Pythagoras soll die Zahlen regelrecht verehrt haben und besessen von ihrer Schönheit gewesen sein. So sehr, dass er hundert Ochsen schlachten ließ, nachdem er seinen berühmten Lehrsatz bewiesen hatte. Für viele von uns sind Zahlen indes eher nüchterne Fakten.
Aber sie geben Halt und Orientierung und folglich Sicherheit. Deshalb sollen Kinder, die nicht schlafen können, Schäfchen zählen. Daten und Nummern ordnen auch eine zusehends komplexe Welt. Sie machen vergleichbar, was sonst nie in Beziehung zu setzen…
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was sonst nie in Beziehung zu setzen wäre. Etwa wie lang die Ringfinger von Frauen und Männern sind und ob diese Fingerlänge etwas über deren Wesen aussagt. Die Zahlen haben unser Leben von der Wiege bis zur Bahre durchdrungen: Ohne Vermessung kann hierzulande kein Kind mehr geboren werden.
Die Digitalisierung und das Selftracking treiben das Leben nach Zahlen auf die Spitze: mit Geräten, die ununterbrochen im oder am Körper getragen werden, vom Smartphone bis zu Wearables. Die Zahlen werden zum Dauerbegleiter und das menschliche Verhalten wird zur Grafik.
Ständiger Vergleich mit anderen Menschen
Besondere Wirkungsmacht entfalten Zahlen dann, wenn sie mit den Profilen anderer in Beziehung gesetzt werden. Im Internet vollzieht sich dieser soziale Vergleich permanent und ohne Rückzugsmöglichkeit in eine digitale Privatsphäre. In den sozialen Medien von TikTok, YouTube bis zu Facebook zählen die Freunde, die Follower, die Likes und Herzchen. Sie sind eine Form der neuen Währung, Ausdruck von Erfolg und Anerkennung. Das Vordringen der Zahlen in alle Lebensbereiche hat Folgen: „Mit dem Fetisch des Wachstums hält der Wettbewerb nun auch in die Privatsphäre Einzug“, sagt der Philosoph Oliver Schlaudt von der Universität Heidelberg.
Wir können uns nicht mehr nur morgens wiegen, sondern permanent Schritte zählen und mit der Nachbarin vergleichen. Großer Beliebtheit erfreuen sich der Frauenärzteschaft zufolge Menstruationsapps, denen junge Frauen die Daten ihrer Periode und oft auch ihr Sexleben in Zahlen anvertrauen. Im Gegenzug zählen die Apps die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage aus – allen Warnungen der Fachärzteverbände zum Trotz (denn diese Information ist so unzuverlässig, dass sie nicht zur Verhütung taugt). Mitunter wird sogar etwas gemessen, das sich dem unmittelbaren Körpergefühl entzieht, etwa die Hirnströme beim Biofeedback.
„Das Selftracking ist mit der Verheißung verknüpft, dass wir etwas über unser Inneres erfahren“, stellt Benigna Gerisch fest. Die Psychoanalyseprofessorin von der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und ihre Kolleginnen und Kollegen erforschten in dem Projekt „Das vermessene Leben“ von 2018 bis Anfang 2023, wie sich die zunehmende Quantifizierung psychisch auswirkt und wie Nutzerinnen und Nutzer sich daran anpassen. Dafür führten sie qualitative Interviews mit Personen in Berlin, Jena und Frankfurt durch, die zu verschiedenen Zwecken Selftracking anwendeten. Darunter waren Teilnehmende mit Essstörung, die ihr Gewicht überwachten, genauso wie Hobbysportler, denen es um ihre Fitness ging.
Selftracking für den Perfektionismus
Das Vermessen des inneren Zustands verspricht eine Form der Selbstvergewisserung, auch der Objektivierung, da das Gefühl ja trügen kann. Die Zahlen aber, so der gesellschaftlich tiefverwurzelte Glaube, lügen nicht. Dass sie genauso irreführen können, davon wird später noch die Rede sein. Von einer Form der „Selbstverwissenschaftlichung“ spricht die Mediensoziologin Nicole Zillien von der Universität Gießen. Anstatt sich der inneren Welt zuzuwenden und in die eigenen Gedanken und Gefühle einzutauchen, wird ein Bruchteil an Information aus dem Inneren ins Äußere geholt. Diese Form der Externalisierung folgt neben dem Erkenntnisgewinn fast immer der Logik der Selbstoptimierung, analysiert Gerisch.
„Was du nicht messen kannst, kannst du nicht verbessern“, konstatierte schon der US-Ökonom Peter Ferdinand Drucker, der die Managementlehre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Selbstvermessung dient deshalb fast ausnahmslos der Perfektionierung, wie auch eine Erhebung unter Studierenden der Sportwissenschaften an der Universität Frankfurt aus dem Jahr 2015 unterstreicht: 60 Prozent der 63 Befragten nutzten verschiedene Formen des Selftrackings.
Oft handelte es sich um Puls-, Stopp- und Armbanduhren; einige verwendeten aber auch Stift und Papier. Sie gaben an, die Daten aus Interesse und mit dem Ziel festzuhalten, ihre Leistung zu verbessern oder um einzelne Parameter zu sammeln. Ein Studierender hoffte, infolge des Kontrollierens und Verbesserns seines Körpers später leichter eine Anstellung zu finden. Zwei weitere betonten, dass sie das Wetteifern mit anderen Trainierenden mittels der Daten reize und sie bei guten Ergebnissen auf Anerkennung hofften.
Studienautorin Stefanie Duttweiler, Soziologin an der Berner Fachhochschule, und Studienautor Robert Gugutzer, Sportsoziologe an der Universität Frankfurt, sprechen vom „quantifizierten Körperkapital“. Dabei haben die Selbstoptimierungstendenzen unterschiedliche Kolorierungen: Mal geht es darum, den Körper zu verbessern, mal darum, den eigenen Wert zu erhöhen oder besser dazustehen als andere.
Selbstoptimierung bis ins letzte Detail
Das Ziel der Optimierung kann sogar ausgesprochen subjektiv sein, worauf auch der Medienwissenschaftler Stefan Meißner von der Hochschule Merseburg hinweist, der das Selftracking des Schlafes erforscht hat. Zudem werden die Daten immer feinkörniger und reichen beispielsweise bis auf die Nanometerskala hinunter. Sichtbar wird das in HD-Filmen, also in hochaufgelösten Videoaufzeichnungen, die jedes Fältchen und Äderchen im Gesicht überlebensgroß auf dem Bildschirm zeigen.
Auch die Ziele der Selbstoptimierung können in der Folge immer kleiner und detailversessener werden. Sie sind dann oft völlig losgelöst von der Ganzheit des Körpers. Offenkundig wird diese Verengung des Blicks bei Schönheitsoperationswilligen, die etwa die Gestalt der Schamlippen oder Nase genauestens auf ihren ästhetischen Wert analysieren und mit anderen vergleichen, ehe sie sich zur OP entscheiden, um dem Ideal millimeterweise näherzukommen.
Die Ziele der Selbstvermessung sind grundiert von der Sehnsucht nach Größerem und Höherem. Zum Teil werden dafür externe Normen schlicht übernommen, etwa die Vorgabe der Weltgesundheitsorganisation, am Tag mindestens 10000 Schritte zu gehen, obschon dies keine wissenschaftliche Grundlage hat. Dann wieder werden Ideale, etwa von einem schlanken Körper, individualisiert und in eine fixe Zielzahl übersetzt. „Beim Gewicht darf auf keinen Fall eine Fünf vorne stehen, sonst ist das eine Katastrophe“, hörte die Psychoanalytikerin Gerisch von einer Probandin.
War der Schlaf vielleicht doch schlecht?
Die Selbstvermessung führt am Ende paradoxerweise zu einer Selbstentfremdung. Je exzessiver Probanden sie praktizieren, desto mehr beschreiben sie qualitativ, dass sie sich von ihrem Wesenskern entfernen. „Die Frau, die eine Fünf als erste Ziffer auf der Waage als Katastrophe empfand, lenkt sich mit dem dauernden Messen auch davon ab, warum sie das eigentlich möchte. Das wird noch dadurch verstärkt, dass es Angst machen würde und unangenehm wäre, sich diesen inneren Motiven zuzuwenden“, veranschaulicht Gerisch. Zugespitzt kann man sagen, dass Messen die Therapie verdrängt, und auch mit dem Beichten verträgt sich das Zählen nicht.
Wie viel Wahres darin liegt, wird klar, wenn man sich den Bedeutungsverlust der Religionen und den Aufstieg der Naturwissenschaften als nahezu einzig legitime Quelle von Erkenntnis vergegenwärtigt, obschon auch Naturwissenschaften Glauben voraussetzen, etwa dass es die Null, die Eins und „Unendlich“ überhaupt gibt. Und nicht ohne Grund gibt es Mathematiker, die die Existenz von „Unendlich“ bezweifeln. Es ist auch eine Frage des Glaubens. Aber wer sich pausenlos selbst vermisst, glaubt in erster Linie an die Aussagekraft und Macht der Zahlen – nicht an sich selbst.
Gerisch spricht von der Tyrannei der Zahl. Unter ihren Probandinnen und Probanden äußert sich diese darin, dass sie nur dann zur Ruhe kommen können, wenn die Zahl, die sie sich selbst erhoffen, auch wirklich dem Messergebnis entspricht. Klettert die Waage über 50 Kilogramm, der Blutdruck über 180, sind schlechte Gefühle vorprogrammiert. Die Betroffenen geißeln sich. Sie reagieren irritiert, wenn das Messergebnis ihrem Gefühl und ihren Erwartungen zuwiderläuft, wenn etwa der Schlaf laut Gerät schlecht gewesen sein soll, man sich aber ausgeschlafen fühlt.
„Nachdem das Selftracking zunächst eine Faszination ausübt, kommt es ziemlich rasch zu einer Ambivalenz gegenüber diesen Messwerten: Es entstehen Irritationen, wenn das eigene Gefühl etwas anderes sagt, und es kommt zu Frust, wenn die Zahlen sich nicht so kontrollieren und verändern lassen, wie erhofft“, erläutert Gerisch. Die schlechte Zahl bedingt ein schlechtes Gefühl. Obwohl das Selftracking oft dafür gelobt wird, die Selbstwirksamkeit zu verbessern, bewirkt es beim Auseinanderfallen von Mess- und Wunschwert das Gegenteil: Selbstkasteiung und eine Verminderung des Selbstwerts sind dann gerade keine Ermutigung.
Wie Selftracking das Körpergefühl stärken kann
Allerdings könnte das Selftracking im Einzelfall zum Selbst hinführen, im Sinne einer zeitweiligen Behelfsbrücke. In diesem Sinn lobte die Gynäkologin Stephanie Eder sogar die Menstruationsapps mit den Worten: „Ich finde die Apps toll, weil sich die jungen Frauen darüber überhaupt erst einmal mit ihrem Körper und sich selbst auseinandersetzen.“
In dieser Absicht wird die Selbstvermessung im Übrigen auch in der Therapie von Essstörungen eingesetzt, in der dann beispielsweise bei einer Magersucht definierte Ziele der Gewichtszunahme, aber eben auf Grundlage einer begleitenden Psycho- und Körpertherapie vereinbart werden. Die vordergründige Befassung mit den Zahlen muss im Verlauf aber einem Vordringen zu den inneren Motiven weichen. Welche Bedürfnisse werden mit dem Wunschgewicht befriedigt und welche verdrängten Sehnsüchte kaschiert? Die Behelfsbrücke der Selbstvermessung muss wieder zurückgebaut werden, damit sie die Reifung der Persönlichkeit unterstützt.
Die Risiken der Selbstvermessung liegen im Gegenteil: nämlich darin, dass das Selftracking sich verselbständigt und übermächtig wird. Die Fixierung auf die eigenen Daten kann dann sogar zwanghafte Formen annehmen. Gerisch berichtet vom extremen Beispiel eines Mannes, der seinen Alltag mit dem Sprachassistenten Siri zubrachte, der ihm sagte, wann er welche Trainingseinheiten zu absolvieren habe. Er erzählte von den verschiedenen Interaktionen mit Siri während seiner Hochzeitsreise nach Asien. „Über seine Frau haben wir dagegen gar nichts erfahren“, erzählt Gerisch.
In solchen Fällen wird das messende Gerät, die Smartwatch, das Smartphone oder eben der Sprachassistent Siri, zur scheinbaren Bezugsperson. „Die Uhr sagt mir, dass…“, schilderte ein Proband im Forschungsprojekt „Das vermessene Leben“ und machte damit deutlich, dass die Uhr für ihn einen personifizierten Charakter angenommen hatte. Die vermessenden Algorithmen sind derart komplex, dass der mechanische Charakter in den Hintergrund tritt und eine Bindung zur digitalen Entität entsteht. Im Takt von Klicks befriedigen die Geräte Neugierde, aber auch den Wunsch nach Verlässlichkeit und Verfügbarkeit des Gegenübers in einem Tempo, wie es in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht möglich wäre.
Die urmenschliche Sehnsucht nach Bindung ist es auch, die uns in ihren Bann zieht, wenn wir auf den Verlauf der Followerzahlen unseres neu veröffentlichten YouTube-Videos schauen. Eigentlich interessiert uns, wie andere unser Werk finden, wir sehnen uns nach einem zwischenmenschlichen Feedback und primär nach Anerkennung. Der Algorithmus bedient dieses Bedürfnis mit einer Zahl – an Aufrufen und Likes. Da digitale Geräte Bindungsbedürfnisse schneller und auf scheinbar einfachere Weise per Klick befriedigen, bergen sie auch die Gefahr, zwischenmenschliche Beziehungen zulasten von Mensch-Maschine-Interaktionen zurückzudrängen. Diese Problematik deutet sich allerorten etwa bei einem Blick auf die Spielplätze hierzulande an: Nicht wenige Eltern schauen nur mehr in ihr Smartphone, während im Hintergrund ihr Kind spielt.
Tricksen für die Wunschzahl
Die unreflektierte Dauerbeobachtung des Datenstroms kann aber auch Ängste schüren, warnt die Psychologin Astrid Müller von der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie hat sich dem jungen Phänomen der „Cyberchondrie“ (siehe Definition unten) zugewandt. Übertriebenes Selftracking von Gesundheitsdaten, argumentiert sie, kann sich bei einer vorhandenen Angst vor Krankheiten zu einer regelrechten Angsterkrankung auswachsen. Sie spricht von einer digitalen Transformation der hypochondrischen Störung, die bisher zu wenig beachtet wurde.
Dabei deuteten Untersuchungen darauf hin, dass gerade Hypochonder gesundheitsbezogene digitale Angebote viel häufiger nutzen als andere Personen. Wenn die Betroffenen sich dann in krankheitsbezogenen digitalen Filterblasen bewegen, können sich die Ängste immer weiter aufbauen. Müller berichtet von Personen, die sich zwanghaft und stundenlang mit ihren eigenen Beschwerden und möglichen Krankheitsbildern beschäftigen. Diese Menschen kann die Selbstvermessung weiter destabilisieren: Sie werden noch ängstlicher und unsicherer, verlieren noch mehr Selbstvertrauen, was ihr zwanghaftes Verhalten noch verstärkt.
Die meisten Menschen laufen freilich nicht gleich Gefahr, über das Selbstvermessen zu erkranken. „Es gibt einen Teil, der infolge der Irritationen noch obsessiver Daten sammelt“, berichtet Gerisch. „Aber es gibt auch einen Teil, der sich abwendet und das Tracken wieder sein lässt.“ Das berichtet auch Robert Gugutzer anlässlich seiner Studie. „Viele Nutzende stören sich so sehr an den Geräten oder an den Ergebnissen, dass sie die Vermessungspraxis bald wieder aufgeben.“
Die, die dabeibleiben, beginnen dagegen nicht selten zu mogeln, schildert er. Mittels kleiner Tricks versuchen die Nutzer der geliebten Zahl näherzukommen. Menschen, die sich exzessiv wiegen, nehmen lieber das Gewicht, das das Gerät nach dem Toilettengang anzeigt. Und wer den Blutdruck misst, bevorzugt im Zweifel bei mehrmaligen Messungen am Tag den besseren Wert für die Grafik. Die Nutzerinnen und Nutzer belügen sich selbst, um der Wunschzahl näherzukommen, beschreibt Gugutzer.
Die vermeintliche Objektivität der Messdaten verführt am Ende zur Selbsttäuschung. Diese begründet sich schon darin, dass Zahlen immer mehr verschleiern, als sie offenlegen, indem sie eben Komplexität auf einen einzigen quantifizierbaren Zusammenhang reduzieren.
Cyberchondrie
Die Nutzung von digitalen Geräten kann die Angst vor einer Erkrankung befördern. Wenn das Nachverfolgen und Googeln von gesundheitsbezogenen Zahlen und Daten Krankheitsängste so sehr nährt, dass daraus eine psychische Erkrankung entsteht, sprechen Forschende von dem Phänomen der Cyberchondrie. Das Kunstwort aus der Krankheitsangst „Hypochondrie“ und dem Wort „Cyber“ als Ausdruck für digitale webbasierte Medien beschreibt kein eigenständiges Krankheitsbild.
Quellen
Oswald Balandis, Jürgen Straub: Selbstoptimierung und Enhancement. Der sich verbessernde Mensch – ein expandierendes Forschungsfeld. Journal für Psychologie, 26(1), 2018, 131–155, DOI 10.30820/8247.09
Stefanie Duttweiler: Leben nach Zahlen: Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Transcript Verlag, 2016.
Oliver, Schlaudt: Die politischen Zahlen Über Quantifizierung im Neoliberalismus. Klostermann Rote Reihe 102, 2018.
Stefanie Duttweiler, Robert Gugutzer: Ich habe das Gefühl etwas Wichtiges für mich und meine Zukunft zu tun. Forschung Frankfurt, 1, 2015, 29-31.
Vera King, Benigna Gerisch et al: Psychische Bedeutungen des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens. Psyche – Z Psychoanal, 73, 2019, 744–770, DOI 10.21706/ps-73-9-744
Vera King, Benigna Gerisch, Hartmud Rosa: Lost in Perfection Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Suhrkamp Verlag, 2021.