Die Altbauwohnung am Rande der Lüneburger Innenstadt ist ein Schmuckstück: hohe Decken, Dielenböden, gepflegter Zustand. Außerdem groß genug für eine junge Familie. Als Christian und Anke Weber den Mietvertrag unterschrieben, wähnten sie sich im Glück.
In der ersten Zeit fühlten sie sich mit ihren zwei Kindern in dem vierstöckigen Jugendstilhaus auch sehr wohl: Das Verhältnis zu den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern war locker. Wenn eine der Parteien im Garten grillte, wurden die anderen häufig mit…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
und Bewohnern war locker. Wenn eine der Parteien im Garten grillte, wurden die anderen häufig mit eingeladen. „Es war alles ziemlich entspannt“, erinnert sich Christian Weber, der hier nicht mit seinem richtigen Namen auftauchen möchte.
Der Stress begann, als weitere Familien im Haus Nachwuchs bekamen. Im Flur parkte nun regelmäßig ein Kinderwagen, dazu kamen Laufräder oder mal ein Roller – auch von den Webers. Ein Paar aus dem Erdgeschoss habe sich daran zunehmend gestört. „Die machten dann Druck, so nach dem Motto: Was ist, wenn ich wegen des Krempels stürze – zahlt in solchen Fällen überhaupt eure Versicherung?“, erzählt der Lüneburger. Immer öfter hätten die von unten sich nach Kindergeburtstagen über die Lautstärke beschwert. Abends habe es manchmal an der Tür geklingelt: Draußen lägen noch Spielsachen, die müssten weg.
Die Aggressivität nimmt zu
Nachbarinnen und Nachbarn nehmen unsere Post an, gießen unsere Blumen und leihen uns auch mal ein Ei. Sie können uns das Wohnen aber auch ziemlich verleiden. Glaubt man Daten des Meinungsforschungsinstituts Forsa aus dem Jahr 2017, ist Streit in der Nachbarschaft keineswegs ein Randproblem: Jeder oder jede Zweite lag demnach schon einmal im Clinch mit der Familie von gegenüber oder der WG von nebenan.
In manchen Wohnvierteln scheint die Aggressivität in den vergangenen Jahren zudem deutlich zugenommen zu haben. In diese Richtung deutet zumindest eine Analyse des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW. Demnach hatte sich das Zusammenleben in jedem zweiten der untersuchten Quartiere zwischen 2014 und 2019 verschlechtert. Als einen möglichen Grund nennt der GdW die Angst vor Jobverlust und Armut. Folge sei ein hohes Konfliktpotenzial, welches zu überforderten Nachbarschaften führe.
Der Politikwissenschaftler und Nachbarschaftsforscher Sebastian Kurtenbach von der Fachhochschule Münster hält das für Spekulation: „Es ist schwer, solche Trends zu interpretieren“, meint er. „Dafür fehlen in Deutschland schlichtweg genauere Untersuchungen zu Nachbarschaftsstreits.“ Es könne beispielsweise auch sein, dass die zunehmende Einrichtung digitaler Beschwerdeportale für den Anstieg verantwortlich sei. „Denn durch sie sinkt die Schwelle, einen Konflikt zu melden. Zudem ist die Form, in der das geschieht, bei anonymen schriftlichen Beschwerden oft besonders aggressiv.“
„Es wabert ein extremer Grasgeruch durchs Haus“
Lebhafte Einblicke in die dunkle Seite der Nachbarschaft bietet eine Website aus der Bundeshauptstadt: Auf der Plattform notesofberlin.com posten Betroffene und Unbeteiligte Fotos von Aushängen, mit denen Streithähne und -hennen ihrem Ärger über die Umwohnenden Luft machen.
Da geht es um Geräuschbelästigung („Sehr geehrte Dame, würden Sie Ihre sommerlich lautstarken Sexualpraktiken lieber mal bei geschlossenen Fenstern ausleben? Es gibt immerhin viele Kinder und auch normale Langweiler im Haus“), um Unappetitliches („An den Hundebesitzer/die Person, die an meine Tür pisst: Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du/dein Hund das unterlassen könntest“), um Marihuanadünste („In den letzten Wochen wabert nahezu Tag und Nacht ein extremer Grasgeruch durchs Haus. Vielleicht hilft manchmal auch ein Glas Wein oder Schokolade?“) oder um störenden Medienkonsum („Lieber Hinterhof-Nachbar mit dem großen Bildschirm, ja du, der gerne am Wochenende frühmorgens Pornos schaut. Wollte dich nur wissen lassen, dass man das von gegenüber durch die Gardinen sehen kann“).
Die meisten Menschen nehmen es so hin
Lärm, Dreck, Gerüche, unangemessenes Verhalten: Diese Themen finden sich bei Erhebungen regelmäßig unter den Top Ten der größten Störfaktoren. Wobei die Streitpunkte auch entscheidend davon abhängen, wie man wohnt. „Wir haben 2016 eine Umfrage des WDR in Nordrhein-Westfalen wissenschaftlich begleitet“, sagt Nachbarschaftsforscher Sebastian Kurtenbach. „Dabei kam heraus, dass die häufigsten Gründe für Konflikte sich je nach Wohnsituation unterscheiden. Im Grunde ist das nicht weiter überraschend: Wenn man eng nebeneinander lebt, im Hochhaus zum Beispiel, stören vor allem Dinge wie laute Musik oder das Grillen auf dem Balkon. In einer Siedlung von Einfamilienhäusern ist es dagegen eher der ungepflegte Garten oder das falsch geparkte Auto.“
Strittig ist, wie oft solche Reibungspunkte zu ernsthaften Zerwürfnissen führen. Kurtenbach vermutet, dass das eher selten der Fall ist. „Die meisten Menschen nehmen es einfach so hin, wenn sie etwas stört“, sagt er. „Sie ärgern sich vielleicht, sagen aber nichts. Das ist bei weitem am häufigsten, wie Umfragen zeigen. Nur wenn der Anlass groß ist – oder wenn sich die Betroffenen selbst gerade in einer sehr stressigen Situation befinden –, kommt es wirklich zu Streit.“
Für diese Sichtweise spricht, dass nur wenige Nachbarschaftskonflikte vor Gericht entschieden werden (selbst wenn manche Medienberichte anderes vermuten lassen). Im Jahr 2021 waren es gerade einmal 7048 Fälle bei mehr als 700000 abgeschlossenen Zivilverfahren insgesamt.
Eskalation in der Seniorenwohnanlage
Dennoch ist sicher, dass sich Konflikte auch hierzulande ganz gewaltig hochschaukeln können. Der Sozialpsychologe Robert Montau hat zwölf Jahre lang zwischen streitenden Mieterinnen und Mietern vermittelt (siehe Interview S.44) und seine Erfahrungen kürzlich zu einem Buch verarbeitet. Montau weiß aus eigener Anschauung, dass aus nichtigen Anlässen mit der Zeit manchmal wahre Kleinkriege entstehen. Etwa in dem Fall der zwei älteren Damen in einer Seniorenwohnanlage, die sich darüber stritten, wie häufig der Gang gelüftet werden sollte.
„Eine der beiden riss immer die Fenster auf, aus Angst, keine Luft zu bekommen“, erzählt Montau. „Ihre Nachbarin wollte dagegen Energie sparen und hatte Sorge, dass zu viel Wärme verlorengeht.“ Wenn die eine das Fenster öffnete, stürzte gleich die andere heraus, um es wieder zu schließen. Bis sie dabei eines Tages ihrer Kontrahentin den Finger einklemmte und übel quetschte. Es folgte ein Arztbesuch und daraufhin eine Anzeige wegen Körperverletzung.
Doch damit war das Drama nicht zu Ende: „Es gab in der Wohnanlage eine gemeinsame Waschküche“, sagt Montau. „Kurz nach der Anzeige bemerkte die Klägerin, dass bei ihrer Wäsche immer wieder die Temperatur von 30 auf 90 Grad hochgedreht wurde. Sie vermutete natürlich Mobbing durch die Nachbarin. So werden aus Mücken nach und nach Elefanten. Das ist ein Prozess der schrittweisen Verfeindung.“
"Bei Konflikten beginnt die Fantasie zu arbeiten"
Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt in seinem sogenannten Kaskadenmodell, wie Streitigkeiten in neun Stufen mehr und mehr eskalieren: Anfangs prallen zwar verschiedene Meinungen aufeinander, es gibt aber beiderseits das Interesse, sich zu verständigen. Je mehr sich jedoch die Fronten verhärten, desto stärker tritt der Wunsch in den Vordergrund, die Gegnerin oder den Gegner „zu besiegen“. Der ursprüngliche Anlass des Streits gerät dabei zunehmend aus dem Blick. Schließlich ist die Situation so festgefahren, dass die Betroffenen ohne externe Schlichtung nicht mehr herausfinden.
Ob es überhaupt zum Streit kommt und welche Dynamik er dann entwickelt, hängt auch von den beteiligten Persönlichkeiten ab. Der Münsteraner Forscher Sebastian Kurtenbach hat kürzlich eine deutschlandweite repräsentative Erhebung zum Thema Nachbarschaft durchgeführt. Darin gaben gut 10 Prozent der Teilnehmenden an, Stress mit Menschen in ihrem Wohnumfeld zu haben. „Wir haben die Beteiligten auch gefragt, ob sie leicht die Beherrschung verlieren“, berichtet Kurtenbach. „Diejenigen, die hierauf mit einem Ja antworteten, lagen besonders häufig mit Umwohnenden im Clinch.“
Wir zoffen uns zudem eher mit der Nachbarin oder dem Nachbarn, wenn wir ihnen Absicht unterstellen: Lassen die aus Gedankenlosigkeit die Musik so laut laufen oder machen die das extra, um mich zu ärgern? Ist das vielleicht sogar ein Psychotrick, mit dem die erreichen wollen, dass ich ausziehe?
„Bei Konflikten beginnt oft die Fantasie zu arbeiten – auch deshalb weil wir die Menschen, neben denen wir wohnen, meist nur oberflächlich kennen“, sagt der Sozialpsychologe Robert Montau. „Wir fragen uns, mit wem wir es eigentlich zu tun haben: Vielleicht wohnt dort ja jemand, der einfach bösartig ist, der nur danach trachtet, mir zu schaden. Bei einem Streit werden die Umwohnenden zur Projektionsfläche: Weil sie uns fremd sind, trauen wir ihnen alles zu.“
Hier wohne ich, hier bestimme ich
Nachbarschaftskonflikte bergen wohl auch deshalb so viel Zündstoff, weil wir eine besondere Beziehung zu unseren eigenen vier Wänden pflegen. Der schottische Wissenschaftler Ade Kearns hat vor einigen Jahren zusammen mit Kolleginnen eine Umfrage zu dieser Thematik durchgeführt.
Die Forschenden identifizierten dabei drei übergeordnete Aspekte, die Menschen mit ihrem Heim verbinden: Erstens dient es ihnen als sicherer Hafen und Rückzugsort. Wenn wir die Tür hinter uns schließen, sperren wir die Welt aus. Wir können unseren Aktivitäten nachgehen, ohne gestört zu werden. Zweitens ist es ein Ort der Autonomie: In unserem Heim können wir tun und lassen, was wir wollen, ohne andere um Erlaubnis fragen zu müssen. Und drittens signalisiert es unseren Status: Mit der Art und Weise, in der wir wohnen, demonstrieren wir, auf welcher Stufe der sozialen Leiter wir stehen.
Wenn uns aus dem Gemeinschaftsgarten die Grillschwaden um die Nase wabern oder wir von nebenan mit AC/DC beschallt werden, stößt das Ideal vom sicheren Hafen auf die bittere Realität. In unseren Augen verhalten sich die Nachbarn in diesem Moment übergriffig: Sie dringen in unser Revier ein. Wenn wir hinübergehen und um Ruhe bitten, fühlen die sich umgekehrt in ihrer Autonomie eingeschränkt. Für beide Parteien berührt der Streit also grundlegende Bedürfnisse des Wohnens.
Falls solche Konflikte häufiger vorkommen, kann uns das daher die eigenen vier Wände nach und nach vergällen. „Nachbarinnen und Nachbarn sind wichtig für einen Vorgang, den wir als homemaking bezeichnen – nämlich unsere Unterkunft zu unserem Heim zu machen“, erklärt die australische Nachbarschaftsforscherin Lynda Cheshire. „Wenn wir eine schlechte Beziehung zu ihnen haben, kann das dieses Gefühl von einem Zuhause untergraben.“ Am Ende dieses Prozesses steht dann mitunter der Auszug.
"Wir wollten einfach raus!"
Auch Familie Weber aus Lüneburg geriet immer häufiger mit dem Paar aus dem Erdgeschoss aneinander. „Unsere Kinder hatten inzwischen richtige Fahrräder, die sie zusammen mit unseren eigenen vor dem Haus abstellten“, sagt Christian Weber. „Die von unten fühlten sich dadurch in ihrer Privatsphäre gestört – ihre Erdgeschosswohnung hat Fenster zum Vorgarten, wo die Räder parkten. Bei der Schule an der Ecke gebe es Ständer, dort könnten wir sie doch anschließen. Und die Räder der Kinder könnten wir ja in den Keller stellen.“
Gemeinsame Grillaktionen gab es längst nicht mehr. Lief man sich im Treppenhaus über den Weg, setzte es jetzt stattdessen kleine Sticheleien: „Ihr hattet gestern Freunde zu Besuch, oder? War wieder etwas laut.“ In dieser Zeit begannen die Webers, sich verstärkt für den Immobilienteil der Landeszeitung für die Lüneburger Heide zu interessieren. „Wir wollten einfach raus.“
Immerhin neun Prozent aller Menschen sollen schon einmal wegen nervender Querelen im Wohnumfeld umgezogen sein. Auf diesen Wert kommt eine repräsentative Erhebung der Immobilienbörse immowelt aus dem Jahr 2011.
Unklar ist, ob in Nachbarschaften heute mehr gestritten wird als früher. Einerseits ziehen Menschen häufiger um. Damit sinkt möglicherweise auch ihre Bereitschaft, sich mit unliebsamen Umwohnenden zu einigen: Wer an seinem Wohnort fest verwurzelt ist, hat vielleicht ein größeres Interesse an einem harmonischen Zusammenleben. Andererseits waren frühere Generationen viel stärker auf die Unterstützung ihrer Nachbarinnen und Nachbarn angewiesen, sei es bei der Ernte oder der Betreuung der Kinder – diese Enge der Verbindung schaffte Reibung. Heute ist es für uns einfacher, die Personen in unserem Wohnumfeld auf Distanz zu halten.
Öl ins Feuer: Lockdown und Homeoffice
Dass äußere Umstände zumindest kurzfristig zu mehr Konflikten führen können, ist allerdings durchaus plausibel. So verbrachten die Menschen in der Pandemie durch Lockdown, Quarantäne und Homeoffice plötzlich viel mehr Zeit in den eigenen vier Wänden als zuvor. Das führte nicht nur innerhalb der Familien zu Stress. Auch im Wohnumfeld eskalierten nun mitunter schon Kleinigkeiten, über die man zu entspannteren Zeiten einfach hinweggeschaut hätte, zu ausgewachsenen Konflikten. Darauf deuten zumindest die Ergebnisse einer Umfrage unter norddeutschen Wohnungsunternehmen aus dem Jahr 2022 hin.
Die Webers aus Lüneburg zogen aus der immer unerträglicheren Situation schließlich Konsequenzen: Sie kauften sich ein Reihenendhaus, nur wenige hundert Meter von ihrer ehemaligen Wohnung entfernt. Auch dort gebe es manchmal kleinere Reibereien.
„Die Menschen in unserer Straße sind größtenteils deutlich älter und haben einen ganz anderen Rhythmus als wir“, sagt der 52-Jährige. „Das ist aber kein Problem, weil alle etwas Toleranz und Kompromissbereitschaft zeigen. Insgesamt fühlen wir uns in der neuen Nachbarschaft sehr wohl.“ Dennoch ist ein wenig Bedauern spürbar, wenn er von der alten Bleibe spricht. „Eigentlich war die Wohnung ein Traum. Ohne den permanenten Streit würden wir dort sicher heute noch leben.“
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie, was Sozialpsychologe Robert Montau Ihnen über den Umgang mit Nachbarschaftsstreits mitgeben kann in "Böse Menschen sind selten".
Quellen
Lynda Cheshire u. a.: Unneighbourliness and the unmaking of home. Housing, Theory and Society, 38/2, 2021, 133–151
Lynda Cheshire, Robin Fitzgerald: From private nuisance to criminal behaviour: neighbour problems and neighbourhood context in an australian city. Housing Studies, 30/1, 2015, 100–122
Hans-Peter Drews: Nachbarschaft in Deutschland. Präsentation, 2019, Ipsos
Gothaer Versicherung: forsa-Studie: Fast jeder zweite Deutsche streitet mit seinen Nachbarn. Presseinformation, 12/2017, 2017.
Immowelt: Wohnen und Leben 2012, 8/2012, 2012.
Ade Kearns u. a.: „Beyond four walls“. The psycho-social benefits of home: evidence from west central Scotland. Housing Studies, 15/3, 2000, 387–410
Yan Liu u. a.: The problems with neighbors: an examination of the influence of neighborhood context using large-scale administrative data. Urban Affairs Review, 59/1, 2023, 238–274
Berthold Meyer: Konfliktregelung und Friedensstrategien. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
Robert Montau: Nachbarschaft im Streit: sozialpsychologische Erkenntnisse für die Konfliktberatung. Psychosozial-Verlag 2023
Anne von Oswald u.a.: Herausforderung: Zusammenleben im Quartier. Die Entwicklung von Wohnquartieren in Deutschland. Wahrnehmungen, Schwierigkeiten und Handlungsempfehlungen. Mai 2019
Verband norddeutscher Wohnungsunternehmen: Corona führt zu mehr Konflikten. Presseinformation, 5/2022, 2022.