Die Straße der guten Gewohnheiten

Wer sein Verhalten wandeln will, braucht vor allem eines: Willensstärke! Dabei liegt das Geheimnis der Veränderung oft ganz woanders, so die Forschung.

Die Illustration zeigt eine Frau mit einem Smartphone in der Hand, dahinter eine Straße in der am Horizont eine Erdbeere, ein Sneaker und eine Fitness-Hantel zu sehen ist
Bessere Ernährung, mehr Sport, weniger Handy: Die Straße zu guten Gewohnheiten ist lang und voller Stolpersteine. © Xaviera Altena für Psychologie Heute

Samstagabend im Kino. Felix hat sich die ganze Woche auf die Aktion mit den drei besten Freunden gefreut, die sie einmal im Monat machen. Wie immer kauft sich jeder am Eingang eine Cola und eine riesige Tüte mit süßem, buttrigem Popcorn. Felix hat gute Laune. Die Plätze sind bequem und der Film verspricht spannend zu werden. Lustvoll steckt er sich eine Handvoll Popcorn in den Mund. Bäh, der gepuffte Mais ist nicht knusprig und schmeckt, als wäre er schon mehrere Tage alt. Felix quatscht mit den Freunden.

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in den Mund. Bäh, der gepuffte Mais ist nicht knusprig und schmeckt, als wäre er schon mehrere Tage alt. Felix quatscht mit den Freunden.

Dann geht der Film los. Felix trinkt einen Schluck, seine Hand greift eine weitere Ladung Popcorn. Einmal. Zweimal. Dreimal. Als der Abspann läuft, wird dem Studenten bewusst, dass die Tüte drei viertel leer ist. Er ärgert sich. Knabbereien müssen die Sünde wert sein, das ist seine Devise, sonst sollte man sie besser sein lassen. Warum also hat er bloß so viel von dem schlechten Popcorn gegessen?

Hinter dem Mythos der Willenskraft

Die Geschichte von Felix im Kino ist fiktiv, doch viele Menschen haben schon ähnliche Erfahrungen gemacht: Man isst gedankenlos vermeintliche Leckereien, die einem nicht schmecken; sobald man abends auf dem Sofa liegt, schaltet man den Fernseher ein, obwohl man eigentlich den neuen Roman lesen wollte; jedes Mal, wenn man sich mit bestimmten Leuten trifft, trinkt man zu viel; nach einem Streit mit der Partnerin bestellt man schon wieder ein paar neue ­Schuhe.

Wenn wir uns genug über uns ärgern, beschließen wir: Es muss sich was ändern! Wir fassen feste Vorsätze und appellieren an unsere Selbstkontrolle. Ab morgen zwinge ich mich dazu, Kuchen oder Chips mit mehr Aufmerksamkeit zu essen. Von jetzt an bleibe ich standhaft bei nur einem Glas Wein. Bevor ich das nächste Paar Schuhe kaufe, überlege ich genau. Am Anfang verbuchen wir gewisse Erfolge, aber nach einer Weile lässt unsere Disziplin nach. Wir fallen in alte Muster zurück – und fühlen uns als Versager und Versagerinnen.

Um sein Verhalten zu verändern – mehr Sport treiben, gesünder essen, sparsamer werden –, muss man vor allem Willenskraft haben. Davon sind viele Menschen überzeugt. Und wenn sie mit ihren Zielen und guten Vorsätzen scheitern, dann schreiben sie es mangelnder Selbstdisziplin zu. So sagen hierzulande rund 40 Prozent der Befragten, der Grund, warum es bei ihnen mit der gesunden Ernährung nicht klappe, liege in ihrem fehlenden Durchhaltevermögen. Unter übergewichtigen Amerikanern und Amerikanerinnen glauben sogar 80 Prozent, dass fehlende Selbstkontrolle ihr größtes Hindernis bei der Gewichtsabnahme sei.

In Wahrheit bestehe das Problem nicht darin, dass unsere Vorsätze zu halbherzig oder wir zu undiszipliniert sind, sagt Wendy Wood, emeritierte Professorin für Psychologie und Wirtschaft an der University of Southern California, die seit vielen Jahren erforscht, wie Verhaltensveränderung am besten gelingt. Das Problem sei vielmehr, dass feste Vorsätze, Willenskraft und andere Funktionen, die der kognitiven Kontrolle unterliegen, keine verlässlichen Werkzeuge seien, um unser Handeln dauerhaft in eine andere Richtung zu lenken.

Ein Wecker klingelt und eine Frau bindet sich die Sportschuhe zu
Bessere Ernährung, mehr Sport, weniger Handy: Die Straße zu guten Gewohnheiten ist lang und voller Stolpersteine.
Ein Wecker klingelt und eine Frau bindet sich die Sportschuhe zu
Bessere Ernährung, mehr Sport, weniger Handy: Die Straße zu guten Gewohnheiten ist lang und voller Stolpersteine.

Gute Entscheidungen auf Autopilot

Solche exekutiven Funktionen sind zwar für manche Herausforderungen im Leben genau das, was man braucht, etwa für einmalige oder seltene Aktionen: Man beschließt beispielsweise, mit der Chefin über mehr Gehalt zu verhandeln; man sammelt seine Kräfte und macht einen Termin; man bereitet Argumente vor, die man dann mit gewählten Worten entschlossen vorträgt. Wer so vorgeht, stellt die Weichen richtig.

Für Veränderungen dagegen, bei denen ein langer Atem gefragt ist, sind sorgfältiges Nachdenken und Willenskraft weniger hilfreich. Beispielsweise wenn es darum geht, regelmäßig das Fitnessstudio aufzusuchen. Wenn man sich hier allein auf die kognitive Kontrolle verlassen wollte, müsste man vor jedem einzelnen Besuch die Vor- und Nachteile abwägen, Verlockungen wie der Hängematte oder einem Einkaufsbummel widerstehen und genug Eifer aufbringen, um die Sache wirklich durchzuziehen. „Auf diese Weise ist es viel zu anstrengend und würde uns kaum Zeit lassen, an irgendetwas anderes zu denken!“, schreibt Wood in ihrem Buch Good Habits, Bad Habits. Gewohnheiten für immer ändern.

Die Psychologin verweist auf einen wirkungsvolleren und entspannteren Weg: sich die Funktionsweise von Habits, also Gewohnheiten zunutze zu machen. Die Stärke von festen Routinen bestehe darin, sagt Wood, dass sie wie ein zweites Ich wirken, das unterschwellig arbeitet, ohne dass wir es überhaupt merken. Ist eine Gewohnheit erst mal etabliert, läuft sie wie von allein ab, ohne dass wir Willenskraft oder Selbstkontrolle brauchen.

Die an der University of Pennsylvania lehrende Verhaltensforscherin Katy Milkman vergleicht Gewohnheiten mit Standardeinstellungen beim Computer oder Handy. „Einmal festgelegt, kann man sie vergessen, was unserer angeborenen Faulheit zugutekommt“, schreibt sie in ihrem Buch How to Change. The Science of Getting from Where You Are to Where You Want to Be. „Sobald Gepflogenheiten eingeschliffen sind, lassen sie gewünschte Verhaltensweisen wie auf Autopilot ablaufen, ohne dass wir an sie denken müssen.“

Zur Routine machen

Eigentlich müssten wir uns mit Gewohnheiten gut auskennen, denn sie bestimmen einen großen Teil unseres Lebens. Nach einer Studie von Wood wiederholen Menschen in einander ähnelnden Situationen etwa 43 Prozent ihrer täglichen Handlungen – während sie über etwas anderes nachdenken. Sie handeln automatisch, ohne wirklich Entscheidungen zu treffen. Mit anderen Worten: Sie handeln gewohnheitsmäßig.

Fast jedes Verhalten kann zu einer Alltagsroutine werden. In Woods Untersuchung erledigten die Teilnehmenden 88 Prozent der täglichen Hygiene wie Duschen und Anziehen, 55 Prozent ihrer Aufgaben am Arbeitsplatz, 48 Prozent des Entspannens und Ausruhens sowie 44 Prozent ihrer sportlichen Aktivitäten, ohne einen Gedanken darauf zu verwenden. Das Alter machte keinen Unterschied; junge Menschen waren genauso Gewohnheitstiere wie ältere. Es spielte auch keine große Rolle, welche Persönlichkeitsmerkmale jemand hatte.

Im Schatten des Bewusstseins

Für etwas, das so wesentlich zum Menschsein gehört, seien uns Gewohnheiten seltsam unvertraut, schreibt Wood – was bei näherem Hinsehen allerdings gar nicht so seltsam ist. Unsichtbarkeit sei ein wesentliches Merkmal der Gewohnheit, erklärt die Psychologin. Gewohnheiten arbeiten so reibungslos, dass wir nicht an sie denken; genau das macht ihre Dauerhaftigkeit aus.

Die Welt der Gewohnheiten sei so in sich abgeschlossen, argumentiert Wood, dass es sinnvoll sei, sie als eine Seite von uns zu betrachten, „die im Schatten des denkenden Bewusstseins steht, das wir so gut kennen. Am Werk ist ein riesiger, halb verborgener, unbewusster Apparat, den wir zwar mithilfe von Signalen und Kommandos aus unserem Bewusstsein steuern können, der aber letztlich ein Eigenleben führt – ohne die Einmischung der kognitiven Kontrolle. Gewohnheiten sind etwas Unterschwelliges, Verstecktes. Wir haben nicht die gleiche Kontrolle über sie wie über unsere bewussten Entscheidungen.“

Wenn wir doch mal an unsere eingefahrenen Verhaltensweisen denken, so Woods Erfahrung, dann geschieht das, wenn wir schlechte Angewohnheiten in Schach halten wollen. „Wir führen unser bewusstes, entscheidungsfähiges Ich gegen unsere automatisierten Handlungen ins Feld.“ Man ermahnt sich vielleicht selbst, das Handy wegzulegen, wenn man mit den Kindern beim Abendessen sitzt. Oder man dreht beim Zähneputzen den laufenden Hahn zu, weil man sich plötzlich daran erinnert, dass man ja Wasser sparen wollte. „Auf diese Weise leben viele von uns permanent in einer Art innerem Krieg“, schreibt Wood.

Recycling ohne nachzudenken

Es gebe aber eine andere und bessere Möglichkeit. „Wir können unerwünschte Gewohnheiten verändern, indem wir gute Gewohnheiten ausbilden, die mit unseren Zielen über­einstimmen. Wenn unsere automatischen Handlungen dann erwünschte Handlungen sind, befinden sich unsere Gewohnheiten und Ziele in einem Gleichgewicht. Wir müssen uns nicht mehr auf unseren Willen verlassen.“ Unsere Gewohnheiten arbeiteten mit uns zusammen, anstatt sich gegen uns zu richten.

Viele tugendhafte Handlungen gingen ohnehin auf Routinen zurück, schreibt Wood. Man bedient automatisch den Blinker, wenn man die Fahrbahnspur wechselt. Man wirft die leere Flasche in den Recyclingmüll, ohne nachzudenken. „Unser Gewohnheits-Ich ist in vielerlei Hinsicht weniger beeindruckend als unser bewusstes, denkendes Ich. Aber es arbeitet ausgesprochen effizient.“

Diese mühelose habituelle Verfolgung von Zielen könne man ausbauen, versichert sie. Täglich Joggen gehen, für die Rente sparen, mehr kulturelle Angebote wahrnehmen, besser mit den Kollegen und Kolleginnen kommunizieren – all diese Dinge könnten in den Teil des Lebens integriert werden, der sich aus eingeschliffenen Verhaltensmustern speist und den man automatisch tut.

Gemüse als Belohnung

Wie wirkungsvoll Angewohnheiten sind, belegen Woods Studien. In einem Experiment untersuchten sie und ihr Team, ob es möglich wäre, Menschen gesunde Essensgewohnheiten „anzutrainieren“, die dafür sorgten, dass sie sich trotz süßer Verlockungen automatisch vernünftig verhalten. Die Antwort lautete: ja.

Das Team wählte Studentinnen aus, die gesunde Ernährung für wichtig hielten, die aber auch sehr gerne Schokolade aßen – ein Dilemma, das viele Menschen kennen. Im ersten Schritt spielten die Teilnehmerinnen ein Computerspiel, bei dem sie Karotten gewinnen konnten. Sobald sie einen lilafarbenen Wirbel auf dem Bildschirm sahen, mussten sie einen Joystick innerhalb von zwei Sekunden in die Richtung eines Karottenfotos bewegen. Nachdem sie dies viele Runden lang durchgespielt hatten, bekamen sie ihren Gewinn in Form von echten Babymöhren ausgezahlt. Die Studentinnen mochten Möhren und sie waren hungrig ins Labor gekommen; das Gemüse stellte also eine Belohnung für sie dar.

Möhre oder Schokolade?

Am nächsten Tag wurde das Prozedere zur Auffrischung wiederholt. Dann änderte das Team das Spiel. Um sie kognitiv zu ermüden mussten die Teilnehmerinnen zunächst eine schwierige Denkaufgabe lösen. Nun kam die neue ­Anforderung: Die Studentinnen konnten nun entweder Möhrchen oder M&Ms gewinnen, je nachdem ob sie den Joystick in Richtung des Möhrenfotos oder eines Fotos mit M&Ms bewegten. Die entscheidende Frage: Würden sie ­weiterhin die gesunde Alternative wählen oder der Versuchung von Schokolade nachgeben?

Die Antwort: In 55 Prozent der Durchgänge entschieden sich die Teilnehmerinnen weiter für Karotten. Das mag auf den ersten Blick nicht ­besonders eindrucksvoll klingen. Man muss aber berücksichtigen, dass die Teilnehmerinnen M&Ms viel lieber mochten als Möhren – und dennoch entschieden sie sich eher für das Gemüse. Gewohnheit, so das Fazit des Teams, schützte sie vor ungesunden Verführungen; sie hatte die Selbstkontrolle ersetzt.

Das Team änderte das Spiel nun ein weiteres Mal und störte die gelernte Routine: Als auslösendes Signal diente nun statt des lila Wirbels ein Bild mit braunen Stacheln. ­Zudem war das Karottenbild nicht mehr wie zuvor unten, sondern links auf dem Bildschirm zu sehen. Nun entschieden sich die Teilnehmerinnen plötzlich in 63 Prozent der Durchgänge für M&Ms.

Die Erklärung: Durch die Änderungen war die eingeübte Reaktion blockiert. Die Teilnehmerinnen mussten nun bewusst eine Option wählen – und sie entschieden sich öfter für die leckere Schokolade und nicht für die gesunden Karotten. Die Studie stelle die gängige Meinung auf den Kopf, schreibt Wendy Wood. Wir glaubten gemeinhin, dass Gesundheit, Glück und Erfolg mithilfe von Überlegung und Willenskraft zu erreichen seien. Doch wenn man die richtigen Gewohnheiten habe, seien diese in Wahrheit „das bessere Ich“.

In der Tat verlassen sich viele disziplinierte Menschen auf Gewohnheiten, wie die Forschung belegt. In einer 2015 veröffentlichten Studienserie mit über 2200 Teilnehmenden zeigten Brian Galla (University of Pittsburgh) und Angela Duckworth (University of Pennsylvannia), dass Menschen, die über ein hohes Maß an Selbstkontrolle verfügen, oft hilfreiche Routinen etabliert haben. Sie verhalten sich nicht etwa diszipliniert, weil sie Verlockungen mit Willenskraft in Schach halten, sondern weil sie ihr Leben so strukturiert haben, dass sie gar nicht erst in Versuchung geraten.

Die drei Erfolgsfaktoren

Wenn sich eine gute Gewohnheit etabliert hat, dann läuft sie fast wie von allein. Das ist gut und schön, mögen jetzt viele denken, aber wie kommt man dahin? Drei Elemente, so zeigt die Forschung, sind entscheidend, um aus einer bewussten Handlung einen Automatismus zu machen: Kontext, Wiederholung und Belohnung. „Je öfter man eine Handlung in einer vertrauten Situation wiederholt und dafür eine Belohnung erhält – sei es Lob, Linderung von Schmerz, Genuss oder Geld –, desto automatischer wird unser Tun in solchen Situationen“, erklärt Katy Milkman.

Auch wichtig zu wissen: Gute und schlechte Gewohnheiten basieren auf den gleichen Lernmechanismen. Kontext, Wiederholung und Belohnung sind also auch relevant, wenn man eine schlechte Angewohnheit ablegen oder ein selbstschädigendes Verhalten durch ein gesünderes ersetzen will.

1 Kontext

Den Kontext kann man mit der Straße vergleichen, auf der man fährt. Für eine gute Fahrt sollte sie möglichst eben sein. „Schauen Sie sich die Kontexte an, in denen Sie leben“, rät Wood: „Beseitigen Sie Reibung und bringen Sie passende antreibende Kräfte zum Einsatz.“ Eine einfache Strategie eine Umgebung zu schaffen, die Gewohnheitsbildung unterstützt, basiere auf der Macht räumlicher Nähe, erklärt die Psychologin: Wir beschäftigen uns eher mit dem, was nah ist, während wir Weiter-weg-Liegendes gerne ignorieren.

Schon ein kleiner Distanzunterschied kann eine große Wirkung haben. In einer Studie von Gregory Privitera und Faris Zuraikat (Saint Bonaventure University) konnten die Teilnehmenden Apfelschnitze oder Popcorn essen. Stand die Popcornschüssel direkt neben ihnen und die Äpfel etwas weiter weg, futterten sie mehr Popcorn (und nahmen damit 150 Kilokalorien zu sich). Stand dagegen die Obstschale in Reichweite und das Popcorn auf der fernen Anrichte, verspeisten sie mehr Apfelstücke (und konsumierten lediglich 50 Kilokalorien). Die Auswertung einer Datenanalysefirma zeigte, dass Personen, die eine Entfernung von sechs Kilometern zum Fitnessstudio zurücklegen mussten, fünfmal im Monat trainierten, während jene, die acht Kilometer weit weg wohnten, nur einmal im Monat zum Sport gingen.

Ein weiterer wichtiger Kontextfaktor sind die Menschen in unserer Umgebung. Zahlreiche Studien zeigen, dass wir mehr essen, wenn wir mit Leuten zusammen sind, die kräftig zulangen, und weniger, wenn sich unsere Begleitung mit kleinen Portionen begnügt. Wer lernen will, dauerhaft gesünder zu essen, sollte also lieber der Kollegin, die immer Brownies mitbringt, aus dem Weg gehen, rät Wood. Noch besser, ergänzt Milkman: sich mit Menschen umgeben, die einem auf der Lernkurve etwas voraus sind. Untersuchungen zeigen, dass es sehr wirkungsvoll sein kann, die Strategien von anderen nachzuahmen, die bereits das erreicht haben, was man selbst erreichen will. Also vielleicht mal die Nachbarin ansprechen, die jeden Nachmittag zum Powerwalk aufbricht.

2 Wiederholung

Hier kommt die schlechte Nachricht: Bis sich eine Verhaltensroutine in den neuronalen Netzwerken und im Gedächtnis etabliert hat, muss man die neue Handlung willentlich wieder und wieder ausführen. Und das kann durchaus ein Kampf sein, räumt Wood ein. Im Laufe der Zeit wird es aber in der Regel einfacher: Die Handlung kommt einem immer schneller in den Sinn, wenn man sich im vertrauten Kontext bewegt, und fällt einem zunehmend leichter, während man immer weniger an attraktivere Alternativen denkt. „An irgendeinem Punkt wird sie zur zweiten Natur“, so Wood.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass wir uns im Laufe der Entwicklung von Gewohnheiten immer weniger auf den präfrontalen Kortex verlassen, also den Teil des Gehirns, der dem Nachdenken dient, und immer mehr auf die Basalganglien und das Kleinhirn, also die Teile des Gehirns, die für Handlungsausführung und motorische Kontrolle verantwortlich sind. „Die Handlung wird zu einer Reaktion, die wir ohne bewusste Verarbeitung ausführen“, erklärt Katy Milkman.

Wie viele Wiederholungen sind erforderlich, bis es so weit ist? Eine Angabe, die man oft hört, lautet 21 Tage; auch die Zahl von 90 Tagen schwirrt herum. Doch das seien Mythen, sagen die Fachleute. In Wahrheit gibt es keine magische Anzahl von Tagen, sondern es kommt darauf an, wie komplex eine Handlung ist.

In einer 2023 von einem Team um Anastasia Buyalskaya von der HEC Paris veröffentlichten Studie dauerte es etwa zwei Wochen, bis sich Krankenhauspersonal bei jedem Patientenkontakt automatisch die Hände wusch, aber mehrere Monate, bevor Personen regelmäßig ins Fitnessstudio gingen. Am University College London führten Phillippa Lally und weitere Forschende eine Studie zu gesundheitsförderlichem Verhalten durch. Hier brauchten die Teilnehmenden 59 Tage, um gewohnheitsmäßig mehr Wasser zu trinken, 66 Tage, um ohne nachzudenken mehr Obst zu essen, und 91 Tage, bis sie regelmäßig Sport trieben.

3 Belohnung

Die Wirkung von Lob, Geschenken oder Aufmerksamkeit ist uns seit Kindertagen vertraut: Wir tun etwas, das wir so ohne weiteres nicht tun würden, weil wir dafür etwas bekommen, das wir gerne haben möchten. Das klingt simpel. Damit Belohnungen die Bildung von Gewohnheiten unterstützen, muss man aber ein paar Punkte beachten, erläutert Wood: So sollten sie am besten unmittelbar auf die Aktivität folgen, die man einüben will.

Belohnungen regen im Gehirn die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin an, der unter anderem für Motivation und Vorfreude wichtig ist. Dopamin scheine das Gewohnheitslernen allerdings nur für kurze Zeit zu unterstützen, schreibt Wood. Aus diesem Grund seien die effektivsten Gratifikationen oft intrinsisch, das heißt, sie entstehen aus der Handlung selbst heraus. Das kann beispielsweise das Glücksgefühl sein, das man angesichts der Begeisterung der Kinder empfindet, wenn man ihnen eine spannende Geschichte vorliest, oder die wohltuende Entspannung nach der Meditationsstunde. Aber auch extrinsische Belohnungen können recht unmittelbar und damit wirkungsvoll sein, beispielsweise die ehrwürdige Universitätsbibliothek, in die man zum Lernen geht, weil man sich dort immer wie eine zukünftige Spitzenforscherin fühlt.

Ebenfalls wichtig: Kreativität und Voraussicht walten lassen. Wer sich angewöhnen will, vegetarisch zu essen, sollte nicht auf das übliche Gemüseeinerlei zurückgreifen, sondern sich mit exotischen Ingredienzen, erfrischenden Smoo­thies und farbenfrohen Salaten verwöhnen. Sehr wirkungsvoll ist eine Strategie, die Milkman temptation bundling nennt und die sie selbst praktiziert: sich etwas Verlockendes (wie das neueste Audiobuch der geliebten Fantasyautorin) nur dann gönnen, während man sein Ziel verfolgt (zum Beispiel auf dem Laufband trainiert).

Auf Dauer wird Belohnung immer weniger wichtig. Eine fest etablierte Gewohnheit führt man sogar ohne unmittelbaren Lohn aus, sondern zehrt in gewisser Weise von dem guten Gefühl oder Lob aus der Vergangenheit. „Es ist, als wäre der Geist der früheren Belohnung noch lebendig“, sagt Wood. Man geht ins Fitnessstudio, auch wenn man gerade kein spannendes Hörbuch zur Verfügung hat, oder studiert, selbst wenn die großartige Bibliothek geschlossen ist.

Menschen, die Gewohnheiten bewusst einsetzen, schwören auf ihre Wirkungskraft. Dazu gehört auch die Geschäftsfrau Sophia Amoruso. Die Kalifornierin verbrachte die Teenagerjahre als trampende Nomadin, die Punkmusik machte und in Mülltonnen nach Wertvollem suchte. 2006 dann, mit nur 22 Jahren, baute sie ihren eBay-Shop für Vintageklamotten zu dem millionenschweren Unternehmen Nasty Gal aus und wurde zum gefeierten E-Commerce-Star. Das Unternehmen musste zwar später Insolvenz anmelden, doch Amoruso ließ sich dadurch nicht ausbremsen. Im Jahr 2017 gründete sie Girlboss Media, eine Onlineplattform für „ehrgeizige Frauen, die auf ihre eigene Weise erfolgreich sein wollen“.

Wie schafft sie es, so produktiv zu sein? Disziplin? Willensstärke? Von wegen. Die heute 40-Jährige beschreibt sich als von Natur aus faule Person, die es danach dränge, auf dem Sofa liegend Eiscreme zu essen und Reality-TV zu schauen. Auf LinkedIn verrät sie das wahre Geheimnis ihrer Schaffenskraft: Sie hat sich angewöhnt, Routinen zu entwickeln, die es ihr erlauben, Ziele auf möglichst bequeme Weise zu erreichen.

Den einfachen Weg gehen

Am Beispiel des morgendlichen Yoga erklärt sie, wie das funktioniert: Vor einer Weile hat sie sich vorgenommen, regelmäßig vor der Arbeit zur Yogastunde zu gehen, obwohl sie ein Morgenmuffel ist und abgelegen in den Hügeln von Los Angeles wohnt. Seitdem legt sie sich schon abends ihr Trainingsoutfit zurecht und packt Klamotten zum Wechseln ein. Zudem hat sie sich ein Studio ausgeguckt, das es ihr einfach macht: Matten, Blocks, Handtücher und Duschgel werden gestellt und es gibt einen großen Parkplatz vor der Tür.

„Nun gehe ich drei- oder viermal die Woche“, schreibt Amoruso. „Ich wache auf, gehe einen Meter, um mich anzuziehen, reinige mir im Bad schnell Zähne und Zunge und renne aus der Tür. Bislang habe ich kein einziges Mal den Unterricht verpasst und bin auch nicht zu spät gekommen.“

Gewohnheiten, versichert die schillernde Geschäftsfrau, hätten ihr Leben verändert. Und sie ermutigt andere, es ihr gleichzutun: „Finde einen Weg, Spitzenleistungen auf faule Weise erbringen zu können. Finde einen Weg, es so einfach zu machen, dass es schwer ist zu scheitern. Schreibe ‚Wasser trinken‘ in deinen Kalender, stelle einen Wasserkrug auf deinen Schreibtisch und noch einen weiteren direkt daneben. Setze alles daran, die Verhaltensweise so einfach zu machen, dass sie idiotensicher ist.“

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Exekutive Funktionen

Der Begriff bezeichnet eine Reihe von bewussten kognitiven Prozessen, mit denen wir Handlungen auswählen und steuern. Sie helfen uns dabei, Ziele zu setzen und zu erreichen, soziale Begegnungen zu bewältigen und angemessen auf neue und komplexe Situationen zu reagieren. Zu den exekutiven Funktionen (auch kognitive Kontrolle genannt) zählen Aufmerksamkeitssteuerung, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Emotions- und Motivationsregulation, Planung und Problemlösung; sie werden überwiegend im Frontallappen verortet.

Quellen

Wendy Wood u.a.: Habits in everyday life: thought, emotion, and action, Journal of Personality and Social Psychology, 83/6, 1281-1297, 2002.

Pei-Ying Lin u.a.: Healthy eating habits protect against temptations, Appetite, 103, 432–440, 2016.

Brian M. Galla & Angela L. Duckworth: More than resisting temptation: Beneficial habits mediate the relationship between self-control and positive life outcomes, Journal of Personality and Social Psychology, 109/3, 508–525, 2015.

Gregory J. Privitera & Faris M. Zuraikat: Proximity of foods in a competitive food environment influences consumption of a low calorie and a high calorie food, Appetite, 76, 175–79, 2014.

Lenny R. Vartanian u.a.: Modeling of food intake: a meta-analytic review, Social Influence, 10/3, 119–36, 2015.

Tegan Cruwys u.a.: Social modeling of eating: a review of when and why social influence affects food intake and choice, Appetite, 86, 3–18, 2015.

Phillippa Lally u.a.: How are habits formed: modelling habit formation in the real World, European Journal of Social Psychology, 40/6, 998–1009, 2010.

Anastasia Buyalskaya u.a.: What can machine learning teach us about habit formation? Evidence from exercise and hygiene, PNAS, Psychological and Cognitive Sciences, 120/17, e2216115120, 2023.

Katie S. Mehr u.a.: Copy-Paste Prompts: A New Nudge to Promote Goal Achievement, Journal of the Association for Consumer Research, 5/3, 329-334, 2020.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten