Tempel der Gelehrsamkeit

Sie ist die noble Repräsentantin der Universität. Imposante Bauten machen Lernen zum ästhetischen Erlebnis. Über die Psychologie der Hochschulbibliothek

Der große Lesesaal der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden
Im Zentrum der Universität Dresden beugen sich Studierende über ihre Bücher. Der Lesesaal bietet das perfekte Ambiente für Prüfungsvorbereitungen. © picture alliance/dpa | Oliver Killig

Wissen ist Macht – bedeutende Orte der Kultur sind daher oft Orte, an denen Wissen zusammengetragen, weitergegeben und aufbewahrt wurde. Diese Funktionen sind in der Hochschulbibliothek gebündelt. Der große psychische Einfluss von gebauten Umwelten auf Wohlbefinden, Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist seit langem unbestritten, und Lernumgebungen stellen dabei ganz eigene Anforderungen: Sie beeinflussen nicht nur die Lernleistungen von Studierenden, sondern auch deren sozioemotionale Gesundheit, deren…

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nicht nur die Lernleistungen von Studierenden, sondern auch deren sozioemotionale Gesundheit, deren Kreativität, Aufmerksamkeit und Fähigkeit, kritisch zu denken.

Die Hochschulbibliothek ist dabei immer mehr die eierlegende Wollmilchsau unter den Bildungsbauten: Sie soll ein konzentriertes Selbststudium, aber auch Gruppenlernen unterstützen; sie soll größere Räume für Vorträge bieten; sie soll für analoges und digitales Lernen gleichermaßen eingerichtet sein. Psychoästhetisch muss sie diese funktionalen Prozesse so unterstützen, dass emotionale und motivationale Befindlichkeit, Aktivierung, Aufmerksamkeit und Territorialbedürfnis jeweils optimal moduliert werden.

Zuhause-Erlebnis der Zugehörigkeit

Schon von außen verrät die Hochschulbibliothek oft, dass sie nobelste Repräsentantin der Universität ist. Sie hat einen ikonischen Charakter mit hohem Anspruch, sei es in Richtung Klassizität oder Innovativität. Waren es im 19. Jahrhundert imposante Tempelfassaden mit Figuren der Wissenschaften, der Künste oder berühmter Forschender, die psychologisch Staunen und Ehr­furcht auslösen sollten, sind es heute oft überdimensionale, abstrakte skulp­turale Volumen. Oder aber es sind kleine architektonische Schmuckstücke, die sich aufgrund ihrer formalen Besonderheit von ihrem Kontext vorteilhaft abheben.

Psychologisch reagieren wir auf solche außergewöhnlichen ästhetischen Signale mit mehreren Gefühlen, die sich aufs Studieren und Lernen sehr konstruktiv auswirken: Die Neuartigkeit steigert Aktivierung, Interesse, Aufmerksamkeit und erzeugt Neugier; die individuelle Besonderheit der Erscheinung vertieft die Bindungsbereitschaft zum Ort (sense of place) und die Identifikation mit der Institution, erzeugt also ein „Zuhause-Erlebnis“ der Zugehörigkeit.

Das Gefühl des Staunens über unerwartet intensive Qualitäten von Architektur wiederum steigert die Bereitschaft der Rezipientinnen, ihr Verhalten an Bedürfnissen der Gemeinschaft auszurichten, wie mehrere Studien herausgearbeitet haben. Weil Menschen ihre Umwelt besonders stark nach dem Grad der Faszination, des ästhetischen Zusammenhangs und der Heimatlichkeit – Englisch hominess – bewerten, macht eine derartige Hochschulbibliothek schon vieles richtig, bevor es ans eigentliche Lernen geht.

Sinkendes Erregungslevel

Der zentrale Lesesaal stellt den Höhepunkt der Erlebnisdramaturgie dar: Er ist häufig von oben belichtet und vergrößert die Distanz zum Alltag noch, indem er die kleinteiligen Grundriss- oder Geschossdimensionen aufsprengt und die Gefühle der Zugehörigkeit zu etwas Beeindruckendem und des Staunens verstärkt. Gleichzeitig sickern die ungewohnte akustische Gedämpftheit, die Geordnetheit und der starke ästhetische Zusammenhang des Umfelds langsam ins Bewusstsein, die Orientierung und Umgebungsverarbeitung wird leichter und die Anspannung und das Erregungslevel sinken, so dass sich die Aufmerksamkeit ohne Ablenkungen fokussieren kann. Wenn Ausblick in die Außenwelt überhaupt zuweilen zugelassen wird, dann gleich bewusst in eindrucksvoller Großflächigkeit, doch keinesfalls in die Alltagswirklichkeit hinein: Eine beruhigte, stilisierte Natur unterstützt hominess am besten.

Ist man solchermaßen dem hektischen Alltag enthoben, kann man in stiller Gemeinschaft mit anderen an einem der Tische im Lesesaal arbeiten. Vielleicht helfen kleine Tischlampen zusätzlich, den eigenen Platz zu einer Insel der ruhigen selektiven Aufmerksamkeit zu machen. Oder man verkriecht sich mit ausgeschaltetem Handy an einen Ecktisch der dämmrigen Gänge und Kabinette, anonym und geschützt vor Rollenzwängen und dem allgegenwärtigen Kommunikationsdruck, wo kein Klingelton das kunstvoll gewobene atmosphärische Netz der behutsamen Reizminderung und der Geschütztheit zerreißt.

Nach einer Weile stiller Konzentration steht man auf, streckt sich und sucht mit neuer Lust auf alltägliche Ablenkungen das Bibliothekscafé auf, um mit Leuten zu plaudern und die Aufmerksamkeit wieder frei schweben zu lassen. Der emotionale Parcours einer solchen Erlebnissequenz gibt innerhalb der Hochschulbibliothek also nicht nur Gelegenheit, effizient zu arbeiten, sondern erhöht durch seine gezielte ästhetische Stimmungsmodulierung und sein semantisches Framing auch die emotionale Bedeutsamkeit des Lernvorgangs. Und natürlich fördern die starke Orts­identität und das explizite Angesprochensein als Studierende auch die Bindung an die Institution und die Gemeinschaft.

Michael Heinrich ist Professor für psychologische Ästhetik und Design und Co-Leiter des Instituts Mensch & Ästhetik der Hochschule Coburg und der Universität Bamberg.

Quellen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2024: Aber danach fang ich wirklich an