es da nicht gut, wenn wir uns alle stärker mit unserer Gesundheit befassen?
Natürlich ist es gut, wenn Menschen sich körperlich bewegen und ein bisschen auf ihre Ernährung achten. Aber ich halte die Illusion für gefährlich, Gesundheit individuell lösen zu können, in einem sozialdarwinistischen Sinne. Sicher kann man etwas für seine Gesundheit tun, aber es gibt viele strukturelle Einflussfaktoren, die sich nicht durch individuelle Verhaltensänderungen aus der Welt schaffen lassen.
Welche Einflussfaktoren?
Zum Beispiel: Funktioniert die Kinderbetreuung und gibt es für alle einen bezahlbaren Wohnungsmarkt, einen bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr, ausreichend sozialstaatliche Leistungen und auskömmliche Löhne? Diese Einflussfaktoren geraten aber aus dem Blickfeld, wenn es bei dem Thema Gesundheit nur noch um personalisierte Fitness- oder Ernährungsmethoden, die neuste Yoga-App, Glücksratgeber oder Entspannungstechniken geht. Das sind alles wunderbare Add-ons, die ich nicht verteufeln will und die sicherlich schon vielen Menschen geholfen haben und helfen. Nur haben sie ihre Grenzen.
Braucht es immer die Politik, damit eine Gesellschaft gesund leben kann?
Ja, unbedingt. Damit wir gesund leben können, brauchen wir ein gemeinsames Fundament. Wir haben zum Glück ja auch eine sehr gute Basis an Wohlstand und technischem und wissenschaftlichem Fortschritt. Aber manches gerät derzeit wieder in Gefahr, wenn die Infrastruktur vernachlässigt wird oder durch Privatisierungen sozialstaatliche Leistungen ersatzlos gestrichen werden. Der Rückzug des Staates hat auch negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit, wenn zum Beispiel Flüsse stark verunreinigt sind. Das haben wir vor kurzem während der Olympischen Spiele in Frankreich erlebt, als die Wasserqualität der Seine für den Olympiatriathlon zu schlecht war, weil die Abwässer nicht geklärt wurden.
Wie sieht denn eine gute Gesundheitsförderung aus?
Public health ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die die Gesundheit der ganzen Bevölkerung im Blick hat. Dazu gehören Arbeitsschutz- und Arbeitssicherheitsmaßnahmen ebenso wie Feinstaub- und Grundwasserverordnungen, um sauberes Wasser, saubere Luft und saubere Böden zu garantieren. Dazu gehört ein soziales Netz, das sicherstellt, dass Menschen genug zu essen haben, nicht obdachlos werden und ihnen nicht der Strom abgestellt wird. Eine gute Gesundheitsförderung sorgt dafür, dass es in Schulen saubere Toiletten und ausgewogenes, hochwertiges Essen gibt und dass gesundheitsförderliche Lebenswelten geschaffen werden, wie eine fußgängergerechte Stadt. Und ganz wichtig: Alle Menschen sollten Zugang zu einem Gesundheitssystem haben, das solidargemeinschaftlich getragen wird. Wir sollten nicht den Anspruch haben, alle brutal disziplinierte Einzelkämpfer zu werden.
Wie muss eine Gesundheitsförderung aussehen, damit es den Menschen psychisch gutgeht?
Wenn Gesundheitsförderung wirklich wirksam werden soll, darf sie sich nicht nur darauf beschränken, vor Gesundheitsgefahren zu warnen und Bewältigungsstrategien zu lehren. Sie muss auch Menschen dazu befähigen, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Um das zu erreichen, müssen sich Menschen organisieren und sich gemeinsam für eine gesundheitsförderliche Umwelt starkmachen.
Manche Gesundheitsgurus wollen mit ihren Langlebigkeitskonzepten den körperlichen Abbau nicht nur verzögern, sondern auch aufhalten und umkehren. Wie beurteilen Sie das?
Bei diesem Streben nach körperlicher Unsterblichkeit gruselt es mich. Das hat wieder etwas Übermenschliches. Ob sich künftig wirklich Gentherapien entwickeln lassen, die nicht nur Krankheiten verhindern, sondern sämtliche menschlichen Zellen verjüngen können, ist derzeit noch reine Spekulation. Aber selbst wenn es eines Tages so weit sein sollte, werden solche Therapien für den Großteil der Bevölkerung unbezahlbar sein. Statt die durchschnittliche Lebenserwartung aller Menschen zu erhöhen, würde solch eine Entwicklung wohl nur die Lebenserwartung zwischen armen und reichen Menschen weiter auseinanderklaffen lassen.
Der US-amerikanische Millionär Bryan Johnson ordnet sein ganzes Leben dem Ziel unter, den Prozess seiner körperlichen Alterung aufzuhalten. Dafür wirft er Pillen ein, verfolgt eine strikte Diät und unterzieht sich diversen Therapien.
Das kostet ihn jedes Jahr mehrere Millionen Dollar. Und dann stellt sich auch die Frage: Was wollen diese Menschen mit ihrer gewonnenen Zeit anfangen? Ich denke, dahinter steckt ein sehr narzisstischer Gedanke. Man hält sich selbst für so genial, wichtig und einzigartig und will sich jetzt noch mit der Unsterblichkeit über die Sterblichen erheben.
Hat der Trend nicht auch Vorteile? Leben Menschen heute nicht gesünder und glücklicher als früher?
Welche psychologischen Störungen vorrangig diagnostiziert werden und wie die Betroffenen behandelt werden, sagt viel über eine Gesellschaft aus. In der Nachkriegszeit wurden vornehmlich Neurosen oder Schizophrenien diagnostiziert. Kam man damals mit dem engen Rollenkorsett nicht klar und wollte ausbrechen, litt man unter Hysterie. Heute dominieren Diagnosen wie Depression und Angststörung.
Das ist auch ein Ausdruck davon, dass wir den gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht werden. Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung, Erfolg und das individuelle Streben nach Glück werden zum Leitbild erklärt. Diese Erwartungen sind nicht wirklich greifbar, sie ändern sich schnell und es gibt keinen sicheren Hafen, in den man sich zurückziehen kann. Das führt zu einem verstärkten Rückzug auf den Körper und zu der Illusion, dass ich mich gegen die Zumutungen einer zunehmend als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen Umwelt wappnen kann, wenn ich ihn nur richtig trainiere, jeden meiner Schritte zähle, mich nach ganz bestimmten Regeln ernähre.
Aber wenn so viele Menschen sich mit ihrer Gesundheit beschäftigen, sind wir dann nicht alle auch im Durchschnitt gesünder?
Eigentlich sollte man das erwarten, aber die Lebenserwartung in den westlichen Ländern stagniert, was nicht nur mit der Coronapandemie zusammenhängt. Gleichzeitig steigt die Einnahme von Schmerzmitteln und anderen Medikamenten extrem an, besonders die von Psychopharmaka wie Antidepressiva.
Aktuell gibt es den Hype um die Abnehmspritze. Was bedeutet es, wenn Menschen nun mithilfe von Medikamenten Gewicht verlieren können?
Die Auseinandersetzung, ob nur ein dünner Körper als gesund und attraktiv gelten darf, soll nun medizinisch und technisch gelöst werden. Damit wächst der Druck auf Menschen mit Mehrgewicht. Schließlich hätten ja jetzt alle die Möglichkeit, mit der Spritze ein gesellschaftlich akzeptiertes Körpergewicht zu erreichen. Ich befürchte, dass dieses Versprechen langfristig neue soziale und gesundheitliche Probleme verursachen wird.
Essen, schlafen, sich bewegen – das kann heute alles sehr kompliziert werden, wenn man alles richtig machen will. Verdirbt uns der Gesundheitswahn den Spaß am Leben?
Das ist natürlich sehr zugespitzt, aber ich sehe tatsächlich mehr negative als positive Entwicklungen. Es geht mir nicht um eine Kritik an einzelnen Lebensweisen. Aber der gesellschaftliche Druck ist hoch, wenn um einen herum alle berichten, wie erfolgreich sie mit ihren Fitness-, Entspannungs- oder Ernährungsmethoden sind. Social Media hat dabei natürlich einen starken Einfluss. Früher waren die Supermodels sehr weit weg. Jetzt werde ich von meinen Influencerinnen und Influencern ständig persönlich angesprochen und mir wird gesagt: Du kannst das schaffen, wenn du nur das richtige Leben führst – und meine Produkte konsumierst!
Eigentlich sollte es ja darum gehen, Bewegung, Natur, frische Luft oder gutes Essen einfach zu genießen, Spaß daran zu haben, sich auszupowern. Wenn ich das alles aber nur mache, weil ich mich mit irgendjemandem vergleiche oder meine Fitness-App mir sagt, dass ich mich diese Woche zu wenig bewegt habe, sind all diese Dinge nicht mehr zweckfrei. Am Ende liegen wir nach einem langen Arbeitstag endlich gemütlich auf dem Sofa, können aber immer noch nicht entspannen, weil wir ein schlechtes Gewissen haben, dass wir schon wieder nicht zum Achtsamkeitstraining gegangen sind.
Wie kann man sich schützen, damit man nicht dem Gesundheitswahn verfällt?
Am besten wäre es, sich nicht permanent zu vergleichen und überwachen zu lassen: weder von Influencern und Instagram-Buddys noch von der eigenen Fitness-App oder Smartwatch.
Friedrich Schorb ist Soziologe und forscht an der Universität Bremen zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Sein Buch Healthismus über Gesundheit als Obsession ist bei Psychosozial erschienen.